Buch über „psychische Störungen“: Was ist der Mensch?
„Unter Verrückten sagt man du“ heißt Lea De Gregorios Buch über all jene, die als nicht normal gelten. Sie leiden unter „psychischen Störungen“.
Wenn es nach Lea De Gregorios Ärztin gegangen wäre, würden Sie diesen Text nicht lesen. Lea De Gregorio hätte nicht studiert und sie würde heute nicht als Journalistin arbeiten. Sie hätte nicht das Handwerkszeug erworben, um ein Buch über die Probleme der Psychiatrie zu schreiben. De Gregorio hat die Warnung, all das würde sie, die Frau mit der Diagnose, überfordern, in den Wind geschlagen. Vor Kurzem erschien ihr Buch „Unter Verrückten sagt man du“. Es ist die „Geschichte einer Selbstermächtigung“.
Denn als „Verrückte“ ist sie Gegenstand der Analyse und Bewertung anderer, der „Professionellen“ der Psychiatrie, die zum einen oft der Ansicht sind, dass „Verrücktheit“ das Ergebnis genetischer Dispositionen und physischer Ursachen ist, und zum anderen psychotische Episoden als „sinnloses Erleben“ charakterisieren. Ihr Buch beginnt mit ihrer Aufnahme in eine psychiatrische Akutstation in Berlin. Zuvor hatte sie nächtelang nicht geschlafen, weil sie so viel nachdenken musste.
„Ich war überarbeitet und in dem ganzen Jahr zuvor war viel passiert, mein Kopf quoll über vor Lebensfragen. Alles war getränkt in Gefühlen und ich verstand die Welt um mich herum nicht mehr, alles war anders als sonst. Man könnte sagen, ich steckte tief in einer Lebenskrise, ich hatte Angst und ich hoffte, dass der Mann im Kittel mir weiterhelfen konnte.“ Doch der Inhalt ihrer Episoden stößt auf wenig Interesse.
„Unter Verrückten sagt man du“ beginnt wie ein Memoir, reißt jedoch die Grenzen des Genres sogleich ein. De Gregorio vermittelt den Stand psychiatrischer Theorie und Praxis und philosophiert darüber, was bei bei psychotischen Episoden geschieht.
Lea De Gregorio: „Unter Verrückten sagt man du“. Suhrkamp, Berlin 2024. 297 Seiten, 20 Euro
Sie fragt vorsichtig, ob es Verbindungslinien gibt, die heutige Psychiatrie mit der NS-Wissenschaft, der „Rassenhygiene“ und dem Sozialdarwinismus verbinden, und diskutiert Ideen und Vorschläge, die in den psychiatriekritischen Betroffenenbewegungen der vergangenen Jahrzehnte entwickelt worden sind. Sie kämpft gegen die Stigmatisierung von Menschen, die zu Nichtnormalen gemacht werden, eignet sich den Begriff des „Verrücktseins“ an. Sie sucht bei Denkern Rat, lässt Wissenschaftler und Psychiatrieerfahrene zu Wort kommen.
Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft
De Gregorio kommt zum Schluss, dass es darum gehen muss, „das Thema Psychiatrie vom Rand in die gesellschaftliche Mitte zu holen und ‚psychische Störungen‘ bzw. ‚auffälliges Verhalten‘ nicht als Abnormalität zu bewerten, sondern – ähnlich wie es auch der Begriff der Neurodiversität ausdrückt, den vor allem viele Menschen mit ADHS und Autismus heute zunehmend als Selbstbezeichnung verwenden – wertfrei als anders als der quantitativ überwiegende Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.“
Von „Abnormalität“ kann schon aus statistischen Gründen nicht gesprochen werden. Bundesweit erfülle mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung, hält die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde fest. Wir alle sind also auf die eine oder andere Weise damit konfrontiert.
Solches Anders-Sein erscheint aus De Gregorios Perspektive aber auch nicht als qualitativer Unterschied, sondern vor allem als einer der Intensität, der allerdings – wenn er episodisch auftritt – oft zur Folge hat, dass davon Betroffene Schwierigkeiten haben, sich im im Alltag zurechtzufinden. Das gilt ebenfalls nicht als normal und flößt ihnen wie ihren Angehörigen häufig Angst ein.
