Ampel kippt Hartz-IV-Sanktionen: Jobcenter sollen netter werden
Die Hartz-IV-Sanktionen wegen Pflichtverletzungen fallen bis Mitte 2023 weg. Nur noch Kürzungen von zehn Prozent sind künftig möglich.
Berlin taz | Jetzt ist es beschlossen: Bis Mitte des Jahres 2023 können die Jobcenter bei Empfänger:innen von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) keine 30 Prozent vom Regelsatz mehr kürzen, wenn die Arbeitslosen etwa ein Jobangebot oder eine Beschäftigungsmaßnahme ablehnen oder diese abbrechen. Am Donnerstag verabschiedete der Bundestag nach einer heftigen Debatte ein entsprechendes Gesetz, das die Sanktionen bei sogenannten Pflichtverletzungen für ein Jahr aussetzt.
Kürzungen wegen sogenannter Meldeversäumnisse um zehn Prozent vom Regelsatz, also um rund 45 Euro im Monat, bleiben aber bestehen. Diese Minderungen sind möglich bei einem laut Gesetz „wiederholten Meldeversäumnis“, also wenn eine Leistungsempfänger:in zum zweitenmal nicht zu einer Einladung im Jobcenter erscheint. Die Kürzung wegen Meldeversäumnissen ist aber auf zehn Prozent des Regelbedarfs „begrenzt“ heißt es im Gesetzestext.
Bei „Pflichtverletzungen“ war bisher eine Kürzung des Regelsatzes um 30 Prozent, also um 135 Euro im Monat möglich. Die Aussetzung dieser hohen Minderung wird im Gesetz als „Zwischenschritt“ bis zu einer „gesetzlichen Neuregelung“ der Hartz IV-Leistungen im künftigen „Bürgergeld“ bezeichnet.
Dem Beschluss für ein einjähriges Sanktionsmoratorium ging eine heftige politische Debatte voraus. Der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker erklärte am Donnerstag im Bundestag, mit dem Sanktionsmoratorium lege die Bundesregierung die „Axt an die Grundlagen des Sozialstaates“. Es sei arbeitenden Menschen nicht zu vermitteln, dass Arbeitnehmer Abmahnungen akzeptieren müssten, aber den Leistungsempfängern bei Pflichtverletzungen keine Sanktionen drohten. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ werde mit dem Gesetz „beerdigt“.
Geteilte Meinungen
Der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Frank Bsirske, verteidigte das Moratorium und wies daraufhin, dass Leistungsempfänger:innen bisher in jedem Schriftstück vom Jobcenter die schriftliche „Drohung“ von Sanktionen erhielten. Der Linken geht das Moratorium nicht weit genug, da Meldeversäumnisse weiterhin mit zehn Prozent Abzug sanktioniert werden können.
Unter Praktiker:innen in den Jobcentern sind die Meinungen geteilt. Mitarbeiter:innen von Jobcentern sind nicht offiziell autorisiert, mit der Presse zu reden und können daher nicht namentlich zitiert werden. „Die Zeit des Moratoriums kann man auch als großes Experiment begreifen“, sagte eine Vermittlerin in einem Jobcenter einer hessischen Großstadt der taz.
Man könne in den nächsten Monaten sehen, welche Leistungsempfänger:innen dann tatsächlich nicht mehr kommen und Maßnahmen nicht beginnen, obwohl das Jobcenter sie dazu aufgefordert hat. Allerdings sei auch die weiterbestehende mögliche Kürzung um zehn Prozent durchaus spürbar für die Betroffenen, so die Vermittlerin.
Das Moratorium sei auch eine Chance für einen „Rollenwechsel“ der Fallmanager:innen, weil diese dann von den Leistungsempfänger:innen nicht mehr als Disziplinierende, sondern als Unterstützende empfunden werden, sagte die Vermittlerin der taz. Womöglich gebe es einen Anteil von Empfänger:innen, die das Moratorium ausnutzten, um jeden Kontakt zum Jobcenter abzubrechen. Dieser Anteil werde aber wohl nicht sehr hoch sein, meinte die Vermittlerin.
Sanktionen kommen wieder
In der Süddeutschen Zeitung war hingegen eine Jobberaterin zitiert worden, die das Aussetzen der Sanktionen als „Katastrophe“ bezeichnete. Dann würden die Hartz-Empfänger:innen den Mitarbeiter:innen „auf dem Kopf herumtanzen“.
Andere Mitarbeiter:innen der Jobcenter weisen aber daraufhin, dass es jetzt schon Möglichkeiten gebe, unliebsame Maßnahmen gar nicht erst anzutreten, ohne dass es zu Sanktionen kommt. „Die Leute können sich krankschreiben lassen“, sagt eine Fallmanagerin.
