Corona-Krise im Libanon: Beirut wird vegetarisch
Die Corona-Krise sorgt in Libanons Hauptstadt für Stromausfälle und unterbrochene Kühlketten. Das gammelnde Fleisch will niemand.
D ie Fleischtheke von Ibrahim Issa ist karg ausgestattet. Ein paar Würste liegen darin und etwas Hackfleisch. Der 40-Jährige ist Metzger, sein Geschäft im Süden Beiruts ist klein, und die Auslage aufs Mindeste reduziert, denn nur wenige Menschen kommen diese Tage in seinen Laden.
Der Libanon durchlebt die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1943. Ein maroder Staatshaushalt und das Coronavirus haben dazu geführt, dass das libanesische Pfund in acht Monaten mehr als 80 Prozent an Wert verloren hat.
Strom und Internet fallen über Stunden hinweg aus, knapp 60 Prozent der gut sechs Millionen Einwohner sind arbeitslos und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnt, dass wegen Lebensmittelknappheit Millionen Menschen der Hunger droht. Tausende Cafés, Restaurants, Bars und Einzelhändler mussten schließen. Die Gewerkschaft der Metzger und Viehzüchter sagte, mehr als 60 Prozent der Metzgereien hätten in den letzten Wochen geschlossen.
Das fürchtet auch Ibrahim Issa: „Ich habe große Angst davor, meine Arbeit zu verlieren.“ Vor der Krise habe er am Tag 70 Kilo, manchmal sogar 100 Kilo Fleisch verkauft, diese Tage seien es gerade mal etwas mehr als 10 Kilo.
Vergammeltes Hühnerfleisch live im Fernsehen
Während das Kilo Rindfleisch bei Ibrahim Issa vor einem Jahr noch 16.000 (knapp 10 Euro) libanesische Pfund kostete, sind es durch die Inflation derzeit 45.000 (30 Euro). Zeitweise lag der Preis im Juni sogar bei 70.000 Pfund (45 Euro). Doch Anfang Juli beschloss die Regierung, einige Lebensmittel zu subventionieren – darunter auch rotes Fleisch. Trotzdem wird Fleisch vom Essensplan gestrichen, sogar bei der libanesischen Armee.
Die 60-jährige Victoria Azar ist eine von vielen Libanes*innen, die sich trotz der Subventionierung unfreiwillig vegetarisch ernährt. „Der hohe Preis, die vermehrten Stromausfälle, und jetzt noch die Skandale bei Kontrollen in Lagern, die gezeigt haben, dass das Fleisch nicht frisch ist, haben mich und meinen Mann zu Zwangsvegetariern gemacht“, erzählt sie der taz.
Diese Woche kontrollierte der libanesische Gesundheitsminister, Hamad Hassan, persönlich zusammen mit Sicherheitsbeamten Lagerhallen, in denen er laut Berichten lokaler Medien 40 Tonnen an verdorbenem Hühnerfleisch fand – teilweise mit Ablaufdaten von 2016.
Die Kontrolle übertrug ein libanesischer Sender live im Fernsehen, auch Victoria Azar hat sie mit Schrecken gesehen. „Ich bin es gewohnt, Nuggets zu essen, aber ich vertraue nicht mehr darauf, dass das Fleisch im Supermarkt frisch ist.“ Durch die täglichen Stromausfälle wird die Kühlkette unterbrochen, das Fleisch verdirbt.
Sehnsucht nach Schawarma
Dass weniger Fleisch konsumiert wird, muss nicht schlecht sein, merkt Rachel Bahn an. Sie ist Professorin für Lebensmittelsicherheit an der Amerikanischen Universität in Beirut. „Tatsächlich hatten wir im Libanon einen übermäßigen Konsum von rotem Fleisch. Die Menschen aßen mehr Fleisch als das, was Ernährungswissenschaftler als Proteinquelle empfehlen würden – insbesondere Menschen mit höherem Einkommen. Für diese Leute besteht jetzt die Möglichkeit, sich mehr pflanzlichen Proteinalternativen zuzuwenden.“
Der Boden des Libanon ist fruchtbar, Obst und Gemüse stammen hauptsächlich aus lokalem Anbau und sind günstiger als importiertes Fleisch. „Wir müssen aber auf die Leute mit niedrigerem Einkommen, die eigentlich nicht zu viel rotes Fleisch konsumiert haben, aufpassen. Denn wenn die Leute bis zu einem gewissen Grad in ihrer Ernährung eingeschränkt sind und genötigt sind, auf Fleisch zu verzichten, dann leiden sie unter Lebensmittelunsicherheit.“
Fleisch ist ein wichtiger Bestandteil der libanesischen Küche. In Restaurants oder gut gestellten Familien beinhaltet die traditionelle Vorspeisenauswahl, genannt Mezze, rohe Kalbsleber. Ein Hauptgericht beinhaltet Ziegen- oder auch Lammfleisch, Rind oder Hühnchen. Gerne nach Hause bestellt wird das sogenannte Schisch Tawuk, gegrillte Hähnchenspieße. Ein sonst günstiger und beliebter Imbiss ist Schawarma – ein Sandwich mit Hühnchenfleisch.
Ein einfaches Schawarma, das vermisst Victoria Azar am meisten. Deshalb wartet sie sehnsüchtig darauf, nach London zu ihrer Tochter reisen zu können. „Ich vermisse es, Fleisch zu essen. Sobald ich in London ankomme, bestelle ich eine doppelte Portion Schawarma und die teile ich mit niemandem.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles