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Haben einen Traum vom gemeinsamen Haus: Maximilian Schorer, Franziska Falterer und Alexandra Zagler (v. l.) Foto: Thomas Dashuber

Augsburger WohnprojektSchritt für Schritt ins Paradies

18 Menschen, eine Idee: Sie wollen zusammen ein Haus kaufen und auf Dauer bezahlbar wohnen. Doch wie macht man das? Man braucht Gönner:innen, Gemeinsinn – und viel Geduld.

Von David Honold aus Augsburg

D ie Tür steht offen im „Pa*radieschen“. Ein Sonntag im März, es ist kalt. Die Heizungen funktionieren nicht. Gießkannen stehen vor den Toiletten, denn es fließt noch kein Wasser. Fast alle Räume stehen leer. Es ist ein großes Haus im bürgerlichen Stadtteil Pfersee in Augsburg, erbaut 1900. Die Fliesen im Treppenhaus bröckeln von der Wand, die Blumentapeten in den Zimmern erinnern an eine andere Zeit. Eine in die Jahre gekommene Bruchbude, könnte man sagen. Oder?

Die junge Frau, die durch das Haus führt, heißt Franziska Falterer. Die 28-Jährige trägt einen kurzen Pony, Piercings, lächelt herzlich. Es ist Besucher:innen-Tag im Wohnprojekt. Im Wohnzimmer soll es ein Konzert geben, gerade werden dort die Mikrofone überprüft. Sieben Wohnungen hat das Haus und insgesamt 27 Zimmer. Mit zehn anderen Mit­strei­te­r:in­nen hat Falterer das Gebäude gekauft, um abseits des überlasteten Wohnungsmarktes etwas Neues zu schaffen, etwas Bezahlbares, etwas Gemeinschaftliches. „Pa*radieschen“ nennen sie es.

Was klingt wie eine Utopie, ist ein Projekt, das schon vielfach umgesetzt wurde. Über 190 autonome Hausprojekte gibt es deutschlandweit in dem Verbund des Mietshäuser Syndikats, einer 1992 in Freiburg gegründeten Organisation, die den gemeinschaftlichen Kauf von Häusern ermöglicht und unterstützt. Doch der Weg zu jedem einzelnen davon ist gepflastert mit finanziellen, bürokratischen und zwischenmenschlichen Hürden: Ein Haus kaufen ohne Eigenkapital? Auflagen erfüllen, um ein ökologisches Effizienzhaus zu werden? Und wie gestaltet man einen jahrelangen Aushandlungsprozess unter Gleichgesinnten, der wohl eines der persönlichsten aller Themen – das Wohnen – betrifft?

Nicht alle Projekte können am Ende umgesetzt werden, sie scheitern unterwegs, hinterlassen enttäuschte Vi­sio­nä­r:in­nen und weiter unbewohnte Immobilien. Das Pa*­ra­dies­chen aber ist auf einem guten Weg, dass der Traum Wirklichkeit wird. Wie haben die künftigen Be­woh­ne­r:in­nen es so weit geschafft und was steht ihnen noch bevor?

Falterer setzt sich nach der kurzen Führung auf einen Baumstumpf im verwilderten Garten, nimmt einen Schluck aus ihrer Club Mate, legt ihre Schiebermütze zur Seite und beginnt zu erzählen.

Ein Teil der Gruppe wurde vor einigen Jahren entmietet

Schon 2017 hatten sich einige Augs­bur­ge­r:in­nen zusammengefunden, die an einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt interessiert waren. Doch erst fünf Jahre später wurde von einem Teil der heutigen Gruppe ein Verein gegründet, das „Pa*radieschen“. Menschen aus dem links-grünen Spektrum bilden den Hausverein, darunter eine dreiköpfige Familie mit Kleinkind, Hobby-Musiker:innen mit Punkband und Falterer, die Stadtforschung studiert hat und nun als Selbstständige Bildungsarbeit anbietet.

Hier sollen 18 Menschen leben, wo zuvor nur eine einzige ältere Dame wohnte Foto: Thomas Dashuber

Auch die alleinerziehende Mutter Alexandra Zagler und ihr 9-jähriger Sohn werden künftig Be­woh­ne­r:in­nen sein. „Ich wollte nicht mehr alleine wohnen und habe mich über Mehrgenerationenhäuser informiert. Dann bin ich bei einer Infoveranstaltung von Pa*ra­dies­chen gelandet“, erzählt sie. Ihr gehe es darum, dass ihr Sohn andere erwachsene Bezugspersonen bekommt: „Zusammen spielen, zusammen kochen – und das nicht nur immer mit der langweiligen Mama.“ Hilfe beim Einkaufen, ein offenes Ohr in Krankheitsphasen oder endlich abends mal wieder ausgehen, wenn das Kind in guter Gesellschaft zu Hause bleiben kann: Es sind die einfachen Dinge, die Zagler vermisst. „Und ich denke auch an die Zukunft“, sagt die 36-Jährige, „im Pa*ra­dies­chen kann ich alt werden.“

Alle verbindet ein Ziel: bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Der Gegner: der Augsburger Immobilienmarkt. Ein bisschen David gegen Goliath, meint Falterer und lächelt. Augsburg, eine der ärmsten Städte Bayerns und kleine Schwester Münchens, spürt die Mietsteigerungen in den vergangenen Jahren besonders deutlich. Vielen ist München zu teuer geworden, einige von ihnen ziehen ins 60 Kilometer entfernte Augsburg. Das treibt auch da die Mietpreise nach oben. Aktuell mieten die Augs­bur­ge­r:in­nen den Quadratmeter Wohnfläche durchschnittlich für 12 Euro – ein Anstieg um etwa 5 Prozent zum Vorjahr, es ist kein Ende in Sicht. Zum Vergleich: In München bezahlt man um die 19 Euro.

Ein Teil der Pa*radieschen-Gruppe wurde vor einigen Jahren entmietet. 30 junge Menschen mussten aus ihren Wohnungen raus, an der Stelle ihres Mietshauses soll ein Luxusbau entstehen. Es war also Zeit, aktiv zu werden – gegen die hohen Mietpreise der Stadt, gegen die Angst vor willkürlichen Vermieter:innen. „Sollte Wohnen nicht ein Grundrecht sein?“, fragt Falterer. Sie stoßen auf das Mietshäuser Syndikat.

Die Initiative zum Mietshäuser Syndikat entsteht in den achtziger und neunziger Jahren in der Hausbesetzerszene in Freiburg. Ein Areal rund um die ehemalige Grether-Fabrik wurde damals dort besetzt und selbstständig saniert. Nach Zwangsräumungsdrohungen und jahrelanger Auseinandersetzung kaufte die Grether-Baukooperative der Stadt das Grundstück ab. Viele Sym­pa­thi­san­t:in­nen unterstützen die Haus­be­set­ze­r:in­nen mit Privatkrediten. Wohnungen entstanden, ein Szenetreff namens Strandcafé und eine kleine links-autonome Radiostation.

Kaltmieten bleiben konstant

Wie aber kann man den Bestand sichern und einen Verkauf auf lange Zeit verhindern?, fragten sich die damaligen Pioniere. Ihre Lösung: Man brauche eine Art Wächter, einen übergeordneten Verbund für Hausprojekte, der den Verlockungen des Immobilienmarkts widersteht. Dies ist die Funktion des Mietshäuser Syndikats.

Beim Augsburger Wohnprojekt ist die neue Hauseigentümerin die eigens geschaffene Paradieschen Haus GmbH, die aus zwei Gesellschaftern besteht: dem Pa*­ra­dies­chen Hausverein und eben dem Mietshäuser Syndikat, der übergeordneten Organisation dieser Rechtsform. Der Clou an der Sache: Die Immobilie kann nicht verkauft werden und auch die Kaltmieten bleiben konstant. Wenn also Be­woh­ne­r:in­nen eines Wohnprojekts das Haus verkaufen wollen, verhindert das Syndikat mit seiner Vetostimme als gleichberechtigter Gesellschafter an dem Haus den Verkauf. Ein Haus vom Mietshäuser Syndikat bleibt somit immer im Gemeineigentum – Reprivatisierung ausgeschlossen.

Man muss sich erst „reinfuchsen“, wie so ein Haus saniert wird, sagen die künftigen Be­woh­ne­r:in­nen Foto: Thomas Dashuber

Abgesehen davon sollen die Hausprojekte maximal autonom agieren. Alle praktischen Entscheidungen, die in das Leben der Be­woh­ne­r:in­nen eingreifen, werden von den jeweiligen Hausprojekten selbst organisiert.