Im vergangenen Jahr mussten rund 3,1 Prozent der Leistungsberechtigten mit mindestens einer Sanktion belegt werden, so die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Die Hälfte der Sanktionen waren dabei Meldeversäumnisse, die andere Hälfte Pflichtverletzungen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat angekündigt, einen Gesetzentwurf für das geplante Bürgergeld in diesem Sommer vorlegen zu wollen. Im nun verabschiedeten Gesetzentwurf zum Sanktionsmoratorium wird bereits angekündigt, dass die Neuregelung zum Bürgergeld beinhalten soll, dass „Leistungsminderungen bis zu 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs möglich sind, bei Härtefällen sollen Sachleistungen bis zu einem bestimmten Anteil gewährt werden“. Die Sanktionen kommen also wieder.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, hatte erklärt, wenn Sanktionen jetzt bis zum Sommer 2023 ausgesetzt und mit der Einführung des geplanten Bürgergeldes wieder eingeführt werden, sorge das für „Ärger und Unsicherheit“.
Leser*innenkommentare
93851 (Profil gelöscht)
Gast
"...weil diese dann von den Leistungsempfänger:innen nicht mehr als Disziplinierende, sondern als Unterstützende empfunden werden."
Selten so einen Schwachsinn gehört!
Die Zeiten, in denen noch ein:e
persönlicher Berater:in höchstpersönlich für sämtliche Anliegen arbeitsloser Menschen — unterstützend— tätig war, sind seit HartzIV längst vorbei!
Heute werden Aktenberge von verschiedensten Zuständigen durch die Gegend getragen. Oft weiß eine Hand nichts, was die andere tut, weitgehende Anonymisierung, Arbeitslose fühlen sich häufig nurmehr "Nummer" denn als alles andere.
Wer angesichts der oftmals schlechten Arbeitsmarktlage noch "Vertrauen in solche Ämter" postuliert, von "Unterstützung" spricht, der hat die Kontrollfunktion absolut nicht begriffen.
Als ob ein HartzIV-Satz ein "Vermögen"wäre... Am besten mal nachfragen, welche zuständigen Politiker für die nächsten vier Jahre ihre saftigen Diäten mit Arbeitslosigkeit für HartzIV tauschen möchten!
Es dürften nicht wenige sein, die bei dem Gedanken allein schon "eine dicke Halskrause" kriegen oder fast in Ohnmacht fielen, weil ohne dicke "Polit-Laber-Luft" – so gar nichts mehr geht...
Wieviel Politiker dürften denn dann eigentlich nur 10% ihrer Diäten kassieren, weil sie heute hüh, morgen hott sagen, wild-wüst unsachgemäß mit Steuergeldern um sich schmeißen o.ä., nur mal dumm nachgefragt...?
Arbeitslose haben keine Lobby, Politiker hingegen schon, oder was sagt uns der Beamtenstatus in vielen Etagen ?
Mal schön bei der Realität bleiben! Ein Herr Scheuer oder Spahn haben wohl mehr Steuergelder verjubelt, als alle Arbeitslosen zusammen, die in mehreren Jahren als sog. "Schwarze Schafe" enttarnt wurden oder werden würden...
Was bitte sagt das kleine Rechenmaschinchen?
tomás zerolo
@NZULI SANA
Solange Sie das Spektrum nicht erleiden müssen, is' ja gut für Sie.
Und was gut für Sie ist, ist gut.
Für Sie.
2284 (Profil gelöscht)
Gast
"Es sei arbeitenden Menschen nicht zu vermitteln, dass Arbeitnehmer Abmahnungen akzeptieren müssten, aber den Leistungsempfängern bei Pflichtverletzungen keine Sanktionen drohten"
Ich nehme an, dann ist der dafür, allen Abgeordneten und Lokalpolitiker*innen, die durch windige Maskendeals, fragwürdige Datenweitergabe an private Unternehmen, furchtbare Vertragsabschlüsse, die den Fiskus Millionnen kosten und sonstige der Selbstbereicherung höchst verdächtigen Tätigkeiten auffallen, auch mal die Diäten zu sanktionieren.
Wie dem arbeitenden Menschen zu erklären ist, dass Andi Scheuer Steuergelder in Millionenhöhe verbrät, weil er, im für ihn schmeichelhaftesten Falle, zu dumm ist, nen Vertrag zu lesen, und danach ernsthaft noch im Amt bleiben durfte, ist mir nämlich auch schleierhaft.
Was die CDU die Steurzahlenden schon gekostet hat, kannste mit Hartz 4 in Hunderten von Leben nicht reinholen.
Ausgenommenn vielleicht du mietest Spahns Villa und bekommst die vollen Mietkosten erstattet. Aber selbst dann würd das denke ich mal ganz schön dauern.
adagiobarber
die mitarbeiter sollten buttons ...
tragen :
'ihr nettes jobcenter begrüßt sie'
Bolzkopf
Es wird allerhöchste Zeit mit der Mähr aufzuräumen, das Jobcenter würde Arbeitsplätze vermitteln oder gar schaffen.
Sie tut Arbeitslose verwalten und schikanieren, Statistiken schönen und nach oben "grün" melden.
Und nicht zu vergessen: Dubiose "Bildungsanbieter" fett füttern.
Würde man die ganze Bagage zur Steuerfahndung versetzen kämen viele Millionen Euro mehr ins Staatssäckel als die Arbeitslosen [die ja in eine Zwangsversicherung einzahlen!) je kosten würden.
nzuli sana
Guten Tag Frau Dribbusch,
es geht um soziale Rechte, in einer kollektiven Sozialversicherung und nicht um Nettigkeiten.
Diese Korrekturen sind überfällig.
Sie schreiben "...mussten mit mindestens einer Sanktion belegt werden".
Sind Sie der Meinung, dass die Verlierer/innen im Leistungskampf kontrolliert und bestraft werden sollen?
Ich sehe durchaus das breite Spektrum an Beratung, Coaching und Förderungen.
nutzer
mussten rund 3,1 Prozent der Leistungsberechtigten mit mindestens einer Sanktion belegt werden, ...Die Hälfte der Sanktionen waren dabei Meldeversäumnisse, die andere Hälfte Pflichtverletzungen.
also 1,55 % der Empfänger haben Pflichten nicht wahrgenommen, 1,55%
worüber redet dieses Land überhaupt? Das ist nichts!
Die anderen 1,55%, die die sinnlose Termine verbummelt haben, dürften gar nicht mitgezählt werden...
John Farson
@nutzer 3 % sind immerhin noch fast 100.000 Menschen.
Gerald Stolten
Ein wahrhaft christliches Menschenbild, mit schwarzer Pädagogik Menschen in Sklavenjobs oder völlig unsinnige Massnahme zu zwingen, anstatt das viele Geld in sinnvolle Fort-/ Ausbildungen zu investieren.
-Aber das würde ja ein humanistisches Menschenbild voraussetzen...
Wie sagte schon Mao:"Bestrafe Einen, erziehe Tausende !"
-Nur so funktioniert der Billiglohnsektor, auf den Putins Toyboy so stolz ist.
Nina Janovich
Die Jobcenter und alle ihre Mitarbeiter:innen brauchen ein Neuverständnis. Es gibt keine andere Behörde in Deutschland, die ein derart ausgefeiltes System von Unfreundlichkeit und Unfähigkeit pflegt und Systemimmanent und gewollt Ratsuchende herablassend, oft auch mit unverschämter Respektlosigkeit behandeln. In diesem System werden neue, engagierte Mitarbeiter:innen gezwungen sich anzupassen (Vermittlungsquote in egal was, wie vollkommen unsinnige, unpassende, oft unseriöse Weiterbildungen oder in unterbezahlte Jobs mit besonders schlechten Arbeitsbedingungen und wer nicht so und so viele Sanktionen pro Monat ausspricht, macht sich bereits verdächtig nicht "richtig" zu arbeiten etc.). Statt über weniger Zwangsmittel zu jammern, müssen die Jobcenter entweder zu professionellen Beratungs- und Dienstleistungsanbietern werden die tatsächlich in passende Arbeitsplätze, Ausbildungen und seriöse Weiterbildungen vermitteln oder sollten dieses Feld lieber aufgeben und privaten Initiativen überlassen, die diesen Job gelernt haben und ernst nehmen. Denn das jetzige Angebot der Jobcenter hilft alleine unseriösen Weiterbildungsanbietern, die sich im Dunstkreis um die Jobcenter gegründet haben und Fördergelder abgreifen, sowie Arbeitgebern die besonders wenig bezahlen, besonders schlechte Arbeitsbedingungen bieten. Sie profitieren von den bisherigen Zwangsmaßnahmen ohne die kein Mensch bei ihnen arbeiten oder lernen wollen würde.
tomás zerolo
"Axt an die Grundlagen des Sozialstaates"
So 1 -öh- CDUler.
So 1 Pimmel
@tomás zerolo Darf man das nicht mehr sagen? ;o)