Britische Künstler und ihre Liebe zu BDS: Im Teufelskreis der Moralisten
Die antiisraelische Lobby BDS hat auch in Deutschland erreicht, dass Popbands Auftritte abgesagt haben. In England ist das gang und gäbe. Warum?
Wenn man ergründen will, warum die antiisraelische Lobbyorganisation BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) bei britischen Künstlerinnen so eine Zugkraft hat, gerät man schnell in ideologische Auseinandersetzungen unter Linken. Es geht dabei vor allem darum, wie man es mit Israel hält. Und dann muss man sich unbequemen Fragen stellen. Erstens: Ist es überhaupt möglich, in dieser so kontrovers geführten Debatte sachlich zu argumentieren? Ist es, zweitens, überhaupt gewünscht, laut darüber nachzudenken? Und drittens: Kann man es aushalten, dass der Versuch einer nüchternen Analyse in diesem polarisierten Diskurs zum Scheitern verurteilt ist?
Breit diskutiert wurde etwa zuletzt die Aus- und erneute Einladung der den BDS unterstützenden schottischen Band Young Fathers zur Ruhrtriennale. Das Hin und Her hat die Fronten weiter verhärtet. Beide Seiten sehen sich absoluten moralischen Imperativen verpflichtet: Den BDS-Befürwortern gilt es, um jeden Preis die Palästinenser zu verteidigen; den BDS-Gegnern gilt es, um jeden Preis die Israelis zu verteidigen. Für die meisten Debattanten auf beiden Seiten ist diese Position nicht verhandelbar. Sie unterstützen jegliches Vorgehen „ihres“ Lagers, mögliche Zweifel werden nicht zugelassen – wodurch sich der Konflikt permanent zuspitzt. Diejenigen, die Bedenken haben, äußern sich nicht, um Konflikte zu umgehen.
In dieser Kontroverse wird schnell deutlich, dass die Dinge oft komplizierter sind, als sie aussehen, und man gut daran tut, sie nicht als rein deutsch-britische Angelegenheit zu betrachten. Das Engagement der deutschen Organisation Jewish Voice for Just Peace im Nahen Osten und die Jewish Antifa Berlin in der neuerlichen Kampagne für den Boykott des Pop-Kultur-Festivals macht das deutlich. Einige der Künstler, die zuletzt ihre Auftritte bei der Ruhrtriennale abgesagt haben, wurden vom British Council gesponsert, womit der Konflikt nun auch die Kultur-Diplomatie berührt.
Die Mehrheit der Deutschen schreckt instinktiv und historisch begründet davor zurück, jüdische Unternehmen zu boykottieren, für sie ist die uneingeschränkte Unterstützung Israels nicht verhandelbar. Diese Faktoren fallen aus britischer Sicht wiederum weniger ins Gewicht. Hier ist die Unterstützung für den BDS und den Widerstand der Palästinenser eher Teil des umfassenden Projekts der Entkolonialisierung und wird als bescheidener Versuch verstanden, die unrühmliche Geschichte des Britischen Empire zu Kolonialzeiten zu sühnen.
Nordirische Israel-Freunde schaden der Sache eher
Die Rolle der Briten in der Verwaltung Palästinas nach dem Ersten Weltkrieg und die Art und Weise, wie der Staat Israel gegründet wurde, sind dabei besonders hervorzuheben. Die Unterstützung des BDS wird als Sühne für britische Verbrechen betrachtet, während die Solidarität mit Israel als Sühne für Nazi-Verbrechen gesehen wird. Jeder ist seiner eigenen Geschichte verhaftet und kann nicht darüber hinweg. Während diese Faktoren für die positive Haltung vieler Briten gegenüber dem BDS wichtig sind, sind sie für die Haltung der Iren zentral.
Der kürzlich verabschiedete Beschluss des irischen Senats, israelische Produkte zu boykottieren, zeigt, dass dort Sympathien für die Palästinenser in allen politischen Spektren anzutreffen sind (in England sympathisiert fast ausschließlich die radikale Linke mit Palästina, sie ist es auch, die am ehesten Verständnis für die historischen Erfahrungen Irlands zeigt). Dieselben britischen Truppen, die nach 1920 in Nahost stationiert waren, waren zuvor in Irland bei der Bekämpfung der Aufstände eingesetzt.
Während des Nordirlandkonflikts zogen IRA-Anhänger Parallelen zu den Besatzungserfahrungen der Palästinenser (und anderen antikolonialen Kämpfen). Noch heute hängen in katholischen Vierteln von Belfast palästinensische Flaggen, was wiederum zur Gegenreaktion von Unionisten geführt hat, die nun Israel idealisieren. Zudem erinnern Plakate an unionistische Helden wie Henry Hugh Tudor, der beim Aufbau und der Kontrolle der Polizeikräfte in Nordirland und später in Palästina federführend gewesen war.
