Corona-Folge für Hamburgs Bürgerschaft: Comeback der Hinterzimmer-Politik
Die Pandemie beschädigt die demokratische Partizipation: Ausschüsse tagen nicht nur kürzer, sondern meist auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Seit Ende der Sommerpause finden diese Sitzungen wieder statt. Doch in den Einladungen steht nun als Fuß, die fänden „derzeit ohne Besucherinnen und Besucher“ statt. Journalisten, die sich bei der Pressestelle erkundigen, erfahren, dass sie zugelassen sind. Sie dürfen sich an einen der mit Plexiglas abgetrennten Tische im Kaisersaal setzen und den Sitzungen folgen. Und sie sind überraschend schnell wieder raus. Denn es gibt seit Juli noch eine Änderung. Die Sitzung soll in der Regel nur zwei Stunden dauern. An den beiden Hauptsitzungstagen beginnt die erste um 14 Uhr und die zweite um 17 Uhr.
Das ist Teil eines einjährigen Testlaufs für eine Reform, damit „Familie und Mandat“ oder „Wahlkreisarbeit und Mandat“ vereinbar sind. Zufällig fällt er mit den Corona-Einschränkungen zusammen. Die Tagesordnungen werden dadurch kürzer. Und auch, wenn die zwei Stunden keine strikte Zeitgrenze sein sollen und Sitzungen auch länger dauern dürfen, wird die Folge sein, dass „Nischenthemen“ es schwerer haben, in einen Ausschuss zu gelangen.
Es gibt durchaus Ausschüsse, die als Livestream übertragen werden, um Öffentlichkeit herzustellen – etwa kürzlich der Haushaltsausschuss zum Cum-Ex-Skandal. Auch die Sitzung des Innenausschusses, in der Innensenator Andy Grote (SPD) zu seiner nicht coronakonformen Feier angehört wurde, lief im Internet. Der Familienausschuss – es ging um Kinderschutz und mögliche Pläne für ein geschlossenes Heim – dagegen nicht. Offenbar haben „harte“ Themen bessere Chancen als „Gedöns“.
Mit Glück gibt es für Bürger ein Wortprotoll
Darüber entscheiden die Fraktionen. „Wenn etwas von außergewöhnlichem Interesse ist, gibt es eine Übertragung, darauf haben wir uns im Ältestenrat verständigt“, berichtet Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus. Live-Übertragungen seien nur im großen Festsaal möglich. „Das ist ein räumliches und auch ein finanzielles Problem.“
Der personelle und technische Aufwand für Livestreams sei „erheblich“, sagt Bürgerschaftssprecherin Barbara Ketelhut. In manchen Räumen sei eine Übertrag gar nicht möglich. Zudem sehe die Geschäftsordnung der Bürgerschaft dies „nur in absoluten Ausnahmefällen“ vor. Etwa bei Anhörungen von Volksinitiativen. Transparenz sei aber dadurch gegeben, dass die Bürgerschaftssitzungen übertragen werden. Auch stehe es jedem Ausschuss frei, ein Wortprotokoll zu erstellen, das einige Tage später in der Parlamentsdatenbank zu finden sei. Also: lesen statt zuhören, liebe Politik-Nerds.
Dabei werden wir gerade zu Hause auf dem Sofa an andere Livestreams aus dem Rathaus gewöhnt. Der Senat gibt fast jeden zweiten Tag so eine Pressekonferenz, um Coronabeschlüsse zu verkünden – fast schon Regierungsfernsehen.
Linke fordert Corona-Rat
Um dem Übergewicht der Exekutive etwas entgegenzusetzen, fordert die Linke neuerdings einen „Corona-Rat“. Denn vieles werde „nicht gut kommuniziert vom Senat“, kritisiert Sabine Boeddinghaus. Menschen seien desorientiert, weil die Maßnahmen nicht immer sinnvoll erscheinen. Da drohe etwas zu kippen. „Statt dass der Senat seine Beschlüsse nur über Pressekonferenzen verkündet, brauchen wir eine systematische Beteiligung des Parlaments und der Zivilgesellschaft“, sagt sie. Im dem Rat sollten zum Beispiel Verbände und Gewerkschaften vertreten sein. Ob der dann Livestream-öffentlich ist, „müsste noch geklärt werden“.
Auch die Grünen beteuern, Corona gehöre im Parlament debattiert. „Wir werden zur weiteren Intensivierung der parlamentarischen Debatte gerne beitragen“, sagt Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg. Die Schaffung eines neuen Gremiums halten sie allerdings „nicht für zielführend“.
Es gibt doch neue Räume mit Live-Stream-Technik
SPD-Gesundheitspolitikerin Claudia Loss sagt, ihre Fraktion habe sich noch keine Meinung zum Linken-Antrag gebildet. Sie wendet aber ein, in der Pandemie sei es wichtig, „schnell Entscheidungen zu treffen“. Auch befänden sich Senat und Regierungsfraktionen „im ständigen Austausch mit gesellschaftlichen Gruppen“. Um Probleme zu thematisieren, böten sich die Fachausschüsse an. Nur sind die eben ohne Publikum.
Immerhin sagt Sprecherin Ketelhut, man habe die Pandemie im Blick und kümmere sich um eine „Optimierung der Abläufe“. So miete die Bürgerschaft neue Räume am Adolphsplatz 6 an, die ab dem 30. Oktober für Ausschusssitzungen genutzt werden können. Und die würden derzeit „technisch für Livestreams ausgestattet“. Da geht noch was.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde aktualisiert. Im dritten Absatz haben wir eingefügt, dass zwei Stunden keine strikte Zeitgrenze sein sollen.
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