Das Syndikat, das seine Zentrale immer noch in Freiburg hat, berät neue Hausprojekte in allen möglichen Fragen wie Finanzierung, Umsetzbarkeit und Abstimmungsprozessen in den Hausgruppen. Denn wenn Wohnprojekte scheitern, liege es fast immer an internen Konflikten. Teils gebe es eine Anschubfinanzierung durch einen Solidarfonds. Darin sammelt sich Geld von langjährigen Hausprojekten, die ihre Kredite bereits abbezahlt haben.

Für die allgemeine Finanzierung sammeln die Hausprojekte sogenannte Direktkredite, das sind private Kredite von Unterstützer:innen. Dieses Geld gilt als Eigenkapital und damit als Sicherheit für Banken, die ebenfalls Kredite beisteuern.

Manchmal kaufen Mie­te­r:in­nen das Haus, in dem sie bereits wohnen, manchmal werden damit Neubauprojekte umgesetzt und manchmal – wie im Augsburger Fall – werden Bestandshäuser erworben. Über Mieten werden im Syndikatsystem die privaten Kredite allmählich wieder zurückgezahlt. Menschen, die in Häusern des Syndikats wohnen, sind ihre eigenen Vermieter:innen.

Im Pa*­ra­dies­chen wird ein WG-Zimmer rund 350 Euro warm kosten, eine Dreizimmerwohnung 1.000 Euro. Mit 12,50 Euro pro Quadratmeter liegen die Quadratmeterpreise leicht über dem Augsburger Mietendurchschnitt. Dafür aber beziehen die Be­woh­ne­r:in­nen dereinst ein frisch saniertes Haus. Das Wohnen im Pa*­ra­dies­chen macht sich auf lange Sicht bezahlt: „Unsere Miete wird nicht steigen. Wir können also dauerhaft bezahlbare Mieten garantieren“, sagt Falterer.

Bärlauch am Gartenzaun

Jahrelang haben sie alle möglichen Immobilienportale nach geeigneten Objekten durchkämmt. Ein großes Haus für gemeinschaftliches Wohnen in der Stadt zu kaufen schien fast unmöglich. Im Jahr 2022 war es dann so weit: Sie fanden ein altes Pfarrhaus an der Kahnfahrt in Augsburg. Gute Innenstadtlage, perfekte Räumlichkeiten. Wenn Falterer heute von dem Pfarrhaus erzählt, leuchten ihre Augen. Ein Münchner „Immobilienhai“ habe ihnen vor Vertragsunterzeichnung Druck gemacht. Schnell hätten sie das nötige Geld zusammenbekommen müssen. Rund 2 Millionen Euro konnten sie aufbringen, der Kauf schien perfekt. Dann, am Tag der Vertragsunterzeichnung, verkauft der Makler an jemanden, der plötzlich mehr bietet. „Es wurde mit uns spekuliert! Durch unsere massive Öffentlichkeitsarbeit haben wir dazu beigetragen, das Objekt bekannt zu machen und den Preis hochzutreiben“, sagt Falterer. Ein Rückschlag. Ohne Haus kein Hausprojekt.

Im Oktober 2023 fanden sie auf einer Immobilienseite das Haus, vor dem Falterer nun sitzt und erzählt. Sie mussten einfach zuschlagen, kauften es für rund 900.000 Euro. „Der Ort hier hat sich gut angefühlt“, sagt Falterer.

Während sie erzählt, kommen immer mehr Menschen zum Besuchstag. Ein Musiker trägt seinen Kontrabass die Treppen hoch, eine ältere Frau schwärmt vom Bärlauch, der am ­Gartenzaun wächst. Pa*­ra­dies­chen will es anders machen als Projekte, die sich nur mit sich selbst beschäftigen. ­Begegnungsräume für das Quartier sollen im Keller entstehen, mit Extra-Eingang.

Plena, Sitzungen, Absprachen: Ein Haus gemeinschaftlich zu kaufen ist soziale Schwerstarbeit Foto: Thomas Dashuber

Ob so ein Nachbarschaftsprojekt auf lange Sicht gelingen wird, bleibt offen. Das Mietshäuser Syndikat schreibt auf seiner Website, dass etablierte Hausprojekte die „Tendenz zu Stagnation und Selbstbezogenheit“ haben. An diesem Sonntagmittag aber begegnen sich Familien, Musiker, eine ältere Dame und Punks mit Irokesen. „Die Bubble ist gar nicht so abgeschlossen, wie man immer denkt“, meint Falterer. Jedes Projekt des Mietshäuser Syndikats hat einen eigenen Stil. Der Pa*radieschen-Stil soll „bunt, offen, einladend“ sein, sagt Falterer.

