Bürokratie in Deutschland: Was wir aus Corona lernen könnten
Ein gute Verwaltung wäre unkorrumpierbar und gerecht. Aber dafür brauchen wir erst mal etwas anderes: eine linke Kritik der Bürokratie.
E ine Krise ist, na ja, so gut wie das, was eine Gesellschaft aus ihr lernt. Was das anbelangt, ist der Verdacht groß: Corona ist eine echte Scheißkrise. Nehmen wir Bürokratie als Beispiel.
In unserer arg vereinfachenden politischen Endloserzählung geht es um die Beziehung von „Regierung“ und „Volk“. Die Regierung braucht ein gutes Volk. Also eines, das seine Steuern zahlt und nicht gleich zu den Nazis rennt, wenn ihm etwas an der Regierung nicht passt. Und das Volk braucht eine gute Regierung. Also eine, die Versprechungen einhält und nicht gleich Polizei und Justiz losschickt, wenn ihr wer im Volk nicht passt.
Aber Regierung und Volk sitzen ja selten gemütlich beieinander. Sie begegnen sich vielmehr hauptsächlich symbolisch und Sprechschau-rhetorisch. Und da ist der Verlogenheitsfaktor in der Regel groß genug, um Menschen fernzuhalten, die sich was aus Würde und Unabhängigkeit machen.
Nein, nicht Zeremonien und Zeichen sind es, die Regierung und Volk praktisch miteinander verbinden, sondern ein „intermediärer Sektor“, in dem sich die Interessen beider Seiten treffen sollen. Von der Seite des Volkes her sind das Organisationen wie Gewerkschaften, Vereine, Verbände, Genossenschaften, aber auch Medien, Bewegungen, Szenen. Von der Seite der Regierung treten Ordnungsmächte (wie die Polizei), Information (darfst auch „Propaganda“ sagen) und, last but not least, Verwaltung in diesen intermediären Sektor. Eine traditionelle Verwaltung besteht in der Umsetzung des Regierungswillens in ökonomische, kulturelle und alltägliche Praxis.
Eine demokratische Verwaltung, wenn es so etwas gibt, würde zwischen dem Willen der Regierung und den Bedürfnissen des Volkes vermitteln, und zwar bis in jeden Einzelfall hinein. Was wäre also eine gute Verwaltung? Klar: menschlich, vernünftig, transparent, selbstlos, also unkorrumpierbar und gerecht. Eine solche ideale Verwaltung gibt es auf Erden nicht. Wir wären schon froh, wenn man sich von allen Seiten darum bemühte.
Wie wir wissen, steht es um den intermediären Sektor nicht zum Besten. Die Gewerkschaften beschränken sich auf Tarifspiele und verteilen an ihre Mitglieder bunte Blättchen mit Reklame für Kreuzfahrten und Gewinnspiele. Die Berufsverbände lösen sich als Lobbynetzwerke auf, die Medien, nun ja.
Lahmarschig und würdelos
Und die Verwaltung? Wir nennen sie Bürokratie, und wohl jede und jeder von uns hat Geschichten zu liefern, wie würdelos, ungerecht, menschenfeindlich, rücksichtslos, widersinnig, lahmarschig, undurchsichtig, inkompetent und so weiter Bürokratie sein kann. Verwaltung ist uns im Alltag viel näher als Regierung, die direkte Macht eines Bürokraten betrifft uns mehr als die indirekte der Politik, weil eine Regierung viel versprechen kann, was ihre Bürokratie dann schon zu verhindern wissen wird. Und weil wir Bürokraten nicht wählen und schon gar nicht abwählen können.
Krisen machen auch hier etwas sichtbar, was sonst in alltäglicher Praxis verborgen ist. So sprechen wir auch jetzt wieder (und natürlich nicht zu Unrecht) vom Versagen der Regierung und dem einzelner Ministerien ganz besonders. Vom großen strukturellen Versagen der Bürokratie in nahezu allen Folgeproblemen der Pandemie dagegen wird vergleichsweise wenig gesprochen.
Bürokratie ist ein Subsystem der Gesellschaft, und sie ist ein Subsystem in jedem Subsystem. Die Wissenschaft, die Medizin, das Finanzwesen, die Kultur, die Bildung, sie alle haben ihre eigene Bürokratie, die wiederum mit der Metabürokratie des Staates verflochten ist.
Bürokratie als Wucherung
Sie alle haben fünf eingebaute Probleme: Erstens: die Korruption. Sprechen wir erst gar nicht von Maskendeals und betrügerischen Testabrechnungen oder gefälschten Dokumenten: Bürokratie als Kontrollinstanz verhindert Korruption in der Regel nur in dem Maße, in dem sie ihr neue Betätigungsfelder aufbaut. Zweitens: Die Bürokratie als Selbstzweck ist ein System, das sich immer weiter selbst ausdehnen will und daher nicht im Einzelfall, sondern prinzipiell überfordert ist. Die Antwort der Bürokratie auf Fehler ist: noch mehr Bürokratie.
Drittens: Intransparenz. Bürokratische Systeme schotten sich nach außen hin ab. Das Wesen einer bürokratischen Macht besteht darin zu kontrollieren, ohne kontrolliert zu werden. Viertens: Abstraktion. Bürokratie ist ein System, das an der eigenen Unverständlichkeit arbeitet. Und fünftens: Schwerfälligkeit. Je größer der bürokratische Apparat, desto retardierter die Bewegungen.
Die Zukunft der Demokratie
All das ist ja nun nicht gerade neu. Die Kritik an der Bürokratie begleitet die Entwicklung der modernen Staaten, und oft von der falschen Seite her. Die neoliberale Kritik zum Beispiel betrifft nur die möglichen Hemmungen für die Unternehmungen des Kapitals, gegen die Bürokratisierung der sozialen und medizinischen Grundversorgung von uns Normalmenschen hat sie nichts.
Aber gerade deswegen kann man fragen: Was ist eigentlich mit uns los, dass wir mit so viel Gleichmut und Desinteresse auf die unübersehbare Tatsache reagieren, dass wir so schlecht verwaltet werden? In der Coronakrise zeigte sich einmal mehr, wie sich Komplizenschaft und Widerspruch von Politik und Bürokratie auswirken (man wird es einst den Jens-Spahn-Faktor nennen).
So entstand die soziale Chaotisierung, die nahezu jeder Mensch in dieser Krise erleben durfte, sei es bei der Organisation der individuellen Beihilfen, bei der Impffolge, bei der Durchsetzung von Lockdownregeln oder bei Ein- und Ausreisebestimmungen.
Politik und Verwaltung setzten offenbar alles daran, am Ende genau dies zu verhindern: aus Fehlern lernen. Es muss neben der ökonomischen und der technischen auch eine soziale und kulturelle, das heißt eine linke Kritik der Bürokratie geben. Denn genau hier entscheidet sich, ob Demokratie eine Zukunft hat.
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