Ausstellung über Reichsbahner: Retter auf Schienen
Das Deutsche Technikmuseum widmet einem Arbeiter der Reichsbahn eine Sonderausstellung. Im Holocaust hatte er zwei Jüdinnen gerettet.
Die ist eine ganz kleine Geschichte. In ihr geht es im Kern nämlich nur um drei Menschen. Dies ist aber auch eine sehr große Geschichte. Denn der eine Mensch, Fritz Kittel mit Namen, hat die beiden anderen vor dem Tod gerettet.
Deutsches Technikmuseum Berlin, im Lokschuppen Nummer 2. Links steht ein gedeckter Güterwagen, gebaut ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts. In solchen Waggons wurden Jüdinnen und Juden aus halb Europa in die Vernichtungslager der Nazis deportiert. Die Reichsbahn verlangte dafür für jeden Insassen den ermäßigten Tarif für Sonderzüge. Der Wagen erinnert an die Beteiligung der Bahn am Holocaust.
Rechts befindet sich ein auf Hochglanz polierter roter Schienenbus aus den 1950ern, ein „Retter der Nebenbahnen“, wie er genannt wurde. Das 150 Pferdestärken starke Fahrzeug steht für den Neubeginn und das westdeutsche Wirtschaftswunder. Dazwischen ist das Gleis frei geräumt, macht einer großen weißen Tafel Platz, die quer zu den Schienen steht. Hier erzählt Esther Dischereit die Geschichte der drei Menschen. Es ist eine sehr persönliche Geschichte.
Mitverantwortung der Bahn
Zwei der drei Menschen, Hella und Hannelore Zacharias, sind nämlich die Mutter und die Schwester von Dischereit. Die jüdische Schriftstellerin hat nachgefragt, wie ihre Verwandten eigentlich den Holocaust überleben konnten, wer ihnen geholfen hat. Sie hat die Deutsche Bahn eingeschaltet, die lange nichts von ihrer Mitverantwortung für den Massenmord wissen wollte. Jetzt nicht mehr. Die Bahn hat bei den Recherchen geholfen, ihr Chef Richard Lutz war bei der Eröffnung der kleinen Ausstellung im Lokschuppen dabei.
„Wer war Fritz Kittel. Ein Reichsbahnmitarbeiter entscheidet sich. Zwei Familien 1933–2022“: Deutsches Technikmuseum Berlin, bis zum 30. April 2023
Esther Dischereit stieß bei ihren Untersuchungen auf einen Arbeiter bei der Deutschen Reichsbahn. Von Fritz Kittel war in der Familie immer einmal wieder die Rede gewesen. Aber wer war dieser Mann? Sie beschloss, seine Verwandten zu besuchen. Die hatten keine Ahnung von der lebensgefährlichen Rettungsaktion ihres Vaters und Großvaters. „Er hat nie etwas gesagt“, heißt es von ihnen in einem kurzen Film, der die Begegnung der Nachfahren von Geretteten und Retter zeigt.
Kittel war weder Mitglied der NSDAP noch der SA oder der SS. Nach allem, was man weiß, gehörte er auch keiner Widerstandsgruppe an. Hella und Hannelore Zacharias hatte er zuvor nicht gekannt. Aber er hat gehandelt. Warum genau? Man weiß es nicht. In zwei Schränken kann man die Schubladen aufziehen, darin sind Bilder und Dokumente. Fritz Kittel lebte 1944 in Sorau in der Niederlausitz, dem heute polnischen Żary.
Im Kreis fahrend
Mutter und Tochter Zacharias kamen aus Berlin. Sie waren 1942 nach Beginn der Deportationen im Osten untergetaucht, hatten Versteck und Versteck gewechselt, denunziert, auf der Flucht, mit der Eisenbahn im Kreis fahrend. In einer Schublade sieht man die Meldebescheinigung. Fritz Kittel gibt darin 1944 an, Hella und Hannelore seien seine Ehefrau und ihr gemeinsames Kind. Sie durften bei ihm wohnen, mussten aber vorsichtig sein. In einem Kurzfilm erinnert sich Hannelore daran, dass sie in Sorau in die Schule gehen durfte, und am Sonntag sogar in die Kirche. Bloß nicht auffallen, lautete die Devise.
Als sich die Rote Armee 1945 Sorau näherte, überzeugte Fritz seine Schutzbefohlenen davon, mit ihm nach Westen zu fliehen. Sie erreichten mit dem letzten Zug aus dem Osten das hessische Heringen an der Werra. Fritz Kittel arbeitete wieder als Ladeschaffner bei der Bahn. Hella Zacharias aber erhielt am 23. März 1945 einen Personalausweis der Deutschen Reichsbahn. Ihr Name darauf lautet Hella Kittel.
Eine Woche später, am 1. April, rückten Truppen der US-Armee in Heringen ein. Der Zweite Weltkrieg war beendet, Hella und Hannelore befreit. Die Verbindungen zwischen ihnen und Fritz Kittel rissen jedoch später ab.
Es gibt in der Ausstellung noch einen dritten Schrank. Er zeigt die andere Seite. Es gab nicht viele Kittels unter den Reichsbahnern. Man kann den Brief eines Denunzianten lesen, der einen anderen Kollegen als angeblichen Juden verpfeift. Ausgestellt ist die Anklageschrift gegen Albert Ganzenmüller, einem hohen Bahnbeamten, der an der Deportation von Jüdinnen und Juden in den Tod mitwirkte. Der Beschuldigte ist nie dafür verurteilt worden, galt 1973 als verhandlungsunfähig. Und da findet sich eine Erinnerung an Paul Levy, Reichsbahndirektor, 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen, 1943 im KZ Auschwitz ermordet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland