Befreiung der Hamas-Geiseln: Ein Ding der Möglichkeit?
In einem Interview deutet Israels Premierminister Netanjahu ein Abkommen über die Freilassung der Geiseln an. Welche Deals wären denkbar?
Der militärische Arm der Hamas, die Kassam-Brigaden, hatten bereits Ende Oktober einen umfassenden Gefangenenaustausch gefordert. Im Austausch gegen alle Palästinenser*innen, die in israelischen Gefängnissen sitzen, würden alle Geiseln freigelassen. Insgesamt sind laut israelischer Strafvollzugsbehörde (IPS) 6.809 Palästinenser*innen in Israel inhaftiert. Darunter befinden sich nach Angaben von NGOs, die sich für Inhaftierte einsetzen, zum einen Militante, die wegen Attentaten und Schießereien verurteilt wurden, bei denen israelische Zivilist*innen getötet wurden. Es würden aber auch Aktivist*innen einsitzen, die gegen Siedlungen demonstriert haben, sowie Teenager, weil sie Steine auf Soldat*innen geworfen haben.
Innenpolitisch steigt für Netanjahu der Druck, sich auf einen solchen Deal einzulassen, unter anderem seitens der Geisel-Angehörigen. Erst am Wochenende demonstrierten erneut Tausende Israelis und forderten Netanjahu auf, sich für die unverzügliche Freilassung der Geiseln einzusetzen.
Der ehemalige Vermittler Gershon Baskin glaubt, der umfängliche Deal sei der einzige, den die Hamas in Betracht zöge. 2011 war Baskin an Verhandlungen mit der Hamas zur Freilassung des Soldaten Gilad Schalid beteiligt, im Austausch gegen 1.027 palästinensische Gefangene. Unter den Freigelassenen war damals auch Jahia Sinwar, der 2017 zum Anführer der Hamas in Gaza wurde. Weil an dem Angriff vom 7. Oktober auch militante Palästinenser*innen beteiligt waren, die 2011 freigelassen worden waren, lehnt ein Teil der Angehörigen der Geiseln auch jeden Gefangenenaustausch ab, an dem auch Hamas-Mitglieder beteiligt wären.
Zustimmung für kompletten Gefangenenaustausch
In Israel haben sich auch einige ehemalige hochrangige Amtsträger für den kompletten Austausch ausgesprochen. Darunter sind Schaul Mofas, Ex-Verteidigungsminister und Ex-Generalstabschef, Dan Halutz, Ex-Generalstabschef, und Giora Eiland, Ex-Leiter des Nationalen Sicherheitsrats. Freigelassene Hamas-Mitglieder könne sich Israel zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückholen, argumentierten sie.
Wie viele Hamas-Mitglieder, Kämpfer und Sympathisant*innen genau in israelischen Gefängnissen sitzen, ist unklar. Vor Beginn des Krieges sollen von insgesamt 5.200 Inhaftierten, die meisten der Fatah-Bewegung angehört haben. Etwa 20 bis 30 Prozent seien Hamas-Gefangene und mehrere Hundert seien Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Dschihad, berichtete die israelische Zeitung YNet.
Die Hamas könnte auch nur einige der Geiseln freilassen, im Gegenzug zu kurzen Kampfpausen. Israel hatte letzte Woche vierstündigen Waffenpausen pro Tag zugestimmt, damit humanitäre Hilfe nach Gaza geliefert werden kann. US-Präsident Joe Biden fordert dagegen eine längere Waffenruhe, um in der Zeit einen Deal aushandeln zu können. Dies lehnt Netanjahu bislang ab: „Es wird keinen Waffenstillstand ohne die Rückkehr unserer Geiseln geben“, sagte er am Samstag.
Die drei großen israelischen TV-Nachrichtensender berichteten derweil ohne Nennung von Quellen, dass es Fortschritte in Richtung einer Einigung gegeben habe. Laut N12 News umfasse ein Deal, der diskutiert wird, die schrittweise Freilassung von 50 bis 100 Frauen, Kindern und älteren Menschen während einer drei- bis fünftägigen Kampfpause. Den Berichten zufolge würde Israel Frauen und minderjährige Gefangene freilassen und erwägen, Treibstoff nach Gaza zu lassen, sich aber das Recht vorbehalten, die Kämpfe wieder aufzunehmen.
500 bis 700 palästinensische Kinder hält Israel in Haft
Welche Gefangenen freigelassen werden, darüber halten sich die Verhandlungspartner bedeckt. Es könnte aber eine Vielzahl an Menschen geben, die ohne größere Sicherheitsbedenken freigelassen werden könnten. So sind mehr als tausend Palästinenser*innen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. Laut der israelischen Organisationen BTselem sei das eine Präventivmaßnahme „mit der Begründung, dass die Person plant, in Zukunft gegen das Gesetz zu verstoßen“. Weder die Gefangenen noch ihre Anwält*innen würden die Vorwürfe kennen. Zwar verwaltet die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Städte und Gemeinden im von Israel seit 1967 besetzten Westjordanland und ist für die reguläre Strafverfolgung zuständig – allerdings hat Israel nur begrenzte Autonomie gewährt.
Am 1. Oktober, also vor der jüngsten Eskalation, waren laut der Menschenrechtsgruppe HaMoked 1.319 „Sicherheitshäftlinge“ in „Verwaltungshaft“ gewesen – laut Amnesty International die höchste Zahl seit 20 Jahren. Mit dem Krieg sei die Zahl gestiegen: Vergangenen Monat hätten die Behörden weitere Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland in „Verwaltungshaft“ genommen: Zum 1. November seien es insgesamt 2.070 gewesen.
Wenn es einen Prozess gibt, findet dieser häufig vor israelischen Militärgerichten statt: Insgesamt verbüßten 2.313 Gefangene ihre Strafe nach Verurteilungen durch Militärgerichte, berichtet HaMoked unter Berufung auf die Strafvollzugsbehörde IPS. Siedler*innen im Westjordanland dagegen kommen vor zivile Gerichte. Praktisch alle Fälle, die vor den Militärgerichten im Westjordanland verhandelt werden, enden mit einer Verurteilung. Menschenrechtsorganisationen sowie die UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den besetzten Gebieten, Francesca Albanese, sprechen von fast 100 Prozent.
Auch palästinensische Kinder könnten womöglich freigelassen werden; 500 bis 700 werden jedes Jahr durchschnittlich von den israelischen Besatzungstruppen festgenommen. Dies geht aus einem Bericht der UN-Berichterstatterin Albanese vom 20. Oktober hervor. Der Hauptgrund für die Verhaftungen ist laut Save the Children das Werfen von Steinen, „was eine Gefängnisstrafe von zwanzig Jahren zur Folge haben kann“.
Hedi Viterbo, Dozent für Recht an der Queen Mary University in London, der Hunderte von Militärgerichtsverfahren über palästinensische Kinder analysiert hat, schrieb auf X, früher Twitter: „Keiner dieser Fälle endete mit einem Freispruch. Die durchschnittliche Gefängnisstrafe betrug fast 8 Monate (und viele waren natürlich länger).“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin