Christopher Street Day 2021: Wie wollen wir leben?
Der CSD im Wahljahr ist unserer Autorin Anlass, über ihr Schwarzes und queeres Leben nachzudenken – und politische Ansprüche zu formulieren.
W ie möchten wir als Angehörige der LGBTQ-Community in Zukunft leben? Wie wollen wir überhaupt die Gegenwart überleben? Sollten wir uns mit unseren Nischen und glamourösen Gettos zufriedengeben? Oder dürften wir ernsthaft in Erwägung ziehen, unsere Safe Spaces endlich auf das gesamte Gesellschaftsgebiet und kreuz und queer durch das Cyberuniversum auszuweiten? Und auf wen könnten wir uns verlassen, wenn die Sonntagsreden verhallen? Diese Fragen kommen nicht von ungefähr. Die Drohungen, denen wir zunehmend ausgesetzt sind, dürfen wir nicht verharmlosen.
Doch solche Kassandrarufe stoßen nicht überall auf Resonanz. Schon wenn ich damit anhebe, begegnen mir manche mit einem Schmunzeln, einem Seufzen oder sogar Staunen. „Eure Lage ist doch besser geworden“, beteuern einige Heteros, die uns vermeintlich nahestehen. „Man sieht überall die Regenbogenflaggen. Ihr seid angekommen. Ihr sollt es auch mal genießen.“ – „Mensch, geh nicht immer auf die Barrikaden!“, ermahnen andere, Lesben oder Schwule. „Wenn wir das tun, rufen wir die Ewiggestrigen wieder auf den Plan. Und dann machen sie Stimmenfang auf unseren Rücken.“
Als würden die das nicht schon jetzt tun. Hier eine Meldung mit Triggerwarnung: „Ich lehne jede Form von Homopropaganda und Frühsexualisierung ab. Wäre Homosexualität normal, wäre die Menschheit schon längst ausgestorben.“ Die Urheberin dieser Sprüche ist eine Zahnärztin aus Baden-Württemberg. Sie legt bissig nach: „Eine äußerst aggressive und lautstarke Minderheit dieser Personen möchte […] ihre Lebensweise dominierend der Mehrheitsgesellschaft aufzwingen und wird dabei immer penetranter.“ Sie meint uns. Zum Schutz der Kinder werde sie die „Diktatur der Minderheiten“ nicht akzeptieren. Ihr eindeutig auf Pädophilie anspielendes Postulat wurde vor wenigen Tagen auf Facebook veröffentlicht. Das wäre nicht weiter relevant, wenn die Frau nicht wahrscheinlich in den nächsten Bundestag einziehen würde. Sie hat einen sicheren Listenplatz: für dieselbe Partei, deren maroder Schlachtkreuzer über eine Lesbe als Galionsfigur und als Rammsporn verfügt.
Breitseiten gegen das Bunte, Pinkwashing im braunen Sumpf, die interne Schmutzwäsche zum Trocknen raushängen? Nichts Neues beim Affentheater für Deutschland. Aber genau das birgt Gefahren in sich. Man gewöhnt sich an die „prolet-arischen“ Poltergeister im Parlament, wie man sich auch an Pegidist*innen, Querdenker*innen und Reichsbürger*innen gewöhnt hat, wie man sich an Begriffe wie „Schwuchtelbinde“ gewöhnt. Die Diktion und der Duktus der Demagogen waren immer, sind und bleiben menschenverachtend – und trotzdem fällt diese wüste Hetze kaum mehr auf.
Wir haben genug gelitten
Das Schicksal von Rudolf Brazda bezeugt, wie die Entmenschlichung bereits mit dem Wort anfängt. Es zeigt auch, was der robuste Wille zum Widerstand erreichen kann. Brazda, der im KZ Buchenwald inhaftiert war, galt als der letzte Häftling, der den Rosa Winkel tragen musste. Er starb fast hundertjährig, 16 Jahre nach der überfälligen Abschaffung des Paragrafen 175.
Pride geht nicht ohne Politik, auch und gerade heutzutage. Wir haben Stimmen. Wir müssen sie an der Urne abgeben, wir müssen sie überall erheben. Denn wir können es uns weder leisten, der Empörung überdrüssig zu werden, noch, Angst davor zu haben, als Vertreter*innen der Cancel Culture geoutet zu werden.
Es sind die Homo- und Transphoben und die TERFs, die uns abkanzeln wollen. Gegen uns kämpfen sie mit harten Bandagen, sie freilich wollen mit Samthandschuhen angefasst werden, wenn wir Widerstand leisten. Dann inszenieren sie sich als Opfer progressiver, familienfeindlicher Machenschaften. Die Opferrolle sollten wir ihnen gerne überlassen.
Wir haben genug gelitten. Es ist Zeit, dass wir erhobenen Hauptes in Erscheinung treten und unsere Ansprüche geltend machen. Das heißt auch, mit den demokratischen Parteien Tacheles reden, wenn ein Kandidat für den CDU-Vorsitz Homosexualität reflexhaft mit Pädophilie in Zusammenhang bringt oder die SPD sich mehrheitlich weigert, das unwürdige Transsexuellengesetz abzuschaffen. Mit allen legitimen Mitteln müssen wir uns Gehör verschaffen.
Der Silberstreif entpuppt sich als graue Wolke
Ich bin Jahrgang 1961. Im selben Jahr wurde in Berlin die Mauer gebaut. Ich allerdings erblickte das Licht der Welt im Schatten der Freiheitsstatue. Doch auch in den USA musste ich Mauern durchbrechen, Black und queer, wie ich bin. In meiner Jugend war alles politisch. Aufbruchstimmung lag in der Luft, Tränengas auch. 1969, als Judy Garland über den Regenbogen ging, sah ich live im Farbfernsehen den Aufstand entlang der Christopher Street. Flüchtige Szenen. Noch nicht ahnend, dass eine Schwarze trans* Frau namens Marsha P. Johnson den ersten Stein von Stonewall warf. Gays mussten sich wehren. Pride war immer politisch.
1979 in San Francisco, am Anfang meiner Seeoffiziersausbildung, befand ich mich in einem tosenden Menschenmeer. Ein Doppelleben, ein Aufleben. Es war meine erste Pride-Parade. Wonne und Wutreden zugleich. Der Aktivist Harvey Milk war erschossen worden, die Aids/HIV-Krise brandete auf, Fundamentalist*innen dämonisierten uns. Wir mussten uns wehren. Pride war immer politisch. Mitte der 1980er im Jurastudium im Lande der unbegrenzten Freiheit erkannte ich das Ausmaß der strukturellen Diskriminierung gegen Gays, die damals leicht im Knast oder in der Klapse landen konnten. Wir mussten uns wehren. Denn Pride war immer politisch.
Jahrzehnte später setzte sich Präsident Obama, zögernd, für LGBTQ-Rechte, die gleichgeschlechtliche Ehe und den Schutz der Transgendersoldat*innen, ein. Dann kam Trump, und mit ein paar Tweets und Dekreten warf er die mühsam erkämpfte Rechte um ein halbes Jahrhundert zurück. Auch heute, nach seinem Abgang, zielen US-Republikaner*innen feindlich auf die Rechte von Transgenderjugendlichen. In Europa, in Polen und Ungarn etwa, werden ähnliche Feldzüge geführt. Der Regenbogen wird überschattet, der Silberstreif am Horizont entpuppt sich als graue Wolke. Pride muss weiterhin politisch artikuliert werden. Weder die Visionen von Magnus Hirschfeld noch die Vorstöße von Marsha P. Johnson dürfen in Vergessenheit geraten.
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