Corona-Impfstoff in der EU: Von der Leyen am Pranger
Es gibt Redebedarf, doch die EU-Kommissionspräsidentin will sich nicht äußern. Der Vorwurf des Nationalismus wird laut.
Ein Interview mit dem ZDF brachte das Fass zum Überlaufen. Am Sonntagabend, zur besten Sendezeit, stellte sich Ursula von der Leyen den Fragen im „heute journal“. Trotz der Lieferengpässe bei Corona-Impfstoffen sei man „gut vorangekommen“, sagte die Chefin der EU-Kommission. Inzwischen seien 12 Millionen Menschen in der EU geimpft worden, das sei eine „stattliche Zahl“.
In Berlin fand das Gespräch wenig Beachtung. Umso mehr Wirbel verursachte der Fernsehauftritt in Brüssel. Am Montag beschwerten sich viele EU-Korrespondenten beim Pressebriefing: Wieso richtet sich die Präsidentin der EU-Kommission bei so wichtigen Fragen wie der Impfstoffkrise nur an die deutsche Öffentlichkeit, warum steht sie nicht auch ausländischen Medien Rede und Antwort? Warum wurden keine Fragen zum Eklat um Nordirland gestellt, wieso dreht sich alles nur um Berlin und den deutschen Impfgipfel?
Von der Leyens französischer Sprecher Eric Mamer hatte große Mühe, Antworten zu finden. Natürlich werde seine Chefin auch europäischen Medien Interviews geben, sagte er. Als Nächstes sei Le Monde an der Reihe. Und der Streit um Nordirland, wo die EU-Kommission zunächst Ausfuhrbeschränkungen für das Vakzin von AstraZeneca angekündigt hatte, was zu einem Aufschrei der Empörung führte, sei doch längst beigelegt. Man habe einen Fehler gemacht, ihn jedoch schnell wieder korrigiert.
Schon als Bundesverteidigungsministerin hatte sich Ursula von der Leyen stets darum bemüht, die Kontrolle über ihre öffentlichen Äußerungen zu behalten. Wo immer es ging, vermied sie es, dass ihre Antworten auf unangenehme Fragen von Journalist:innen zitiert werden konnten. Während ihrer Amtszeit hielt sie keine „klassischen“ Pressekonferenzen ab, sondern lud lieber zu „Hintergrundgesprächen“ in den Berliner Bendlerblock. Bild- und Tonaufnahmen waren nicht gestattet und die Ministerin durfte nicht namentlich zitiert werden. Verwendet werden konnte nur ein kurzes, vorbereitetes Statement, das sie stets im Anschluss in die Kameras sprach – ohne den Journalist:innen dann noch die Möglichkeit zu ausführlicheren Nachfragen zu geben.
„Wie eine deutsche Ministerin“
Dieses Verhalten in ihrem jetzigen Amt sorgt bei internationalen Journalisten für Ärger. Am Dienstag war die europäische Presse voller böser Kommentare, manch einer forderte sogar von der Leyens Rücktritt. „Welche Mücke hat von der Leyen gestochen?“, fragte Jean Quatremer von der französischen Tageszeitung Liberation. Ihr Krisenmanagement zeuge von Inkompetenz, Desorganisation und Paranoia.
Besonders ärgert sich Quatremer darüber, dass von der Leyen die EU-Kommission „wie eine deutsche Ministerin“ führe – mit einem kleinen Stab deutscher Berater, unter Missachtung der Kommissare und der EU-Verwaltung. Dass sie nun auch noch die deutschen Medien bevorzuge und ständig den deutschen Pharmakonzern Biontech hofiere, zeuge von einem fragwürdigen Amtsverständnis.
Der Vorwurf ist nicht neu, doch angesichts der schweren Coronakrise und der anhaltenden Impfstoffknappheit bekommt er zusätzliche Brisanz. Verbirgt sich hinter dem „europäischen Ansatz“ bei der Impfstoffbestellung etwa ein heimlicher deutscher Gesundheitsnationalismus? Denkt von der Leyen vor allem an Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn, wenn sie ihre Bestellungen im Namen der EU aufgibt? Die CDU-Politikerin bestreitet das. Alles sei mit allen 27 EU-Staaten abgestimmt, betont ihr Sprecher. Deutschland sei nur ein Land von vielen, in der EU-Kommission denke und handele man europäisch.
Dabei vertraut von der Leyen tatsächlich mehr als alle anderen Kommissare auf deutsche Berater, die sie aus ihrem Berliner Amt im Verteidigungsministerium nach Brüssel mitgebracht hat. Zudem wurden die entscheidenden Weichen für die holprige europäische Impfstrategie gemeinsam mit Merkel und Spahn gestellt – während des deutschen EU-Vorsitzes von Juli bis Dezember 2020. Damals fiel auch die Entscheidung zugunsten von AstraZeneca, die nun so viel Ärger macht und die EU um Wochen zurückwirft.
Treffen hinter verschlossenen Türen
Sauer sind deshalb nicht nur die Journalisten, sondern auch viele Europaabgeordnete. „Ursula von der Leyens Versprechen, dass bis zum Ende des Sommers 70 Prozent der Europäer*innen geimpft sein sollen, ist sehr ambitioniert“, kritisiert der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen. Sie sei die Antwort schuldig geblieben, wie dieses Ziel trotz der Probleme noch erreicht werden soll. „Von der Leyens Impfversprechen wackelt“, so Andresen. „Die EU-Kommission braucht dringend einen Plan B.“
Auch aus Deutschland kommt Kritik an der EU-Kommissionpräsidentin. „Es muss einen europäischen Impfstoffgipfel geben, bei dem sich von der Leyen mit den Mitgliedsländern und aktuellen und potenziellen Herstellern entlang der Lieferketten an einen Tisch setzt“, fordert Franziska Brantner, europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Nach den vielen Irritationen, so Brantner weiter, sollte von der Leyen auch personelle Schwachstellen oder Engpässe in der EU-Kommission überprüfen.
Bei den Sozialdemokraten und Liberalen in der EU-Kommission rumort es, seit von der Leyen von Exportbeschränkung spricht und sich protektionistisch gibt. Um einen Aufstand im EU-Parlament zu verhindern, griff die Kommissionschefin zu einem ungewöhnlichen Mittel: Am Dienstag stellte sie sich außerplanmäßig den Fragen der Abgeordneten. Allerdings nicht in einer öffentlichen Plenarsitzung, sondern in vertraulichen Treffen mit den großen EU-freundlichen Fraktionen.
Damit sorgt sie für neuen Ärger. „Von der Leyen zieht Treffen hinter verschlossenen Türen und den Mangel an Transparenz wieder einmal demokratischer Kontrolle vor“, kritisiert der Fraktionschef der Linken, Martin Schirdewan. Linke, Grüne und auch einige Sozialdemokraten fordern, dass die EU mit ihrem bisherigen Vorgehen bricht und Artikel 122 aktiviert – eine Art Notfallklausel im EU-Vertrag. So könnten die Patente freigegeben und die Produktion von Impfstoffen könnte angekurbelt werden.
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel unterstützt diesen Ansatz. Doch von der Leyen will davon nichts wissen. Schließlich wäre es ein Eingeständnis, dass ihre Strategie nicht funktioniert. Und das wäre wohl das Letzte, was die EU-Chefin jetzt gebrauchen kann. Lieber gibt sie weitere Interviews, wenn es sein muss, auch über deutsches Fernsehen hinaus.
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