Bildungsforscher über Zukunft der Kinder: „Bitte nicht länger ignorieren“
Viele Jahre wurde versäumt, die Position von Kindern zu stärken, sagt Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani. Er hat Ideen, wie man es besser machen kann.
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taz: Herr El-Mafaalani, angenommen Sie sind ein 14-jähriges Kind namens Aladin. Als künftige Kanzler werden Olaf Scholz und Friedrich Merz gehandelt. Also zwei Politiker im Rentenalter, die über die Zukunft des Landes bestimmen wollen. Was denken Sie?
Aladin El-Mafaalani: Dem Kind wird sicher aufgefallen sein, dass es im Wahlkampf überhaupt nicht um Kinder geht, und die recht angespannten Verhältnisse, in denen sie und ihre Familien gerade aufwachsen, keine Rolle spielen.
taz: Stimmt. Die Debatten drehen sich vor allem um Abschiebungen und Wirtschaft. Ist es ein Problem, dass Kinder politisch überhaupt nicht repräsentiert sind?
El-Mafaalani: Das waren sie ja noch nie. Die Idee ist eher, dass Eltern ihre minderjährigen Kinder durch ihr Wahlverhalten mitdenken. Nur sind die Eltern heute selbst nur eine relativ kleine Gruppe unter den Wahlberechtigten. Und viele können hier gar nicht wählen, weil sie keine deutsche Staatsangehörigkeit haben.
Geboren im Jahr 1978, ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Das Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft“ von Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier ist im Januar 2025 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
taz: Im Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ beschreiben Sie gemeinsam mit zwei weiteren Soziologen, wie Kinder in der alternden Gesellschaft chronisch vernachlässigt werden. Sie bezeichnen sie als strukturelle Außenseiter. Wie ist das zu verstehen?
El-Mafaalani: Unsere Gesellschaft ist nicht kindergerecht und nicht gerecht zu Kindern. Sie ist an den Bedürfnissen von Erwachsenen ausgerichtet. Neu ist, dass Kinder in der alternden Gesellschaft zu einer Minderheit geworden sind, genauso wie ihre Eltern. Kinder werden nicht gehört und sie werden leicht übersehen, alleine, weil sie so wenige sind.
taz: Welche Folgen hat das?
El-Mafaalani: In einer alternden Gesellschaft ist es zwingend, Kinder viel besser zu fördern. Denn auf sie warten ja die größten Herausforderungen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Aber zuallererst müssen wir verstehen, dass es hier ein großes Problem gibt.
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taz: Es wird doch seit Jahrzehnten über Probleme diskutiert, wie zum Beispiel, dass unser Bildungssystem ungerecht ist. Wir wissen: Der Bildungserfolg hängt in einem hohen Maß vom Elternhaus ab.
El-Mafaalani: Ja, aber es ist doch erstaunlich: Kinder werden als Bevölkerungsgruppe immer kleiner, trotzdem verschlechtert sich alles. Die Bildungsergebnisse sind in allen Studien rückläufig, in der Grundschule, in der weiterführenden Schule, in allen Stufen, in allen Bundesländern. Das betrifft selbst Kinder aus privilegierten Familien, benachteiligte Gruppen trifft es nur noch härter. Unser System stürzt ab. Aber es gibt keinen Aufschrei. Das muss man erst mal zur Kenntnis nehmen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Wo zeigt sich dieser Absturz?
El-Mafaalani: Wir haben zu wenige Kitaplätze und Schulplätze. Obwohl wir historisch betrachtet so wenig Kinder wie noch nie haben, können wir nicht einmal die Schulpflicht in allen Bundesländern vollständig umsetzen. Es gibt viele Tausend Kinder, die im schulpflichtigen Alter sind und keinen regulären Schulplatz haben. Unsere Intuition würde doch sagen: Bei wenigen Kindern können wir uns umso besser um sie kümmern. Wir müssten sie auch wesentlich besser vor Armut schützen können. Aber stattdessen haben Kinder ein außergewöhnlich hohes Armutsrisiko.
taz: Die zerbrochene Ampelregierung wollte eigentlich eine Kindergrundsicherung einführen, um mehr Kinder vor Armut zu schützen. Das Vorhaben scheiterte. Die Diskussion drehte sich fast nur um die Finanzierung, nach dem Motto: nette Idee, aber zu teuer.
El-Mafaalani: Ich glaube, das Problem war nicht die Finanzierung.
taz: Ach nein?
El-Mafaalani: Natürlich wurde über die Finanzierung gestritten, darüber, ob es jetzt 2 oder 12 Milliarden Euro sein sollen. Aber es gab einen weiteren Konflikt dahinter. Einerseits gibt es eine hohe gesellschaftliche Zustimmung dazu, Kinder vor Armut abzuschirmen, andererseits gibt es keinen Konsens darüber, dass der Haushalt, in dem ein Kind aufwächst, nicht arm sein sollte. Manche wollen doch, dass die Eltern arm bleiben, damit zum Beispiel Anreize bestehen bleiben, dass sie arbeiten gehen. Diesen Widerspruch hätte man stärker thematisieren müssen.
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taz: Die Kinder sollen nicht arm sein, aber die Eltern schon? Lässt sich dieser Widerspruch überhaupt auflösen?
El-Mafaalani: Nur schwer. Kinder sind arm, weil ihre Familie arm ist. Gleichzeitig ist das Armutsrisiko von Erwachsenen durch die Geburt eines Kindes erhöht. Deshalb ist es ein paradoxes Vorhaben, nur Kinder von Armut abzuschirmen. Man könnte zumindest eine Strategie forcieren, dass Kinder dort, wo sie sich überwiegend aufhalten, in der Kita, in der Grundschule und in den Ganztagsschulen, traumhaft versorgt sind. Aber das sehe ich auch nicht.
taz: Bräuchte es eine Elterngrundsicherung oder mehr Geld für Bildung? Und wo genau müsste dieses Geld investiert werden?
El-Mafaalani: Das sind zwei Bereiche, die beide sinnvoll sind. Die Familien sollten genauso unterstützt werden wie die Bildungsinstitutionen. Es sind die beiden Orte, an denen Kinder die meiste Zeit verbringen.
taz: Auch die Zusammensetzung der Kinder hat sich stark verändert. Im Buch schreiben Sie von der „Generation superdivers“. Was ist damit gemeint?
El-Mafaalani: Zum Vergleich: Bei Menschen im Rentenalter haben unter 15 Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund. Diese Menschen kommen aus relativ wenigen Ländern und sie sind fast alle nicht in Deutschland geboren. Bei den Kindern hingegen sind es deutlich über 40 Prozent, sie kommen aus fast allen Ländern der Welt, sie können selbst zugewandert sein oder sind Teil der zweiten, dritten oder vierten Generation. Das heißt: Immer mehr Kinder und Jugendliche kommen aus immer mehr Herkunftsländern und Weltregionen. Sie sind quantitativ wenige, aber sie sind so divers wie nie und damit auch so komplex wie keine andere Altersgruppe.
taz: Wie müssen denn Bildungsinstitutionen mit dieser Superdiversität umgehen?
El-Mafaalani: Sie müssen sich fragen: Was muss ich über die Kinder wissen, um sie optimal zu fördern? In einer Klasse werden vielleicht zehn Sprachen gesprochen. Oder es gibt sechs religiöse Konfessionen, denen sich die Kinder zugehörig fühlen. Die Kids können eine Duldung haben oder deutsche Staatsbürger sein, reich oder arm. Die wichtigste Frage ist: Was muss eine Institution können, um mit dieser großen Varianz konstruktiv umzugehen?
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taz: Und? Was braucht es?
El-Mafaalani: Man kann sich zum Beispiel überlegen, ob ein Verteilungsschlüssel von einer Lehrkraft auf 27 Kinder bei dieser Diversität in der Grundschule noch zeitgemäß ist. Aber das ist nur die langfristige Perspektive. Wir müssten die Erzieher und Lehrkräfte ja erst mal ausbilden, und das würde erst in zehn Jahren etwas verändern. Um diejenigen zu erreichen, die jetzt schon im System sind, ist es viel entscheidender, dass wir die Funktion von Bildungsinstitutionen ganz anders verstehen.
taz: Wie?
El-Mafaalani: Sie müssen einen Teil der Aufgaben, die klassischerweise der Familie zugeschrieben werden, ersetzen. Wir haben einen großen Anteil an Eltern, die ihren Kindern nicht so helfen können, wie es erforderlich wäre. Weil sie gerade erst zugewandert sind, weil sie sehr arm sind, weil sie krank sind, weil beide Eltern berufstätig sind. In einer alternden Gesellschaft sind wir davon abhängig, dass beide Elternteile arbeiten. Die Müttererwerbsquote sollte sich ja noch steigern, wenn wir die Rentenversorgung und auch die Pflegeversorgung der alten Menschen vernünftig organisiert bekommen wollen.
taz: Viele Schulen sind marode und schlecht ausgestattet, es gibt zu wenig Lehrkräfte, ständig fallen Stunden aus. Und jetzt sollen genau diese Institutionen mehr Funktionen übernehmen? Das ist …
El-Mafaalani: Ich verstehe, was Sie meinen. Das ist genau das Problem. Unser Bildungssystem war schon immer so schlecht, wie es jetzt ist, nur haben sich die Herausforderungen verändert. Die Familien stehen stärker unter Druck. In der Vergangenheit war es im westdeutschen Kontext ja so, dass überwiegend die Mütter die Lücken des Systems geschlossen haben. Sie waren ansprechbar für die Schule, für die Kinder, sie waren präsent. Unser System basierte darauf, dass wir eine hohe Anzahl von Menschen im mittleren Alter haben, die sich idealerweise um die Kinder gekümmert haben, bis sie aus der Schule raus sind. Und dann später um die pflegebedürftigen Eltern. Beides wird so nicht mehr funktionieren.
taz: Und das heißt?
El-Mafaalani: Wir müssen die Versorgung älterer Menschen zumindest zum Teil davon entkoppeln, dass die Familien das regeln. Und die Versorgung der Kinder auch. Das Unbehagen, das Sie in Bezug auf den Zustand der Schulen haben, kann man ja genauso auf Pflegeeinrichtungen beziehen. Deswegen müssen wir uns dringend systematische Gedanken machen.
taz: Wie können konkrete Lösungsvorschläge aussehen? Und wer muss sich daran beteiligen?
El-Mafaalani: In unserem Buch beschreiben wir Community-Zentren. Dort werden an einem Ort die Interessen und Bedarfe der Großelterngeneration, der Eltern und der Kinder berücksichtigt. Das Konzept der „Caring Communities“, das insbesondere auf die Versorgung Hochaltriger ausgerichtet ist, haben wir erweitert und auch auf die Lage von Familien und Kindern ausgerichtet. Und wir müssen auch über die Verantwortung von Rentnern sprechen, insbesondere der großen Gruppe der Babyboomer. Sie sind viele und sie sind kognitiv und körperlich so fit wie keine Generation vor ihnen. Auf sie kann man nicht verzichten. Das gesellschaftliche Engagement dieser Gruppe ist wesentlich, insbesondere in der Betreuung und Begleitung von Kindern. Es ist also keineswegs unmöglich, die Lage von Kindern zu verbessern.
taz: Leider geht es in diesen Debatten selten lösungsorientiert zu.