Jedes Jahr werden am 12. Juli, dem Jahrestag der Schlacht am Boyne und somit höchsten Feiertag der Unionisten, Freudenfeuer entfacht, bei denen Papst-Bildnisse, irische und palästinensische Flaggen verbrannt werden. Die Solidarität mit Israel mag für die Deutschen unumstößlich sein, doch auch sie können angesichts ihrer eigenen Geschichte klar erkennen, dass die Symbolik von Freudenfeuern und das Verbrennen von Flaggen ein warnendes Zeichen sein sollte. Und dass derlei Verbündete das Ansehen Israels unter britischen Linken nicht gerade verbessern.
In Großbritannien gibt es noch eine weitere Überschneidung. Unter Berufung auf das von den Unionisten gelieferte Beispiel benutzen rechtsradikale Brexit-Befürworter häufig die israelische Flagge in ihren Twitter-Profilen. Für die britische Linke ist die massenhaft dargestellte israelische Flagge in antideutschen Zusammenhängen absolut unverständlich.
Angst vor der Ungnade
Abgesehen vom Gruppenzwang und der Angst davor, in Ungnade zu fallen (definitiv ein wichtiger Faktor für einige KünstlerInnen), machen es andere Befindlichkeiten der britischen Linken unmöglich, einen israelfreundlicheren Standpunkt einzunehmen. Denn nicht nur extreme Rechte verfolgen einen proisraelischen Kurs. Auch die Solidarität der regierenden konservativen Partei mit Israel wirkt abschreckend. Die Positionierung von den Brexit befürwortenden konservativen Politikerinnen wie Priti Patel ist der Politik der extremen Rechten in Israel sehr ähnlich.
Verständlicherweise stehen die wiederholten antisemitischen Äußerungen von Labour-Chef Jeremy Corbyn und einigen seiner ParteigenossInnen im Fokus der Kritik (auf der Website der israelischen Zeitung Ha’aretz gibt es sogar eine eigene Rubrik dazu). Die Lage ist inzwischen so verfahren, dass der jüdischen Lobby in der Labour-Partei, Jewish Voice for Labour, und anderen, Corbyn unterstützenden antizionistischen Juden selbst Antisemitismus vorgeworfen werden. Der offene Brief, der von den drei wichtigsten jüdischen Zeitungen Großbritanniens veröffentlicht wurde, hat den Unmut vieler jüdischer Labour-Unterstützer zu Corbyns Haltung zum Ausdruck gebracht.
Genauso wie die Debatte um den BDS als Stellvertreterkampf im Nahostkonflikt gesehen werden kann, ist die Causa Corbyn zur ideologischen Auseinandersetzung geworden. Viele seiner Anhänger, darunter auch Juden, sind inzwischen davon überzeugt, dass das politische Establishment in Großbritannien um jeden Preis einen Wahlsieg von ihm verhindern will. Nicht nur aufgrund seiner propalästinensischen Haltung und fragwürdigen Verbündeten, sondern auch, weil er allgemein als Bedrohung für den konservativen Konsens gesehen wird.
Viele Künstler, die sich für den kulturellen Boykott Israels einsetzen, sind Corbyn-Anhänger. Für sie ist es undenkbar, in Israel aufzutreten, solange Gebiete Palästinas besetzt sind und Israel an seiner Siedlungspolitik festhält – genauso wie es undenkbar für sie gewesen wäre, den kulturellen Boykott Südafrikas in den 1980er Jahren nicht zu unterstützen.
Wie die Kontroverse um das Berliner Pop-Kultur-Festival gezeigt hat, versuchen einige den BDS unterstützende Künstler eine andere Haltung zu diesem Thema als genauso undenkbar zu stigmatisieren. Sie versuchen, strukturellen Einfluss darauf zu nehmen, welche Künstler auftreten dürfen, und das bei allen Veranstaltungen, bei denen britische Musiker auftreten. Die Zielstrebigkeit, mit der der BDS Einfluss in Deutschland und anderswo auszuüben versucht, erinnert an den englischen Sonderweg, bei dem viele Linke Corbyns Zusammenarbeit mit den Konservativen im Brexit-Verfahren unterstützen.
Brian Eno als BDS-Aktivist
Der Londoner Autor Alexei Monroe ist Research Fellow am Burren College of Art in Ballyvaughan, Irland. Seine Forschungsschwerpunkte sind elektronische Popmusik, Industrial-Music, Architektur und irische Kulturgeschichte. Auf Deutsch ist von ihm erschienen „Laibach und NSK: Die Inquisitionsmaschine im Kreuzverhör“ (Ventil-Verlag, Mainz 2014).
Der britische Popstar Brian Eno, ein führender BDS-Aktivist, verstrickt sich in einem Video, in dem er zum Boykott des Pop-Kultur-Festivals aufruft, in Widersprüche, wenn er seinen Unmut über „den Missbrauch der Kultur für propagandistische Zwecke“ äußert. Eno ist überzeugt, dass BDS den Dialog vorantreiben will und er zieht Parallelen zum Kampf gegen die Apartheid. Israels Verteidiger, die diesen Vergleich ablehnen, sollten sich die israelische Unterstützung Südafrikas während der Apartheid in Erinnerung rufen.
Eno und seine MitstreiterInnen verstehen diesen Kampf als universell, weshalb sie deutsche Befindlichkeiten ausblenden, um ihre Ziele zu erreichen. Gäbe es BDS-artige Kampagnen, die sich mit den Missständen in anderen Staaten befassen, wäre die Beschuldigung, der BDS würde mit Israel eine „Aussonderung“ betreiben, schwerer haltbar. Das politische Engagement der Young Fathers geht übrigens über ihre Solidarität mit dem BDS hinaus. Mit ihrem antikolonialistischen Video für die National Gallery of Scotland haben sie etwa Stellung für die schottische Unabhängigkeit bezogen.
Ganz allgemein ist in Großbritannien neben der Identifikation mit dem palästinensischen Unabhängigkeitskampf ein Mitgefühl mit Künstlern und Musikern da, die vonseiten Israels Repressalien ausgesetzt sind. Das jüngste Beispiel ist der italienische Künstler, der verhaftet und des Landes verwiesen wurde, weil er ein Bild der militanten Palästinenserin Ahed Tamimi an die Sperranlage gemalt hatte. Viele Briten wundern sich darüber, dass Deutsche sich nicht an der Symbolik der Mauer, die Israel von den palästinensischen Gebieten trennt und der Kriminalisierung künstlerischer Auseinandersetzung mit ihr stoßen.
Befürworter eines kompletten kulturellen Israel-Boykotts berufen sich auch auf die Schwierigkeiten, mit denen palästinensische Künstler konfrontiert werden, wenn sie Reisen oder Ausstellungen zeigen wollen. Jeder Künstler, der die Hamas offen infrage stellt, ist freilich auch Repressalien ausgesetzt.
Schlechte Aussichten
All dies zusammengenommen, lassen die Aussichten für eine Einigung von BDS befürwortenden britischen Linken und der Israel unterstützenden deutschen Linken nicht viel größer erscheinen, als die Aussichten auf eine baldige friedliche Lösung des Nahostkonflikts. Verschärft wird die Lage zudem durch den polarisierenden Effekt von Onlinekampagnen und dem wenig diplomatischen Tonfall in den sozialen Medien, der weder Nuancen noch Zwischentöne kennt.
Manchmal wirkt es auch so, als würde auf beiden Seiten die Möglichkeit einer individuellen Meinungsbildung abgelehnt und die Freude an einem Nullsummenspiel das dringende Bedürfnis nach Frieden überwiegen. Keine der beiden Seiten würde Anna Woods nachdenkliche Betrachtung der Pop-Kultur-Festival-Kontroverse mit dem BDS begrüßen: „Du kannst ethisch nie völlig korrekt sein. Niemand kann das.“
An dieser Stelle sei auf den israelischen Autor und Künstler Avi Pitchon verwiesen, der gegenüber BDS einen differenzierten Standpunkt einnimmt. Er glaubt, dass es durchaus möglich ist, gegen die Besetzung zu sein und gleichzeitig die moralischen und autoritären Beweggründe einiger Aktivisten zu hinterfragen. Zudem macht er auf die negativen Auswirkungen aufmerksam, die die Haltung der Aktivisten auf die künstlerische Freiheit haben könnte.
Der jüdische Psychoanalytiker, Aktivist (und Corbyn-Unterstützer) Andrew Samuels argumentierte 2015, dass der „billige Moralismus“, der bei kontroversen Debatten auftaucht, nur dazu führe, den Dialog zu unterdrücken. Betrachtet man die Situation von außen, muss man seiner Beobachtung zustimmen. Wenngleich angemerkt werden muss, dass diese Kritikpunkte sicherlich mehr auf BDS-Befürworter zutreffen. Wie Samuels suggeriert, beziehen viele führende BDS-Aktivisten ihre Macht gerade aus dem Konflikt und zeigen sich wenig motiviert, diesen zu deeskalieren oder ihn gar zu beenden. Die Widersprüche in der Argumentation beider Seiten (von denen ich hier einige genannt habe) werden verdrängt und kehren zwangsläufig in bösartigeren Formen zurück. Ein Teufelskreis.
Aus dem Englischen von Sylvia Prahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“