Berichterstattung über „Flüchtlingskrise“: Zu nah an der Politik
Eine Studie attestiert einseitige Berichterstattung über die „Flüchtlingskrise“. Es seien fast nur AkteurInnen aus der Politik zu Wort gekommen.
Was die Berichterstattung über die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 angeht, stehen die Nachrichtenmedien unter Verdacht. Die einen raunen, die Politik habe Anweisungen gegeben, wie zu berichten sei. Die anderen finden, viele Medien hätten zu viel Haltung, zu viel Agenda in ihre Berichte gepackt. JournalistInnen hätten ihre Aufgabe, neutral zu berichten, nicht erfüllt, sondern sich zu VolkspädagogInnen aufgeschwungen – was die Angesprochenen in der Regel zurückweisen.
Nun ist eine Studie bei der Otto-Brenner-Stiftung erschienen, die unter anderem genau zu diesem Ergebnis kommt. Es handelt sich um eine Inhaltsanalyse von Leitmedien in Print und Online vom Frühjahr 2015 bis zum Frühjahr 2016, die der Medienwissenschaftler Michael Haller durchgeführt hat – und die schon am Tag ihres Erscheinens für Unmut gesorgt hat (taz berichtete).
Haller und sein Team werteten 1.700 Texte zur „Flüchtlingskrise“ aus, die im untersuchten Zeitraum in den „Printleitmedien“ FAZ, SZ, Welt und Bild sowie auf den reichweitenstarken Onlineportalen focus.de, tagesschau.de und spiegel.de erschienen waren. In einer Nebenstudie analysierten die ForscherInnen den Umgang mit dem Begriff „Willkommenskultur“ in der Lokal- und Regionalpresse.
Den Texten wurden zunächst Zahlen- und Buchstabencodes zugewiesen, um sie zu quantifizieren: Welche Personengruppen traten sprechend oder handelnd auf, und wie oft? Welche Tonalität hatten die Texte, welche Stimmung vermittelten Bilder? Hatte die Autorenstimme eine distanzierte oder eine wertende, gar belehrende Haltung? Studentische Hilfskräfte kämpften sich durch das Textmaterial und trugen die entsprechenden Codes in Datenbanken ein.
„Bedeutungsarmes Hickhack“
Die Ergebnisse der Studie legen schwere Versäumnisse in der Berichterstattung nahe. Die Auswertung ergibt, dass die untersuchten Medien die „Flüchtlingskrise“ vor allem entlang von AkteurInnen aus der etablierten Politik besprachen, nicht aber auf der Ebene der Betroffenen. Zwei Drittel derjenigen, die in den untersuchten Texten zu Wort kamen oder als AkteurInnen erwähnt wurden, waren PolitikerInnen. Betroffene wie Geflüchtete, HelferInnen und andere BürgerInnen kamen dagegen kaum vor. Ihr Auftreten lag im einstelligen Prozentbereich.
„Das unablässige, in der Sache bedeutungsarme Hickhack zwischen CDU und CSU zu bearbeiten hat Journalisten besonders großen Spaß gemacht“, so Haller. Auch viele Kommentare hätten sich eher um diese politischen Ränkespiele gedreht als um die eigentlichen Probleme. „Bei dieser Art der Kommentierung werden die Leser zu Zuschauern degradiert.“
Die untersuchten Medien hätten den Themenkomplex also auf der falschen gesellschaftlichen Ebene ausgetragen, heißt es in der Studie. Dazu kommt der Vorwurf, man habe die politische Erzählung von der „Willkommenskultur“ – zumindest vor dem diskursiven Wendepunkt „Kölner Silvesternacht“ – unkritisch übernommen und sich dadurch in eine allzu große Nähe zur regierungspolitischen Linie begeben. Teile der Bevölkerung seien dadurch vom Diskurs ausgeschlossen worden.
In Diskursnischen verdrängt
In den untersuchten Lokalzeitungen sei in 83 Prozent der Berichte der Begriff „Willkommenskultur“ in einen positiven Kontext gestellt worden. Zweifelnde Stimmen seien dagegen kaum vorgekommen. So hätten sich die KritikerInnen in Diskursnischen zurückgezogen – man könnte ergänzen: „und in den Rechtspopulismus“.
Der Medienwissenschaftler Haller setzt bei seinen Untersuchungen einen bestimmten normativen Anspruch an Nachrichtenmedien voraus: dass „Journalismus ohne Vorurteile agiert und für gelingende gesellschaftliche Verständigung sorgt“. Gemessen an diesem Anspruch befindet Haller die untersuchte Berichterstattung für „dysfunktional“.
Nun sehen sich nicht alle JournalistInnen als vorurteilsfreie, neutrale BeobachterInnen oder stellen diesen Anspruch an ihre Arbeit. Gerade im Herbst 2015 distanzierten sich ReporterInnen auf Podien immer wieder von der Idee der „neutralen Berichterstattung“ und bekannten sich zu einem „Journalismus mit Haltung“.
Angesichts einer befürchteten Welle von fremdenfeindlichen und rassistischen Ressentiments und neuen Populismen wollten viele JournalistInnen mithilfe der Medien ein liberales, kosmopolitisches Gegengewicht schaffen. Folgt man den Ergebnissen der vorliegenden Studie, dann ist dieses Vorhaben nach hinten losgegangen.
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