Bildung für Geflüchtete: Die Brückenbauer
Am Victor-Klemperer-Kolleg in Berlin wurden 2015 Willkommensklassen für Geflüchtete eingerichtet. Nun hat der erste Jahrgang Abitur gemacht.
E inskommadrei. In Ziffern: 1,3. Das ist Hani Al Ezaldins Abiturdurchschnitt. Er ist reingesprungen ins deutsche Bildungssystem, mutig, wie andere vom Felsen ins Meer. Jetzt hat er ein „deutsches Reifezeugnis“. Das Wort klingt nach Herbst statt nach Frühling und Aufbruch. Überheblich macht ihn sein Erfolg nicht. Ein klein wenig stolz, das schon, wenn alle ihm Bewunderung zollen. Wird der Notendurchschnitt von Leuten erwähnt, „1,3“, „oh, 1,3“, dann nickt er ganz leicht. Er hat gezeigt, was möglich ist. Vor fünf Jahren konnte er kein Wort Deutsch. Jetzt, 23-jährig, spricht er die Sprache, als hätte er nie anderswo gelebt. Dass die Ex-Freundin und seine jetzige Freundin deutsche Muttersprachlerinnen sind, soll auch geholfen haben. „Sie korrigieren mich immer.“
Dreikommafünf. In Ziffern: 3,5. Das ist der Abiturdurchschnitt von Zahra Gholamhosseini. Bekommt sie Bewunderung? Wenn, dann verhalten. Dabei hätte sie Bewunderung sehr verdient. Denn als sie reingesprungen ist ins deutsche Bildungssystem, konnte die 33-Jährige nicht schwimmen. Aber jetzt sind da sind ihre Kinder – die Tochter ist 13, der Sohn 18 – zwei Personen, von denen sie weiß, dass sie sehr stolz auf sie sind. Sie konnte ihnen bei den Hausaufgaben während des Corona-Lockdowns helfen. „Das wird ja erwartet, dass die Eltern das tun“, sagt sie. Ob auch ihr Mann ihren Erfolg würdigt? Im Geheimen wahrscheinlich schon.
Marion Hoffmann und das Lehrerkollegium freuen sich auch über das, was Al Ezaldin und Gholamhosseini erreicht haben. Sie waren beteiligt daran. Hoffmann ist die Schulleiterin am Victor-Klemperer-Kolleg in Berlin-Marzahn, wo die beiden Abitur gemacht haben. Sie weiß, wie klar der junge Mann sein Ziel im Auge und wie sehr die junge Frau gekämpft hatte. Würden die Umstände in die Bewertung einfließen – der Kampf einer Frau gegen traditionelle Rollen, der Kampf einer Frau um Gleichheit, der Kampf einer Frau, die von sich sagt, „Deutschland ist meine dritte Heimat“, was in Wirklichkeit doch bedeutet, dass sie auch um einen Ort ringt, wo sie sein kann –, ihr Notendurchschnitt ginge durch die Decke.
Im Schulgarten, dem „grünen Klassenzimmer“, umgeben von Plattenbauten in Marzahn, was früher zu Ostberlin gehörte, findet das Treffen mit Abiturientin, Abiturient, der Kollegleiterin und einem Lehrer, Kolja Missal, statt. Missal ist das Treffen zu verdanken. Er erzählte bei anderer Gelegenheit begeistert von der Arbeit am Victor-Klemperer-Kolleg. Dass gleich 2015 Willkommensklassen für Geflüchtete eingerichtet wurden und dass das Kollegium sich überlegte, wie man die Leute so fördern kann, dass sie ankommen, dass sie eine Chance haben. Dass sie „Brückenbauer“ zwischen Kulturen werden können, wie er sagt. Und dass diese ganzen Anstrengungen nun dazu führten, dass der erste Jahrgang Abitur machte.
Marion Hoffmann, Schulleiterin
Hani Al Ezaldin ist nicht der einzige unter den Geflüchteten, die mit einem Einserdurchschnitt abschlossen. Aber er ist ihr Primus. „Vom Ehrgeiz der Geflüchteten können sich deutsche Schüler was abgucken“, sagt Hoffmann.
Hani Al Ezaldin kam 2015 nach Deutschland. Sein Fluchtweg wird heute mitunter „klassisch“ genannt, was Quatsch ist, Flucht kann nie klassisch sein. Von Syrien durch die Türkei über das Mittelmeer, „35 Leute im Boot“, geht der Weg. Dann die Balkanroute entlang, „meistens zu Fuß“. Zu viert sind sie, Freunde, alle jung. Aber Flucht macht erwachsen und alt. „Als ich kam, im Frühjahr, waren die Grenzen noch nicht offen“, sagt er. Fast ein Jahr ist er unterwegs. 5.000 Dollar zahlt er für die Flucht. Aus Syrien bringt er Narben mit.
Zahra Gholamhosseini ist fünf Monate unterwegs. Eine Frau allein mit der Tochter. 2011 erreicht sie Deutschland. Der Sohn reist zwei Wochen nach ihr allein hinterher. Ihr Mann bleibt, weil das Geld für Schleuser nicht für alle reicht, in Griechenland stecken. Er erreicht Deutschland eineinhalb Jahre später und braucht dreimal so lange wie sie für die Flucht. Sie ist Afghanin, „im Exil im Iran geboren“. Sie flüchtete, weil sie Freiheit will, sagt sie. Auch ihr Fluchtweg geht übers Mittelmeer. Nur geschah das damals noch unter der Wahrnehmungsgrenze. Auf der Flucht sei aus ihr eine Frau geworden, die allein Entscheidungen treffen muss, die allein handelt.
Im Iran konnte sie, erzählt sie, nur bis zur achten Klasse zur Schule gehen. Danach hätte die Bildung für Exilafghanen Geld gekostet. Das hatten ihre Eltern nicht. Für Geld bekomme man im Iran alles, sagt sie. Als die Eltern das Geld gehabt hätten, ist sie verheiratet. Ihr erstes Kind kriegt sie, als sie noch nicht 16 ist. Ihr Mann, ein Landwirt, entscheidet, dass sie vom Iran zurück nach Afghanistan ziehen, dorthin, wo er geboren wurde in der Provinz Ghazni. Aber die Taliban bedrohten den Ort, erzählt Gholamhosseini, brannten die Häuser nieder. Sie flohen.
Die Lebenswege von Al Ezaldin, Gholamhosseini und aller anderen Geflüchteten sind kompliziert, sind voller Mut und Verzweiflung. Und dann wieder Mut. Und wieder Verzweiflung. Und mit neuem Mut wird die neue Verzweiflung beiseite geschoben, die doch vor allem durch die Hürden entsteht, die ihnen in den Weg gelegt werden. Durch diese Unmöglichkeiten geografischer, bürokratischer, politischer, kultureller Natur.
Gholamhosseini wird, als sie endlich in Deutschland ist, Brandenburg zugeteilt. Als sie halbwegs Deutsch kann, setzt sie mit Hilfe einer Anwältin durch, dass sie zur Schule gehen kann, die 9. Klasse machen. Ihr Lieblingsfach: Mathe. Sie schafft es, schließt mit der Berufsbildungsreife ab und will weiter zur Schule. Das geht in Brandenburg nicht. Sie recherchiert. In Berlin gibt es Möglichkeiten. Sie erkämpft sich die Erlaubnis zum Umzug, wieder mit Hilfe der Anwältin.
2015 kommt sie in die Hauptstadt und findet eine kleine Wohnung für die Familie. „Am Anfang habe ich nichts verstanden, so ohne Mann, ich habe innerlich gekämpft um mich“, sagt sie. Und dann auch äußerlich – „für mich und für meine Kinder. Für sie bin ich hier. Ich muss die nächste Generation retten.“
Dass 2015 Zehntausende Flüchtlinge seit Monaten unterwegs waren nach Westeuropa, das sei bis zum Sommer gar nicht richtig in unserer Wahrnehmung präsent gewesen, sagt Kolja Missal, der Lehrer. „Wie konnten wir das übersehen?“ Erst die Dramen am Budapester Bahnhof im Sommer vor fünf Jahren waren der Presse ausführlichere Berichte wert. Was er dann aber bemerkenswert findet: „Wie schnell aus der Bahnhofssituation etwas entstanden ist. Wie schnell es eine Struktur gab. Auch am Kolleg.“
Marion Hoffmann ist seit 1991 Schulleiterin des Victor-Klemperer-Kollegs, das immer schon Schulabschlüsse des Zweiten Bildungsweges ermöglichte. Hoffmann ist in der DDR geboren und hat dort gelebt. Sie durfte aber, da sie politisch nicht passte, nicht studieren, was sie wollte. Das hilft ihr heute, die Situation der Flüchtenden besser zu verstehen.
Als die Grenzen im Sommer 2015 offen bleiben, habe der Bürgermeister von Marzahn sich an sie gewandt, ob sie nicht eine Willkommensklasse einrichten wolle. Sie will. Das Kollegium will es auch. Lehrer melden sich freiwillig. Mit Deutsch als Zweitsprache hat man am Kolleg Erfahrung, denn dort gehen viele osteuropäische Aussiedler und Aussiedlerinnen zur Schule. Fast die Hälfte aller, die ans Kolleg gehen, haben einen Migrationshintergrund.
Ab 2016 steht der Unterricht. Nicht nur in einer Willkommensklasse, sondern in vier Klassen. Sprache und Politik werden gelehrt. Die Schulbehörde habe nicht viel vorausgesetzt, sagt Hoffmann. Nur, dass am Ende die Sprachprüfung B1 abgenommen werden soll.
„Aber mit B1 kann man kein Abitur machen“, sagt Hani Al Ezaldin. Da verstehe man noch nicht viel. Ihm wären seine syrischen Zeugnisse sogar als mittlerer Schulabschluss anerkannt worden. Aber er zweifelte. „Ungeduld bringt nichts.“ Er will keine Gefälligkeiten, er will „eine Bildungsbasis, eine Sprachbasis“, recherchiert im Netz, findet etwas, das ihm wie ein Wunder vorkommt: ein Schulversuch am Victor-Klemperer-Kolleg, eine Art sprachlicher Vorbereitungskurs, der auf die Abiturspur im zweiten Bildungsweg führen soll.
Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht
Denn als die Willkommensklassen zu Ende waren am Kolleg, fand Marion Hoffmann, dass das Lernen weitergehen solle, und initiierte den Schulversuch. Die Schulbehörde erlaubte es und verlangte einzig, dass, wer danach in den Abiturzweig wolle, am Ende dann die B2-Sprachprüfung bestehen müsse. Auch Zahra Gholamhosseini, die seit 2014 bei der Diakonie und anderen Sozialvereinen als Sprachmittlerin und Unterstützerin für Geflüchtete arbeitete und es heute ehrenamtlich weiter tut, stieß beim Recherchieren auf dieses Angebot.
„Wir hatten ja nur fünf Monate für den Schulversuch und wussten auch nicht, ob es in dem zeitlichen Rahmen möglich ist, die sprachliche Entwicklung so voranzutreiben, dass die Leute B2 schaffen“, sagt Marion Hoffmann, aber sie hätten es einfach gemacht. Sprachbildung sei die große Herausforderung, sagt sie. „Wie können wir Aufgaben sprachlich so vereinfachen, dass wir alle mitnehmen.“ Und Kolja Missal, der Lehrer, der Kunst und Politik unterrichtet und die Arbeit mit Leuten, die so viel Welterfahrung mitbringen, großartig findet, sagt: „Sprache ist die Schlüsselposition. Nur so ist Erfahrung vermittelbar.“
Al Ezaldin, Gholamhosseini und 43 weitere Geflüchtete werden im Schulversuch aufgenommen. Bis auf zwei bestehen alle die B2-Prüfung. Als der Schulversuch abgeschlossen ist, steht Hoffmann wieder da und sagt: „Wir haben sie ausgebildet, dann möchten wir auch, dass sie bleiben.“ Und ja, tatsächlich, alle beginnen den Abiturzweig.
Zwei Drittel von ihnen machen Abschlüsse. Manche gehen nach der 11. Klasse mit dem mittleren Schulabschluss ab, um einen Beruf zu erlernen. Manche nach der 12. Klasse mit Fachabitur. Zwölf haben jetzt Abitur gemacht. Die Prüfungsanforderungen sind für sie gleich wie für alle anderen. „Zentralabitur“, sagt Hoffmann. Keine Gefälligkeiten also. „Es ist für alle eine Erfolgsgeschichte.“
Hani Al Ezaldin
Die vier führen jetzt durch die in den Sommerferien verwaiste Schule. Verschlossene Klassenzimmer, Flure, auf denen niemand spricht, Stühle, die auf den Tischen stehen, darunter gewienerter Boden. „Die deutschen Schulen riechen besser“, sagt Hani Al Ezaldin. „Sauber. Mit frischer Luft.“ Und sein nächster Satz: „Bei uns in Syrien ist es ein diktatorisches System, wir sollen nicht denken. Wir sollen das schreiben in den Klausuren, was uns vorgesagt wird. Aber hier muss man kritisch sein.“ Also werden nicht nur die Räume, sondern auch der Kopf gelüftet? „Ja“, sagt er.
Dass das fünfte Fach im Abitur eine Präsentation ist, findet Al Ezaldin wahnsinnig gut. „Wir lernen Analysieren, Erörtern, Interpretieren, und dann stehen wir da und erläutern unsere Meinung.“ Und Zahra Gholamhosseini sagt, in der iranischen Schule lerne man nur auswendig. Da sei keine Diskussion, keine Kritik. „Als Frau soll ich meine Meinung nicht sagen. Ich soll gar keine haben.“ Am Anfang habe sie das in Deutschland nicht verstanden: „So viel Kritik.“ Jetzt aber sage sie, was sie denke, und ihr Mann sage schon, sie sei wie eine Deutsche.
Ganz einfach sei es nicht, seit sie so sei: Sie hält ihre Hand waagrecht. Sie sei nicht mehr so: Sie hält ihre Hand senkrecht. Soll heißen, sie will ebenbürtig sein, nicht unten stehen in der Hierarchie. Auch zu Hause nicht. Ihr Mann jobbt als Verkäufer. „Ich muss Geduld haben“, sagt sie.
Zahra Gholamhosseini
Eigentlich ist der Lehrplan, der zum Abitur führt, vorgegeben. Aber Spielräume wurden am Victor-Klemperer-Kolleg doch genutzt. Es gab mehr Deutsch als an anderen Schulen. Und einmal, im Politikunterricht, hätten sie, erzählt Kolja Missal, der Lehrer, der in den Ferien gerade seine Doktorarbeit über die jüdische Architektengruppe Chug, die während der Nazizeit nach Tel Aviv flüchten musste, fertigstellt, ein Geschichtsprojekt gemacht: Stimmen von Geflüchteten.
Sie hätten festgestellt, dass vor allem Männer sprechen. Auf eine zurückhaltende Weise will Zahra Gholamhosseini das ändern. Wenn sie als Sprachmittlerin andere geflüchtete Frauen unterstützt, sage sie ihnen: „Auch wenn du eine Mutter bist, bist du Mensch. Als Mensch kannst du alles schaffen. Auch als Frau.“
Gerade steht sie selbst vor einer Hürde: dem Numerus clausus. Sie müsse nahtlos studieren, damit sie den Anspruch auf Bafög nicht verliere. Aber ihr Abiturdurchschnitt macht ihr das schwer. Nur als Härtefall hätte sie eine Chance an der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit in Berlin. Vielleicht findet sie auch einen Platz im dualen Studium, das soziale Arbeit und ökonomische Aspekte verbindet. Ökonomie ist ihr wichtig. Sie hofft.
Hani Al Ezaldin ist auf Sicherheit gegangen. Er wird im dualen Studium Informatik studieren. Bei der DB, der Bahn. „Weil Theorie und Praxis dort gelehrt wird.“ Beides sei ihm wichtig. „Bevor ich etwas abgeschlossen habe, weiß ich schon, was ich als Nächstes tue. Im dualen Studium krieg ich auch ein Gehalt, muss nichts zurückzahlen.“ Er hatte das Abitur noch nicht, aber schon den Ausbildungsvertrag unterschrieben. Eine gute Voraussetzung für seinen nächsten Plan: die deutsche Staatsbürgerschaft.
Hätte er nicht am Schulversuch teilgenommen, meint er, hätte er seinen Weg nicht so klar gehen können. „Fachwortschatz, das lernt man nicht in Integrationsklassen. Sich zurechtfinden, wie funktioniert es, was sind die Systeme, das hab ich erst hier verstanden.“ Er findet, am Kolleg soll das genau so weitergemacht werden wie bisher. Und gefragt, was er aus der syrischen Kultur in die deutsche bringen will, sagt er, dass er finde, die Deutschen nehmen sich zu wenig Zeit für Freunde und Familie. „Das würde ich ändern.“ Zahra Gholamhosseni nickt.
In diesem September beginnt ein neuer Schulversuchsdurchgang für Geflüchtete am Victor-Klemperer-Kolleg. Mit 15 Leuten. Es gab mehr Bewerberinnen und Bewerber. „30 mussten wir ablehnen“, sagt Hoffmann. Es soll laut Schulbehörde der letzte Durchgang sein. „Der Senat sagt, es gebe keinen Bedarf mehr.“
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