Biografie über Sexualpädagogen Kentler: Aufklärung und Missbrauch
Pädagogischer Eros auf dem Holzweg: Teresa Nentwig zeichnet Leben und Wirken des Sexualpädagogen Helmut Kentler nach. Die Biografie ist erhellend.
Jugend, Erziehung und Sexualität – fast immer, wenn es in den 1960er bis 1980er Jahren um diese Themen ging, war Helmut Kentler (1928–2008) mit von der Partie. Der Sexualpädagoge war ein gefragter Experte in Ratgebersendungen und Talkshows, auf Tagungen und in politischen Gremien.
Das Markenzeichen des Professors aus Hannover war, neben seinem Charisma, seine Sicht auf Sexualität: Die sexuelle Befreiung des Menschen, so Kentlers Credo, sei der Schlüssel zum individuellen Glück und zu einer demokratischen Gesellschaft. Durch eine emanzipatorische Sexualerziehung könne man aus verklemmten Untertanen mündige StaatsbürgerInnen machen.
Mit Werken wie „Sexualerziehung“ (Rowohlt 1975) erreichte Kentler eine breite Öffentlichkeit. Heute gilt sein Werk als umstritten: Kentler trat für die Entkriminalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen ein. Für Empörung sorgte besonders seine Unterbringung von Jugendlichen bei vorbestraften Päderasten in Berlin.
Die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig hat sich bereits in mehreren Forschungsarbeiten kritisch mit Helmut Kentlers Wirken auseinandergesetzt. Nun hat sie die erste wissenschaftliche Kentler-Biografie vorgelegt: „Im Fahrwasser der Emanzipation? Die Wege und Irrwege des Helmut Kentler“.
Zeitzeug:innen und Aufzeichnungen
Auf 744 Seiten nähert sie sich dem Mann und seinem Werk mit der Methode der kontextuellen Biografik: Anhand verschiedener Lebensstationen geht sie offenen Fragen nach: Wie kam Kentler, der zunächst Experte für Jugendtourismus war, zu seinem Forschungsgebiet? Wie wurde er 1975 Professor der TU Hannover? Und: Ab wann, wie und aus welchen Gründen setzte sich Kentler für „gewaltfreie“ Sexualkontakte zwischen den Generationen ein?
Nentwig hat dazu ein umfangreiches Quellenstudium betrieben, sie recherchierte in Archiven und zeitgenössischer Literatur, befragte Zeitzeug:innen und durchforstete Kentlers Aufzeichnungen. In ihrem umfangreichen, aber gut lesbaren Werk kommt sie ihrem Forschungsobjekt recht nah – und liefert neue Erkenntnisse über Motivation, Netzwerk und das Privatleben des Mannes, den die feministische Zeitschrift Emma einen „Schreibtischtäter“ nannte.
Als prägend für Kentlers Jugend, der in Köln als Sohn eines Berufsoffiziers aufwuchs, schildert Nentwig eine Zeit in Berlin- wo der damals 13-jährige in der Bündischen Jugend aktiv wurde. Die dort propagierte Idee des „pädagogischen Eros“ machte Kentler später zum Grundstein seiner „Thesen zu einer nichtrepressiven Sexualerziehung“, die ihn 1967 schlagartig bekannt machten.
Kentlers von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse inspirierten Ideen kamen nicht überall gut an, wie Nentwig betont: Selbst auf dem Höhepunkt des Liberalisierungsdiskurses hätten sich nicht nur Konservative an der Forderung gestört, Kinder so früh wie möglich in das Sexuelle einzuführen.
Das „Pflegeväter-Experiment“
Nentwig zeichnet nach, wie etwa der Soziologe Gerhard Amendt auf einer Tagung versuchte, Kentlers „Pflegeväter-Experiment“ als Missbrauch zu skandalisieren – aber bei den Kolleg:innen auf „Desinteresse“ stieß. Fahrlässig auch die Uni Hannover, die Kentlers Dissertation in Sozialpädagogik trotz schwerer fachlicher Mängel annahm – und sich bis zu dessen Emeritierung 1996 nie kritisch mit seinen Positionen auseinandersetzte.
Nentwig betont immer wieder die Versäumnisse der Wissenschaft, die Kentler auch dann nicht hinterfragte, als er ab Ende der 1970er Jahre zum Aktivisten für die Sache der Pädosexuellen wurde: Er war aktiv in Organisationen wie der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP), als Gerichtsgutachter entlastete er missbrauchsverdächtige Männer – worauf er stolz war.