Die Psychiatrie übernimmt in der Gesellschaft nicht nur die Aufgabe einer institutionellen Abwehr des Anderen, sondern sie produziere und inszeniere selbst einen angstbesetzten Raum, „eine Drohkulisse, um für alle eine Abschreckung zu sein“, wie der Psychologe Robin Iltzsche schreibt, „um ein Ort zu sein, an dem niemand sein will und von dem alle wegwollen, wenn sie doch mal dort gestrandet sein sollten.“ So nimmt es nicht wunder, wenn sich De Gregorio fragt: „Inwiefern sind wir Verrückten in unserer Gesellschaft bis heute eine unterdrückte Minderheit? Und welche Rolle spielt dabei die Psychiatrie?“
Existenzielle Fragen am ganzen Körper erleben
Eine Antwort gibt der Psychiater Neel Burton: „Dass der Krankheitsverlauf in traditionellen Gesellschaften im Allgemeinen günstiger ist, kann damit zusammenhängen, dass psychische Störungen dort eher als Teil des Lebens und nicht als ein Zeichen von Krankheit oder Versagen betrachtet werden.“
De Gregorio fügt dieser These eine eigene hinzu: „Im Raucherraum bequasselten wir Verrückten die großen Fragen unter uns. ‚Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?‘ Ich glaube, dass es in vielen schweren psychischen Krisen implizit oder explizit um diese vier berühmten Fragen von Immanuel Kant geht, die man, wenn man sie sich während der Verrückung nicht auf dieselbe rationale Weise stellt wie sonst, am ganzen Körper erlebt.“
De Gregorio argumentiert, dass sich auch die Gefühle und Gedanken, die als krank gewertet werden, nicht aus dem Nichts einschlichen, „sondern immer mit Ereignissen, einer Einstellung, einem Bedürfnis, einem Missstand, kurzum: einer Bedeutung zusammenhängen, auch wenn diese sich vielleicht nicht immer gleich erschließt.“
Der Begriff „psychisch krank“ ist schädlich
Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz geht so weit, die Validität psychiatrischer Diagnosen in Frage zu stellen. Er hält sie für stigmatisierende Abstempelungen, die so formuliert seien, „dass sie medizinischen Diagnosen ähneln, und die auf Menschen angewendet werden, die ihre Mitmenschen irritieren oder nicht passen“.
Der Psychiatrie-Erfahrene Matthias Seibt hält bereits den Begriff „psychisch krank“ für schädlich. Als Begründung nennt er ein Beispiel: „Also da ist jemand Opfer einer Gewalttat geworden und leidet seelisch darunter. Das ist ja eine angemessene Reaktion, wenn es jemandem schlecht geht, warum soll das eine psychische Krankheit sein?“ Doch auch wenn die psychiatrische Definition wegfiele, bliebe doch das Leiden für Betroffene und ihre Familien real.
De Gregorio befasst sich daher auch mit der Frage der Medikation und mit neuen Modellen, mit denen reformorientierte Psychiater Menschen bei akuten Episoden in Umgebungen aufzufangen versuchen, die nicht so angsteinflößend und von Machthierarchien geprägt sind wie Akutstation und Klinik.
Das Thema verletzter Menschenrechte spielt in De Gregorios Überlegungen ebenso eine Rolle wie Diskriminierungen, die sie als intersektional geprägt versteht. Ein muslimischer Mann, der nicht wie ein Akademiker spricht, wird als „psychisch Kranker“ möglicherweise stärker diskriminiert als eine weiße Frau mit Universitätshintergrund.
Immer wieder feiner Humor
Unter psychischen Störungen leiden auch Lehrerinnen, Richter und Psychiater, was Letzteren allerdings nicht den Ruf einträgt, mehr Expertise zum Thema zu besitzen als „gesunde“ Kolleg*innen. Unterdessen werden mancherorts Menschen mit Psychiatrieerfahrung dafür ausgebildet, diese in psychiatrischen Einrichtungen einzubringen.
Neben all dem Negativen, dem Schmerz und der Unterdrückung, die man auf einer Akutstation erleben könne, sei das Charmante an diesen Orten, dass dort alle zusammenkämen. „Man kann dort so vieles über die menschliche Existenz erfahren, auf solch schonungslose und unmittelbare Weise wie sonst vielleicht nirgendwo. Ich habe die Gespräche im Raucherraum der Station später manchmal vermisst“, schreibt De Gregorio, die sich selbst als lebensfroh erfährt.
In ihrem klugen Buch, das sich auch als Handbuch für Betroffene lesen lässt, blitzt immer wieder feiner Humor auf. Sie führt sich und uns vor Augen, wie wenig wir immer noch über das „Verrücktsein“ wissen.
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