Dokumentarfilm „Störung“: Fünf nüchterne Episoden

In „Störung“ versucht Constantin Hatz für die Texte eines toten Freundes Bilder zu finden. Ungewöhnlich, aber eindrucksvoll nähert er sich an.

Mann mit Stirnglatze flechtet dünne Äste im Halbschatten an einem Fenster

Verflochtenes Leben: Szene aus „Störung“ Foto: Kinescope/Mortz Moessinger

Ein Lkw hält auf einer Landstraße, am Rand Büsche, links ragt ein Baum hervor, rechts ein Hochspannungsmast, von dem eine Leitung schräg rechts in den Bildhintergrund führt. Der Fahrer steigt aus. „Ich bin in einen kontinuierlich beklemmenden Existenzzustand hineingeboren. […] Ständig muss sich meine Existenz gegen Trümmer der Vergangenheit zu Wehr setzen – ununterbrochen der Gedanke: ‚Warum ich zufällig übrig geblieben bin‘.“

Dann steigt der Fahrer wieder ein, fährt weiter. Die Sonne wirft Schatten auf den Aschenbecher, der neben dem Schalthebel steht.

Die Worte des Brummifahrers am Anfang von Constantin Hatz’ „Störung“ sind nicht seine, sie stammen von Notizen eines Freundes des Regisseurs, der sich 2015 umgebracht hat und Hatz seine Aufzeichnungen überlassen hat. Ende Oktober feierte der Film auf den Hofer Filmtagen Premiere.

Der Lkw-Fahrer-Text spricht von einer Flucht über Feldwege, von Soldaten, die den Vater des Schreibers mitgenommen haben, und vom Fund einer Leiche auf einem der Felder, der Mutter, die versucht, ihren Sohn zu beschützen. Als Mutter und Sohn im Flüchtlingsheim ankommen, sind die Füße des Sohnes mit Blasen bedeckt.

Arbeitsalltag Brummi-Fahrer

Der Text liegt unter Bildern aus dem Arbeitsalltag des Lkw-Fahrers. Sie sind schwarzweiß und so reich an Graustufen, dass sie an Silbergelatineabzüge aus der frühen Fotografie erinnern. Schärfentiefe und Licht heben den Fahrer leicht vom Hintergrund ab.

Hatz hat aus den umfangreichen Notizen seines Freundes, die dessen Leben reflektieren, fünf Episoden kondensiert: fünf Settings mit fünf Darstellern. Ein junger Mann, der in einer Pension ein Zimmer putzt, spricht Texte über die Untersuchung an der Grenze, das Leben im Wohnheim, die erste Zeit in der neuen Heimat. Die meisten Passagen widmen sich den Herausforderungen, sich einen neuen Alltag an einem neuen Ort, mit neuen Menschen, einer neuen Sprache aufzubauen.

„Verstanden habe ich die deutsche Sprache schnell. Doch ich fürchtete mich davor, sie zu verwenden. Es war schlimm für mich, in manchen Situationen keine Sprache zur Verfügung zu haben.“ In der Ton-Bild-Schere zwischen dem scheinbar einfachen Alltag der Spre­che­r:In­nen und dem Kampf des Textverfassers um ein Ankommen macht „Störung“ die psychischen, körperlichen, emotionalen Herausforderungen sichtbar, die nach einer erfolgreichen Flucht den Prozess des Ankommens begleiten.

Neue Unsicherheit

Der scheinbare Moment der Sicherheit, der neue Unsicherheiten produziert. Nach etwa einem Drittel, der Verfasser des Textes hat gerade erfahren, dass die Leiche seines Vaters gefunden wurde, taucht erstmals der eigene Tod als Option auf: „In diesem Moment begriff ich, dass es einem danach verlangen kann, zu sterben.“

Indem Hatz die Texte seines Freundes als Grundlage für einen inszenierten Dokumentarfilm nutzt und sie mit Spielszenen unterlegt, entfernt sich der Regisseur von einem rein abbildhaften Filmkonzept.

Im Presseheft erläutert er seine Entscheidung für diese Form in Abgrenzung zu anderen Optionen: „Man hätte sein Leben dramatisieren und für einen Spielfilm adaptieren können. Oder man hätte mit einem rein dokumentarischen Ansatz Personen auswählen können, die ihn kannten und etwas über ihn vor einer Kamera erzählen – dadurch würde man aber nur einen Zugang zu Wahrnehmungen über ihn von anderen Personen erhalten, seine Innenwelt bliebe jedoch verborgen.“

Resonanzraum für Assoziationen

Sein Freund sei „immer davon überzeugt [gewesen], dass ein Mensch in seiner Vollkommenheit nur im Geschriebenen existieren kann. Er hat an einem bestimmten Punkt seines Lebens seine physische Existenz beendet und existiert für mich dennoch in seinen Texten weiter.“ Die Strenge der Form, die Nüchternheit der Inszenierung und die Reibung zwischen Bild und Text öffnen einen Resonanzraum für die Assoziationen und Reaktionen.

„Störung“. Regie: Constantin Hatz. Deutschland 2022, 96 Minuten.

In zwei Punkten bleibt die Entscheidung des Regisseurs für diese Form ambivalent: die gleichen Mechanismen, die den Resonanzraum öffnen, erwecken bisweilen vor allem in den Fluchtszenen einen überpersönlichen Eindruck.

Wird hier eine Person mit Fluchterfahrung ins Zentrum gerückt oder Flucht thematisiert? Durch den vermutlich unvermeidlichen Eingriff des Regisseurs, der die Texte zu den fünf Episoden verdichtet hat, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert des Textes. Sind die Passagen noch im Tonfall, Duktus und Gedankengebäude des Toten oder haben sie sich (auch ungewollt) dem des Regisseurs angeglichen?

„Störung“ ist eine formal ungewöhnliche, eindrucksvolle Annäherung eines Filmemachers an seinen toten Freund. Anhand von dessen Texten lädt das Werk zu einer Reflexion über Fragen von Flucht, Migration und psychischer Gesundheit.

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