Berlins Kultursenator über Coronafolgen: „Das Korrektiv der Kultur fehlt“
Der politischen Klasse mangele es an Bereitschaft zur Reflektion: Klaus Lederer über den Druck der Ökonomie, Solidarität und die Zukunft der Bühnen.
taz: Herr Lederer, können Sie sich noch an Ihre letzte Clubnacht erinnern?
Klaus Lederer: (überlegt lange) Nein.
So lange her?
Ja. Für Clubbesuche braucht man Luft, und die ist in diesem Job schwer zu bekommen. Und jetzt ist ja ohnehin erst mal lange gar nichts.
Braucht Kultur Nähe, um den Menschen zu berühren?
Theater, Tanz, auch Konzertabende lassen sich über Streaming nicht mit derselben Intensität erfahren wie live. Sie leben von der Nichtwiederholbarkeit der konkreten Aufführung.
Schauen Sie sich Streamings an?
Ich habe mir ein Stück angeschaut, aber es war nicht vergleichbar mit dem unmittelbaren Theatererlebnis. Auch das tollste Wohnzimmerkonzert kann mir den Aufenthalt im Zuschauerraum nicht ersetzen.
46, ist seit Dezember 2016 in der rot-rot-grünen Regierung Senator für Kultur und Europa. Zuvor war er mehr als zehn Jahre Landesvorsitzender der Linkspartei
Wenn irgendwann Theater und Konzerthäuser wieder geöffnet werden, aber die Zuschauerzahl reduziert ist: Wie wird sich das unmittelbare Erlebnis in einem nur zu einem Drittel gefüllten Haus anfühlen?
Das ist die große, spannende Frage, die wir gerade diskutieren. Ist es ästhetisch-künstlerisch möglich, in einer sterilen Atmosphäre und vielleicht sogar mit Mundschutz ein Stück anzuschauen mit Schauspielern, die während des Spiels permanent gedanklich damit beschäftigt sind, den Mindestabstand einzuhalten?
In manchen Theatern wie der Volksbühne würde es eher Sinn machen, nur die Nebenbühnen zu bespielen, oder?
Geschlossene Räume sind, wenn sie kleiner sind, eher problematischer. Ich würde sagen: In der Liebe und der Not ist der Mittelweg der Tod. – Aber das sind Fragen, die die Häuser beantworten müssen.
Das heißt, die Theater sehen selbst, was sie aus Ihren Empfehlungen machen?
Die wirtschaftliche Frage liegt in der Kompetenz der Einrichtungen. Aber der Bühnenverein und auch wir arbeiten mit den Einrichtungen an gemeinsamen Hygienekonzepten. Da wird es Vorgaben und Strategien geben, die alle einhalten müssen. Und die werden alle konkret auf ihr Haus und dessen spezielle bauliche Gegebenheiten anpassen: Wie ist die Bestuhlung? Wie funktioniert die Lüftung?
Kann man als Schauspieler Mundschutz tragen?
Man kann als Schauspieler alles. Die Frage ist, ob das im Rahmen einer Theateraufführung funktioniert. Wenn vor Coronazeiten im Stück ein Mundschutz vorgesehen war, ging das schließlich auch. Ich kann mich allerdings nicht an Stücke erinnern, in denen das Tragen von Mundschutz zum elementaren Teil der Aufführung gehörte (lacht).
Zwei oder drei Stunden Mundschutz am Stück – ist das nicht zu anstrengend?
Das müssen die Akteure für sich bewerten und beurteilen. Unsere Landesorchester haben mit der Charité ein Papier erarbeitet, wie der Gebrauch einzelner Instrumente sich auf die Aerosol-Verbreitung im Raum auswirkt und was das für Konsequenzen für Abstände hätte auf den Bühnen. Mit der Charité arbeiten wir an Teststrategien, die es vielleicht ermöglichen, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler die Nähe zulassen können, die ein Theaterspiel ausmacht.
Also vergleichbar zu den Profifußballspielern, die sich in Quarantäne regelmäßig durchtesten lassen?
Es darf kein PR-Gag sein. So etwas will ich nicht. Es muss schon ein Konzept sein, das mit Experten ausgearbeitet ist und hilft, die Ausbreitung des Virus so zu minimieren, so dass das Risiko beherrschbar bleibt.
Die Bühnen sind – Stand heute – noch zu bis Ende Juli zu, aber die Häuser brauchen Planungssicherheit. Wann wollen und müssen Sie Empfehlungen liefern?
Die Proben finden ja statt, aber unter Einhaltung der Mindestabstände und bestimmter Regeln. Ich hoffe, dass wir sehr bald zu einer evidenzbasierten Teststrategie kommen, damit im Proben- und Aufführungsbetrieb die Regeln klar sind.
Sie streben also eher den Normalzustand durch Tests an als Sicherheitsvorkehrungen auf der Bühne?
Beides. Und dann werden wir sehen, wo wir landen.
Bayern hat in dieser Woche die Bühnen mit maximal 50 Personen drin und 100 draußen eröffnet. Absurde Zahl, oder?
Ich möchte, dass wir draußen Kultur zeitnah wieder möglich machen. Der empirische Befund scheint sich ja zu verdichten, dass dort bei Einhaltung von Abstandsregeln die Ansteckungsgefahr vergleichsweise gering ist.
Freiluftkinos?
Wenn die Menschen den Abstand halten, besteht aus meiner Sicht kein Unterschied, ob man sich mit oder ohne Leinwand in einem Park gemeinsam mit anderen aufhält. Das ist dem Virus, glaube ich, ziemlich egal. Aber ich habe große Skepsis bei Veranstaltungen mit vielen Personen in schlecht gelüfteten, geschlossenen Räumen. Deswegen trete ich bei allem, was indoor passiert, auf die Bremse! Es nützt uns doch nichts, wenn wir in zwei, drei Monaten feststellen, dass die Kultureinrichtungen, die Clubs und die Bars wieder zu jenen Hotspots geworden sind, die sie zu Beginn der Pandemie leider waren. Für viele Häuser ist es aber auch eine ganz einfache wirtschaftliche Frage, ob sie einen Betrieb, der auf einen Saal von 1.000 oder 1.500 ausgerichtet ist, für 100 oder 200 Leute hochfahren. Ob sich also das künstlerische Erlebnis in beide Richtungen lohnt – nicht nur, um sagen zu können, wir haben wieder geöffnet.
Wie lang ist dieser Shutdown finanzierbar?
Die Frage ist falsch gestellt. Das hieße ja: Wie lang halten wir es aus, nicht mit Menschenleben zu spielen? Und diese Frage will ich nicht akzeptieren. Die Voraussetzung dafür, Kultur wieder ans Netz zu bringen, ist die Sicherheit des Personals und des Publikums. Meine Herangehensweise ist darüber hinaus, dass wir alles dafür tun, um sowohl im Bereich der öffentlichen als auch im Bereich der privaten, nicht geförderten Institutionen und im Bereich der Freien Szene zu unterstützen, wo wir unterstützen können und zwar so lange, wie das notwendig ist. Wir haben im Senat diese Woche den Nachtragshaushalt beschlossen. Das Soforthilfeprogramm IV...
…für Kultureinrichtungen mit mehr als zehn Beschäftigten...
… das jetzt auf drei Monate mit einem Umfang von 30 Millionen Euro konzipiert ist, muss deswegen gegebenenfalls danach wieder aufgesetzt werden und eventuell danach auch nochmal.
Was ist mit der Soforthilfe für die Solo-Selbständigen und die Kleinunternehmer?
Da haben wir innerhalb weniger Tage einen hohen dreistelligen Millionenbetrag ausgegeben, aber der Bund ist extrem restriktiv. Von den 50 Milliarden Euro, die der Bund für seine Soforthilfe eingestellt hat, ist derzeit nur ein Viertel abgeflossen. Es würde den Bund ein müdes Lächeln kosten, den Berliner Weg zu gehen, auch persönliche Aufwendungen zu akzeptieren, nicht nur betriebliche. Berlin allein kann das nicht stemmen.
Warum nicht?
Wir können nicht alle drei Monate einen kompletten Jahreskulturhaushalt dafür ausgeben. Das schaffen wir nicht. Wir werden es insgesamt wegen Corona mit Milliardenausfällen aus fehlenden Einnahmen und mit massiven Mehrausgaben zu tun bekommen. Die Ankündigung der Bundeskanzlerin, dass man nun auch der Kultur helfen wolle, hat mich gefreut. Wenn das endlich mal Konturen annimmt, könnte ich vielleicht auch ruhiger schlafen.
Wird es Verteilungskämpfe geben?
Im Augenblick wird in der Koalition und im Senat sehr solidarisch darüber diskutiert, welche Hilfen wo nötig sind. Wenn ich diese politische Unterstützung nicht hätte, könnte ich aufhören.
In Berlin wurde viele Jahre darüber gestritten, ob sich die Stadt drei Opern leisten kann. Wird diese Debatte wiederkommen, vielleicht forciert von der Freien Szene?
Dieses Gegeneinanderstellen unterschiedlicher kultureller Sparten erlebe ich bisher nicht. Und ich hielte es auch für grundfalsch, wenn einzelne Akteure, anstatt sich zusammen zu tun und Allianzen weit über die Kulturszene hinaus zu suchen, sich in internen Zerfleischungsarien selbst schwächen würden. Das können wir uns nicht leisten.
Für Sie kommt die Schließung einer Kultureinrichtung – etwa einer Oper – als Folge der Pandemie nicht in Frage?
Ich bin als Kultursenator nicht dafür da, Kultureinrichtungen zu schließen. Meine Aufgabe ist es, die Unterstützung der kulturellen Landschaft endlich auf das Level zu heben, das ihr zusteht – was jetzt nicht einfacher wird.
Sie verweisen, was Hilfen angeht, immer wieder auf den Bund. Das klingt oft wie eine Mahnung: Wir als Land haben getan, was wir konnten – jetzt müsst ihr nachlegen. Fühlen Sie sich manchmal ohnmächtig?
Überhaupt nicht. Das Land Berlin zeigt vielmehr anderen Bundesländern, was alles geht. Und wenn in Deutschland ein Kraftakt unternommen wird, für den manche kriegerische Metaphern nutzen wie „Bazooka“, dann ist es schon richtig, immer wieder darauf zu bestehen, dass der Kulturbereich nicht an den Rand gedrückt wird. Zumal er wohl mit am längsten unter dieser Krise leiden wird.
Schon in Deutschland besteht wenig Einigkeit über die Maßnahmen gegen Corona, europaweit oder global betrachtet noch weniger. Wo soll das hinführen, etwa wenn es vielleicht im Herbst zu einer zweiten Welle der Pandemie kommt?
„Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, sagte schon Camus. Argumente werden ja durch permanente Wiederholung nicht falsch und erreichen – irgendwann – die politischen Akteure. Ich bin da nicht ganz hoffnungslos.
Die Pandemie zeigt aber doch vor allem, wie jedes Land – sowohl innerhalb Deutschlands wie in Europa – weitgehend isoliert vor sich hinarbeitet, erst was den Shutdown in unterschiedlichster Ausprägung angeht und auch jetzt bei den Lockerungen.
Die Pandemie zeigt vor allem die Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt, die vom Drang nach Kapitalverwertung maßgeblich angetrieben wird. Der Druck derzeit, alles möglichst schnell wieder aufzumachen, ist zum Teil ein sozialer, zum Teil ein bildungspolitischer Druck, aber vor allem auch ein ökonomischer Druck. Sie haben ja selbst vorhin die Frage gestellt, wie lange wir es uns noch leisten können, Menschen nicht sterben zu lassen!
Sehr zugespitzt formuliert.
So oder so kann ich nur zur Kenntnis nehmen, dass die Kleinstaaterei in der EU nicht aufgehört hat und bei größeren Herausforderungen die sowie so labile Kooperation extrem auf die Probe gestellt wird. Dafür gibt es viele Gründe. Eine gesellschaftliche Gegenmacht, die herrschende Akteure dazu zwingt, viel mehr gemeinschaftlich zu denken und zu handeln, ist leider nicht in Sicht.
Gerade jetzt fehlt also das Korrektiv der Kultur, die solche Diskurse aufwirft?
Genau. Drei Ausrufezeichen.
Am Anfang der Coronakrise haben recht utopische Stimmen dominiert, etwa was das gemeinschaftliche Verhalten und Vorgehen gegen Corona betrifft. Und jetzt sind alle deprimiert, weil das nicht lange anhielt. Sehen Sie das ähnlich?
In der Pandemie wurden die Verletzlichkeiten des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses deutlich. Dass daraus automatisch folgt, dass sich alle zusammentun, um diese Verletzlichkeiten abzubauen – diese Illusion hatte ich schon damals nicht. Wer redet denn heute noch über die Beschäftigten im Gesundheitswesen?
Kaum jemand.
Und wer bedankt sich noch bei den Beschäftigen im Einzelhandel? Das scheint alles schon lange her. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass sich in der Konsequenz daraus am Tarifgefüge dieser Branchen etwas ernsthaft ändern wird. Stattdessen reden wir über 9 Milliarden Euro für die Lufthansa.
Haben wir alle den Kapitalismus doch stärker verinnerlicht als befürchtet – immerhin war diese Pandemie eine der massivsten Erschütterungen dieses Gesellschaftssystems und trotzdem folgt daraus nichts?
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber nicht aus freien Stücken“, hat Marx geschrieben. Das stimmt: Die Sozialtechniken, die wir verinnerlicht haben, haben wir nicht im luftleeren Raum entwickelt. Und nicht jeder hat eine Vierzimmerwohnung oder einen Garten oder ein Grundstück: da kann man doch keinem die Sehnsucht nach Normalität vorwerfen! Das Traurige ist, dass die politische Klasse so wenig Bereitschaft zeigt zu reflektieren.
Rot-Rot-Grün in Berlin ist auch nicht gerade als besonderer Bremser, was Corona-Lockerungen angeht, aufgefallen.
Es gibt keine Allmacht der Regierenden. Es gibt vielmehr einen massiven Druck, auch von jenen, die über einen längeren Zeitraum allein in der Krise nicht klarkommen. Ich bin als Politiker unter Druck, riskanter zu agieren, als ich es sonst tun würde. Die Folge: Wir können losgelöst für Berlin kein ganz abweichendes Krisenmanagement entwickeln. Die Erkenntnisse über die Pandemie sind zudem noch dünn. Wir bewegen uns in einem Unsicherheitskorridor, man muss manche Dinge präventiv machen, ohne genau zu wissen, ob zurecht. Aber wir versuchen besonnen zu sein.
Das bringt uns zum Anfang des Gesprächs zurück: Gibt es überhaupt ein alternatives Partykonzept?
Party hat natürlich mit Nähe zu tun, mit sich gehen lassen, mit sich fallen lassen. Und Party ist nicht, sich zuallererst eine Zehn-Punkte-Hausordnung in den Kopf zu hämmern und sie zu befolgen. Wie und ob das zusammengeht, wird man sehen müssen.
Wann ist ihr nächster Clubabend?
Ich habe die große Hoffnung, dass Impfstoff und Medikament möglichst bald da sind. Und wir dann vielleicht nicht zu einer Normalität übergehen, die schon vorher falsch war, aber zu einem Umgang, der uns viel der vermissten Dinge, gerade auch Nähe, wiedergibt.
„Möglichst bald“ heißt...
Im nächsten Jahr.
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