El-Mafaalani: Schauen Sie sich die Diskussionen in der Gesellschaft an. Viele sagen, die Kinder von heute würden völlig verhätschelt. Wir reden über Helikoptereltern, aber das ist so weit weg von der Realität vieler Familien. Und über die großen Gefahren der Digitalisierung für Kinder und Jugendliche sprechen wir auch kaum.
taz: Es wird aktuell diskutiert, Smartphones aus den Schulen zu verbannen.
El-Mafaalani: Studien zeigen, dass über die Hälfte der Kinder im Grundschulalter ein Smartphone nutzt. In der weiterführenden Schule sind es fast 100 Prozent. Wenn wir es in der Schule verbannen, macht es die Arbeit in der Schule einfacher. Aber was passiert außerhalb der Schule? Kinder müssen einen Umgang damit lernen. Und wir müssen verstehen, dass die digitale Welt ein Beruhigungsmittel für Kinder geworden ist.
taz: Wie meinen Sie das?
El-Mafaalani: Viele wissen nicht, dass es immer weniger Räume für Kinder gibt, die sie frei nutzen können, wo sie sich entfalten können. Wir merken das kaum, weil wir so gute digitale Ersatzangebote haben. Wenn digitale Medien nicht so unfassbar attraktiv für Kinder sein sollen, mit all ihren Gefahren, dann müssen wir viel mehr attraktive, analoge Möglichkeiten schaffen. Die hohe Anziehungskraft des Digitalen hängt auch damit zusammen, dass Kinder und Jugendliche in der analogen Welt an den Rand gedrängt wurden.
taz: Von welchen Gefahren sprechen Sie?
El-Mafaalani: Dieses fehlende Angebot wurde allzu leicht mit Tiktok kompensiert. Mit Verschwörungstheorien, mit Populismus. Lange hat außer der AfD kaum eine Partei die jungen Leute angesprochen. Spätestens bei der letzten Europawahl hat sich doch gezeigt, wie divers diese Generation ist. Es wurden sehr linke und sehr rechte Parteien gewählt, außerdem sehr viele Kleinstparteien. Es ist ein Riesendurcheinander. In diesem Aufwachsen im Krisenzustand gibt es keine vernünftige Orientierung. Dass davon so viele überrascht sind, zeigt doch nur, dass wir die jungen Leute nicht im Blick haben.
taz: Was muss eine nächste Bundesregierung tun?
El-Mafaalani: Sie könnte sich mal überlegen, wie sie junge Menschen ansprechen will.
taz: Wie macht man das, wenn alles so deprimierend ist?
El-Mafaalani: Im Prinzip gibt es zwei Varianten. Sie könnte etwa sagen: Wir wissen, die letzten zehn Jahre waren scheiße für euch, aber die nächsten werden deutlich besser. Das wäre eine Anerkennung der schwierigen Lage und ein positives Signal für die Zukunft. Sollte man aber nicht davon ausgehen, dass sich die Situation verbessern wird, dann müssen Kinder und Jugendliche ins Zentrum aller Überlegungen gestellt werden. Sie müssen dann doch erst recht so gut ausgestattet werden, dass sie die großen Herausforderungen, die wir ihnen hinterlassen, bewältigen können. Ich wäre übrigens dafür, beides zu machen. Wir müssen insgesamt stärker bedenken, dass sie in Krisenzeiten aufwachsen, dass für sie der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird. Darf ich das mit einem Bild deutlich machen?
taz: Bitte.
El-Mafaalani: Wenn man auf hoher See ist und das Wetter ist sehr stürmisch, kann man die Kinder unter Deck schicken und sagen: Haltet euch gut fest, das dauert jetzt zwei Tage, ihr müsst stark sein, in zwei Tagen ist alles wieder gut. Damit können Kinder zurechtkommen. Wenn aber dauerhaft stürmische Zeiten erwartet werden, dann können wir die Kids nicht nach unten schicken und ignorieren. Wir müssen dann alles an Bord so organisieren, dass die Kinder eine vernünftig strukturierte Perspektive bekommen – nicht obwohl, sondern gerade weil die Aussichten so schlecht sind.
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