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Aussetzung der Hartz-IV-SanktionenGroßversuch für ein Jahr

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Hartz-IV-Sanktionen werden ausgesetzt. Das bietet eine Chance, die Sinnhaftigkeit des Systems zu überprüfen.

Foto: Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

E s ist ein unfreiwilliger Großversuch, über dessen Ergebnisse man in einem Jahr mehr wissen wird: Die Sanktionen wegen Pflichtverletzungen, also die Möglichkeit, einer Hartz-IV-Empfänger:in 30 Prozent (rund 135 Euro im Monat) vom Regelsatz zu kürzen, wenn sie oder er einen Job oder eine zumutbare Beschäftigungsmaßnahme ablehnt, sind für ein Jahr ausgesetzt. Das entsprechende Gesetz wurde am Donnerstag verabschiedet. Nur 10 Prozent vom Regelsatz, also 45 Euro, können dann gekürzt werden, wenn jemand beim Jobcenter gar nicht mehr auftaucht.

Interessanterweise wurde in den Gesetzestext aber auch gleich hineingeschrieben, dass die Sanktion mit Einführung des sogenannten Bürgergeldes, also voraussichtlich im Sommer 2023, wiedereingeführt wird. Es handelt sich also nur um eine begrenzte Auszeit und nicht etwa um die dauerhafte Abschaffung der Sanktionen.

Nach einem Jahr wird man wissen, ob im genannten Zeitraum tatsächlich, wie von Kri­ti­ke­r:in­nen befürchtet, Hunderttausende die Hartz-IV-Leistung in Anspruch genommen, dabei den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen und jede Maßnahme abgelehnt haben werden. Wobei man dann auch gleich evaluieren kann, welche Maßnahmen genau verweigert wurden – etwa die vielen unsinnigen Bewerbungstrainings?

Das Ergebnis wird vermutlich undramatisch

Jobcenter-Mitarbeiter:innen kommentieren das neue Gesetz im persönlichen Gespräch sehr unterschiedlich: Die einen fürchten, nun gar keine Einwirkungsmöglichkeit mehr zu haben bei Hartz-IV-Empfänger:innen, die anderen sehen die Aussetzung als Chance, aus der Rolle des Buhmanns herauszukommen, der Langzeitarbeitslose unter Druck setzt und nicht unterstützt.

Womöglich wird das Ergebnis des Großversuchs relativ undramatisch sein. Es könnte sein, dass die Zahl der Hartz-IV-Empfänger:innen zunimmt, die zwar auf Aufforderung zum Jobcenter kommen, dann aber die angebotene Maßnahme oder den angebotenen Job ablehnen und dies auch begründen können. Vielleicht haben die Hil­fe­emp­fän­ge­r:in­nen dann aber mehr Möglichkeiten, eigene Vorstellungen einzubringen darüber, welche Weiterbildung sie gerne machen würden, womit sie sich gerne beschäftigen würden, auch wenn die wirtschaftlichen Aussichten dieser Wunschtätigkeiten erst mal nicht umwerfend sind.

Am Ende des Moratoriums zeichnet sich womöglich ein sehr differenziertes Bild. Und das Klischee, dass die Aussetzung der Sanktionen Hunderttausende von schwarzarbeitenden Leis­tungs­emp­fän­ge­r:in­nen produziere, die steuerzahlende Ar­beit­neh­me­r:in­nen ausnutzen, wird ins neoliberale Märchenreich befördert. Das wäre ein gutes Ergebnis.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
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9 Kommentare

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  • Die Linke bringt einen Änderungsantrag ein, nach dem die Sanktionen komplett abgeschafft würden, aber alle anderen Fraktionen stimmen dagegen. Völlig irre ...

    • @h4nsel:

      Das war eigentlich eine Antwort an Soda.

  • Im besten Fall werden die Sanktionen damit auch 2023 doch wegfallen. Schließlich wird das Ergebnis in der Tat sein, dass die Sanktionen im Durchschnitts bewirken, außer die Atmosphäre zwischen Klient:innen und Mitabeiter:innen der Arbeitsagentur zu belasten.

  • „Am Ende des Moratoriums zeichnet sich womöglich ein sehr differenziertes Bild“

    Es wird bei diesem Großversuch auch sehr auf Beobachtungen ankommen, wer mit welchem Erkenntnissinteresse was unter welchen Fragestellungen wiss. empirisch untersuchen wird.



    In dem im Artikel genannten, nun beschlossenen „Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch“ heißt es unter „Begründung, A. Allgemeiner Teil“: Die Untersuchung der Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nach § 55 Absatz 1 SGB II gesetzlich normiert und ständige Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit. Eines gesonderten Evaluationsauftrages bedarf es für die Rechtsänderungen in Artikel 1 daher in diesem Gesetz nicht.“

    dserver.bundestag....20/014/2001413.pdf

    Der Gesetzgeber sieht hier zwar keinen „gesonderten Evaluierungsbedarf“. Ein sozusagen „allgemeiner“ besteht aber. Darauf verweist wie im Gesetzentwurf genannt der § 55 SGB II. Dort:



    „§ 55 Absatz 1 SGB II. (1) Die Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sind regelmäßig und zeitnah zu untersuchen und in die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nach § 282 des Dritten Buches einzubeziehen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Bundesagentur können in Vereinbarungen Einzelheiten der Wirkungsforschung festlegen. Soweit zweckmäßig, können Dritte mit der Wirkungsforschung beauftragt werden.“

    www.gesetze-im-int...de/sgb_2/__55.html

    Nach § 282 SGB III ist mit dieser Wirkungsforschung das (unabhängige) Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB beauftragt. Im Paragraphen heißt es: „(2) Die Untersuchung der Wirkungen der Arbeitsförderung ist ein Schwerpunkt der Arbeitsmarktforschung. Sie soll zeitnah erfolgen und ist ständige Aufgabe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.“

    www.gesetze-im-internet.de/sgb_3/__

  • Und die Linke enthält sich im Bundestag. Völlig irre...

  • Die H4 Sanktionen sind sowieso sinnlos. Wir haben Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel in vielen Branchen. Die Zahl der H4 Bezieher geht seit Jahren zurück trotz externer Effekte wie 2015. Wer arbeiten kann, findet auch ohne Sanktionen momentan leicht einen Job. Bei den restlichen Beziehern von H4 sind die Sanktionen dann doch nur noch Schikane. Da kann der Verwaltungsaufwand gleich ganz gespart werden.

    • @Šarru-kīnu:

      Wie kommen Sie denn zu der Behauptung, es herrsche Vollbeschäftigung?

      Offizielle Arbeitslosigkeit im März 2021: 2.827.449

      Nicht gezählte Arbeitslose verbergen sich u.a. hinter:

      Älter als 58, beziehen Arbeitslosengeld II: 169.042



      Ein-Euro-Jobs (Arbeitsgelegenheiten): 48.818



      Förderung von Arbeitsverhältnissen: 35



      Fremdförderung: 116.444



      Teilhabe am Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II): 42.348



      berufliche Weiterbildung: 162.248



      Aktivierung und berufliche Eingliederung (z. B. Vermittlung durch Dritte): 177.052



      Beschäftigungszuschuss (für schwer vermittelbare Arbeitslose): 1.319



      Kranke Arbeitslose (§146 SGB III): 60.967

      Nicht gezählte Arbeitslose gesamt: 778.273

      Tatsächliche Arbeitslosigkeit im März 2021: 3.605.722

      Macht eine tatsächliche Arbeitslosenquote von 7,78 %!

      Das in BWL und VWL gern verwendete "politische Schlagwort" (Wikipedia) Vollbeschäftigung geht in den meisten Fällen von einer Quote bis 2% aus.

      Auch der politische Kampfbegriff des Fachkräftemangels muss aus meiner Sicht (für jede Branche einzeln) kritisch hinterfragt werden.

      Bei der Abschaffung der Sanktionen bin ich aber ganz bei Ihnen!

  • Großversuch für ein Jahr - ach so!



    Wer nach einem Jahr immer noch nicht spurt, bekommt die Peitsche.

    Welche Situation haben wir in Deutschland. Jede Menge Stellen fehlen und damit meine ich nicht Ärzte und Ingenieure.



    An Geld kann es nicht liegen, denn es wurden ja einfach mal 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr locker gemacht. Auch fließen die Milliarden ja nur so ins Ausland.



    Also wie wäre es, wenn man all die Flüchtlinge und Harzt-IV-Empfänger ernsthaft mal qualifizieren würde? Das kostet etwas Geld. Mit sog. "Trainingsmaßnahmen" ist das nicht zu schaffen - das ist v.a. rausgeschmissenes Geld.

    Vielleicht sollte man die Behörde abschaffen, die ja offensichtlich nichts taugt?

  • Ich bin gespannt, und ich finde es so gut..!



    Bin selber vor vielen Jahren Opfer der damals noch namigen ARGE geworden. Wobei ich mich an alle Spielregeln gehalten habe, war ich im Würgegriff dieser Behörde. Weil meine KdU zu hoch waren, nötigte man mich zu meiner Mama zurück zu ziehen, in der Hoffnung, mir keine KdU mehr zahlen zu müssen, sondern nur noch den RS. Das war eine Falle- das Jobcenter wertete uns dann als Bedarfsgemeinschaft und hat mir H4 gestrichen- meine Mama verdiene angelich zuviel. Da stand ich ohne RS und Krankenversicherung. Das ist Willkür und gehört verboten. Schikane um Geld zu sparen.