Teresa Nentwig: „Im Fahrwasser der Emanzipation? Die Wege und Irrwege des Helmut Kentler“. Vandenhoeck & Ruprecht, Paderborn 2021, 744 Seiten, 59,99 Euro
Seinen Glauben an „einvernehmliche“, gewaltlose Sexualbeziehungen mit Kindern stützte er auf wenige Studien, die Nentwig als methodisch ungenügend und interessengeleitet entlarvt.
Nentwig geht es aber nicht darum, zu verurteilen. Sie versucht vielmehr zu verstehen: Woher bezog Kentler Einflüsse, wer unterstützte ihn auf seinem Weg in die gesellschaftliche „Deutungselite“?
Freundschaften und Jugendarbeit
Dazu fädelt die Politikwissenschaftlerin, die ihr Handwerk am Institut für Demokratieforschung in Göttingen gelernt hat, akribisch Kentlers Beziehungen zu einem Teil des Nerother Wandervogels und zur Burg Balduinstein auf – einem Ort, an dem sexuelle Übergriffe auf Minderjährige begangen wurden, mit einem Täter war Kentler persönlich befreundet.
Eine weitere Kontinuität, die Nentwig herausarbeitet, betrifft Kentlers Wirken in der evangelischen Jugendarbeit. Bereits während des Studiums in Freiburg entwickelte Kentler für die Evangelische Akademie Bad Boll ein Ferienlager für „Industriejugendliche“.
Dort begann, wie Teresa Nentwig zeigt, nicht nur Kentlers Vorliebe für pädagogische „Feldversuche“, die er im Nachhinein subjektiv gefärbt aufbereitete, sondern auch seine Vernetzung in evangelischen Kreisen: 1962 bis 1965 arbeitete Kentler am Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit im bayerischen Josefstal. Später war er aktiv im Arbeitskreis Homosexualität und Kirche (HuK), die eine Entstigmatisierung von Homosexualität forderte.
Kentler, der sich selbst in den 1970ern outete, unterstützte auch auf politischer Ebene die Abschaffung des §175, unter anderem im Sonderausschuss für die Strafrechtsreform. Dort trat er auch für die völlige Straffreiheit sexueller Beziehungen mit Kindern ein – mit dem Argument, dass „erotische Elemente in Erziehungsprozessen […] sicher höchst wertvoll“ seien und dass der Gesetzgeber deshalb „hier seine Finger heraushalten sollte“.
Die Adoptivsöhne
Nentwig zeigt, wie tief Kentler auch privat im päderastischen Milieu verwurzelt war: Demnach war der Professor aus Hannover selbst ephebophil, begehrte also Jungen in der Pubertät, wie er seinem langjährigem Freund, dem Psychologen Gunter Schmidt, in einem Brief gestand.
Anhand eines weiteren Briefes weist Nentwig sogar erstmals nach, was bis dahin nur ein Gerücht war: dass Helmut Kentler zumindest mit einem seiner drei Adoptivsöhne sexuell verkehrte: „Mein jüngerer Sohn, M., gibt mir so viel Kraft, Lust, positives Lebensgefühl […]. Ich bin so dankbar dass ich kein alternder resignierter Homo sein muß, sondern daß ich in einer mich doch eher erfüllenden Liebesgeschichte drinstehe, die seit 13 Jahren läuft […]“.
Nentwig merkt dazu an: „M. war zum damaligen Zeitpunkt 26 Jahre alt, Kentler hatte ihn 1984 adoptiert. […] Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass M. Kentler Freundinnen hatte.“
Rat suchen
Weitere Zweifel an der Gegenseitigkeit der Liebesbeziehung ergeben sich laut Nentwig aus einem Gespräch mit Kentlers Lehrstuhlmitarbeiterin: Diese berichtet, dass zwei von Kentlers Pflegesöhnen sie um Rat gebeten hätten, da sie unter den sexuellen Annäherungen litten, aber nicht zurück ins Heim wollten. M. brachte sich 1991 um, ein weiterer Adoptivsohn zog zwei Jahre nach der Adoption aus – und brach seine Berufsausbildung ab.
Am Ende dieser erhellenden Lektüre bleibt das Bild eines Mannes, der einiges für die bundesrepublikanische Sexualerziehung geleistet hat. Aber der auch nie in der Lage war, seinen größten fachlichen wie persönlichen Irrtum einzugestehen.
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