Warum gibt es nicht mehr „paradiesische“ Projekte? Ein Hinderungsgrund: Für die Umsetzung braucht man Zeit. Und davon ziemlich viel. Falterer ist seit über zwei Jahren bei Pa*ra­dies­chen e.V. aktiv. Zwischen 10 und 20 Stunden wöchentlich für das Projekt aufzubringen sei normal. „Wir sind extrem privilegiert, dass wir überhaupt so viel Zeit investieren können. Andere können das nicht“, sagt sie.

Damit ein Privat- beziehungsweise Direktkredit zustande kommt, müssen die potenziellen Geld­ge­be­r:in­nen Vertrauen schöpfen – in die Sinnhaftigkeit des Projekts, in die Glaubwürdigkeit der Personen. Garantien können sie nämlich nicht geben. Aber der Erfolg der vielen anderen Hausprojekte unter dem Dach des Mietshäuser Syndikats soll ihnen die Sicherheit geben, dass eine Zahlungsunfähigkeit unwahrscheinlich ist.

Die Mindesteinlage liegt bei 1.000 Euro, der Zinssatz ist frei wählbar zwischen 0 und 1 Prozent. Die Stiftung Warentest schreibt zum Anlagemodell in Projekte des Mietshäuser Syndikats: „Mehr gute Tat als Geldanlage.“ Wer das Projekt unterstützt, mache es nicht aus Profitinteresse, sagt Falterer. Der niedrige Zinssatz sei der große Hebel, nur so könne das Projekt finanzierbar bleiben – auch auf lange Sicht. Es gehe allen Un­ter­stüt­ze­r:in­nen um das Projekt, die Idee. Ein Mitspracherecht haben sie durch ihre Direktkredite aber de facto nicht.

Über 260 Menschen haben Pa*­ra­dies­chen bereits mit Direktkrediten unterstützt, eine Summe von fast 1,4 Millionen Euro ist so zusammengekommen. Bei jedem Stadtteilfest, bei jedem Hofflohmarkt sind sie mit ihrem Stand vertreten, um für ihr Anliegen zu werben.

Es ist ein Job, der um die Schaffung des eigenen Wohnraums kämpft, und einer, der die Idee von alternativem Wohnen bekannt machen will. Doch Falterer stellen sich immer wieder Fragen: „Habe ich versagt, wenn wir nicht genug Geld zusammenbekommen? Ist der Kreis an Menschen, die ein solches Projekt unterstützen wollen und können, endlich?“

Mittel- und langfristig findet eine Normalisierung statt, alternative Wohnformen kommen raus aus der linksradikalen Ecke

Frank Eckardt, Professor für Stadtforschung

Das Pa*­ra­dies­chen hat auch die Stadtverwaltung und Lo­kal­po­li­ti­ke­r:in­nen um Unterstützung gebeten. Parteiübergreifend gebe es Zuspruch für das Projekt, aber über ein „Macht weiter so, Geld haben wir aber keins“ gehe es nicht hinaus. Mal sei das Wohnprojekt mit den sieben Wohneinheiten zu klein, mal heißt es, WGs seien nicht förderfähig oder das Konzept der Direktkredite als Eigenkapital sei nicht anerkannt.

Engagieren und dadurch sozialisiert

In Leipzig und Tübingen sei das zum Beispiel anders, sagt Falterer, da werde auch mit städtischen Krediten unterstützt. Ihre Forderung: zumindest eine zentrale Stelle in jeder Stadt, die Beratung für gemeinschaftliches Wohnen anbietet. Lediglich für die Sanierung zum ressourcensparenden Haus werden sie – wie andere Privatpersonen oder Unternehmen auch – einen KfW-Kredit erhalten. Andere Förderungen gibt es nicht.

Das Wohnzimmerkonzert fängt gleich an. Falterer schwelgt in Erinnerungen und erzählt von ihrer Kindheit und dem Aufwachsen in einem kleinen Dorf bei München. Immer habe sie erlebt, dass man am Garten vorbeiläuft und sich grüßt, im Austausch steht mit den Menschen um sich herum. „In der Stadt geht das total verloren. Mit unserem Projekt kämpfen wir auch gegen die Anonymität der Stadt und die Vereinsamung der Gesellschaft. Individualisierung kann nicht alles sein.“

Welche gesamtgesellschaftliche Wirkung aber können alternative Wohnprojekte wie die des Mietshäuser Syndikats haben? Anruf bei Frank Eckardt, Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus Universität Weimar. Er sagt: „Die Errichtung und Aufrechterhaltung von Wohnprojekten des Mietshäuser Syndikats sind ein sehr öffentlicher Prozess, in der Regel mit einem großen Netzwerk. Durch das Aufzeigen der Alternative kann ein positives Schneeballsystem angestoßen werden.“ Das bedeute, dass mehr Menschen sich engagieren und dadurch sozialisiert werden. Auch Menschen, die persönlich mit alternativen Wohnformen nichts anfangen können, verstünden sie damit besser. „Mittel- und langfristig findet eine Normalisierung statt, alternative Wohnformen kommen raus aus der linksradikalen Ecke“, meint Eckardt. Das sei sehr verdienstvoll. Das große Wohnproblem werde man dadurch aber nicht lösen können.

Die normalisierte Wohnform drückt sich in etwas aus, das landauf und landab Dörfer und Städte prägt: das Einfamilienhaus. Etwa ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands lebt in einem Einfamilienhaus. Drei Viertel würden sich das wünschen. Auch die Zahl der Einpersonenhaushalte ist mehr als doppelt so hoch wie 1950. Die Bildung von individualisiertem Wohneigentum war jahrzehntelang ein gesellschaftliches Ideal und ist es auch heute noch, staatlich gewünscht und gefördert. Gemeinschaftliche Hausprojekte, wie das Augsburger Pa*radieschen, wollen dieses Narrativ durchbrechen. Darüber hinaus wollen sie zeigen, dass Wohnraum nicht gewinnbringend genutzt werden muss. Und nachhaltig wohnen bedeutet für sie auch, dass nun viele Menschen auf engem Raum leben. 18 Personen, wo einst nur eine ältere Frau zu Hause war. Genügsames, funktionales Wohnen, dafür die Gemeinschaft im Zentrum.

Aus dem Haus schallen die ersten, mitunter schrägen Töne. Die Lokalmatadoren Jesus Jackson und die Grenzlandreiter spielen ihren Song „Acid Kommunismus“. Es wird geklatscht, gelacht und um weitere Direktkredite geworben. Bis zum Start der Sanierung im Sommer fehlen noch knapp 50.000 Euro.

Mitte Juni. Ein weiterer Besuch beim Augsburger Wohnprojekt steht an. Ein Mann mit Vollbart und Pferdeschwanz hält einen Schlagbohrer und grüßt. Es ist der 29-jährige Student Maximilian Schorer, ein weiteres Mitglied des Vereins. Seine heutige Mission: Wandfliesen entfernen. Seit Wochen renovieren sie in Eigenregie das Haus, zumindest das, was selbst gemacht werden kann. Und bei einem alten Haus gibt es da so einiges, wie zum Beispiel Lampen, Armaturen und Teppichböden entfernen.

Das Pa*­ra­dies­chen will auch in Sachen Nachhaltigkeit neue Wege einschlagen. Schorer wischt sich den Staub aus dem Gesicht und meint: „Wir versuchen auf den Kauf von Werkzeug zu verzichten und unser Netzwerk zu aktivieren, falls wir etwas brauchen – und sei es nur Spachtelzeug.“ Auch wenn das Haus einmal bezogen ist, wollen sie Ressourcen teilen, zum Beispiel Autos. Und gemeinsam vegan und vegetarisch kochen.

Im Raum „Kommandozentrale“ sind schon fast alle Wände mit Plänen vom Architekten tapeziert. Keiner hier habe so richtig Ahnung davon, wie man ein Haus saniert, meint Schorer. Sie müssten sich eben „reinfuchsen“. In die Arbeit, in die Bürokratie. Buchhaltung lernen, sich mit Sanierungsfragen beschäftigen.

Immer wieder neue Kosten

Nach der Sanierung soll das Haus ein sogenanntes Effizienzhaus 55 sein. Dazu braucht es eine Wärmepumpe und eine gute Dämmung. Seit dem vorherigen Besuch im März ist das Gebäude zu einer echten Baustelle geworden. Im Keller soll mal ein Waschraum entstehen. Mit ein oder zwei Waschmaschinen, da nicht jede Wohnung eine eigene braucht. Bis da aber Kleidung trocknen kann, muss erst mal der Raum trockengelegt werden. Das ist teuer. Allgemein treten immer wieder Kosten auf, die nur schwer kalkulierbar sind. An einer Tür steht: Achtung, Asbest! „Da müssen wir die Schadstoffprüfung noch abwarten“, sagt Schorer. In einem weiteren Raum liegen Kronleuchter und Klobrillen. Schorer zeigt auf eine Klobrille: „Wir würden die eigentlich nehmen, aber dann wird es zu kompliziert und teurer, als wenn wir die gesamte Toiletten neu kaufen.“ Nachhaltigkeit sei ein Kostenfaktor, den man sich leisten können muss, sagt Schorer. Trotzdem sollen es die teureren Holzfenster werden und nicht die günstigere Kunststoffalternative.

Wieder drei Monate später, es ist Herbst geworden. Das Pa*­ra­dies­chen lädt zum Gesamtplenum. Acht Personen sitzen am großen Wohnzimmertisch in Alexandra Zaglers bisheriger Wohnung, nicht alle konnten kommen. Auf dem Tisch sind Karotten und Gurken verteilt, warme Kartoffelsuppe wird herumgereicht. Ein zweijähriges Kind macht mit Geschrei auf sich aufmerksam. Alle hatten einen langen Arbeitstag, dennoch sitzen sie zusammen und diskutieren.

Für Entscheidungen nutzt die Gruppe die Methode der systemischen Konsensierung

Die Pa*radieschen-Plena folgen einer klaren Struktur. Einchecken, Berichte aus den Arbeitsgruppen, Auschecken. Los geht’s. Punkt eins: das „Einchecken“, gewissermaßen ein Einblick in den aktuellen Gemütszustand. Wie geht es mir heute? Wie geht es mir gerade in der Gruppe? Zagler, die als Pädagogin arbeitet, hat heute mit circa 70 Kindern zu tun gehabt. Zusammengefasst: Es war ein anstrengender Tag, sie ist müde. Jedes der acht Pa*radieschen-Mitglieder kommt der Reihe nach dran. Es wird über die Arbeitsbelastung gesprochen, die nicht für alle gleich ist.

Dazu gehört auch das Thema Rollenverteilung. Jemand muss das Plenum moderieren, eine oder einer soll Protokoll schreiben. Darüber wird diskutiert. Die Plena laufen nach sogenannten ­soziokratischen Gesprächsregeln ab, das heißt, alles muss gemeinsam entschieden werden. Jedes Mitglied hat ein Vetorecht – es soll ja solidarisch zugehen.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Dann folgt Punkt zwei, die Berichte aus den Arbeitsgruppen, in die der Hausverein aufgeteilt ist. Die AG Bau verkündet, die Baukostenkalkulierung verlaufe schwierig, die Baupreise sind teils unvorhersehbar. „Vonseiten der Bauleiter fehlt das Verständnis, dass wir als Gruppe Zeit brauchen für Abstimmungen“, sagt eine Person. Es ist eine besondere Herausforderung, mit vielen Ei­gen­tü­me­r:in­nen eine Haus­sanierung zu koordinieren. Bald können aber die Hand­wer­ke­r:in­nen kommen. Trotzdem fehle Geld, rund 40.000 Euro. Sonst steht der KfW-Kredit auf der Kippe. Die Frist ist Ende Oktober.

Ein erst kürzlich durchlaufener und emotionaler Prozess war die Zimmeraufteilung, berichtet Franziska Falterer nun. Alle stimmen zu. Wie in jeder Gruppe gäbe es Präferenzen: Mit wem möchte ich nicht nur zusammen ein Wohnprojekt auf die Beine stellen, sondern zusammenziehen? Sie haben für diese Entscheidung eine Art Puzzle gelegt, ausgedruckte Namen auf einem Tisch hin- und hergeschoben, Wohnungsgrößen aufgelöst und bauliche Anpassungen eingeplant. Dabei muss sich jeder und jede grundsätzliche Fragen stellen, zum Beispiel, mit wie vielen Leuten man eine Wohnung teilen will.

Für Entscheidungen nutzt die Gruppe die Methode der „systemischen Konsensierung“. Jedes Mitglied gibt auf einer Skala von null bis zehn den empfundenen Widerstand bei einer möglichen Option an. Eine Lösung wird bei der Summe mit den wenigsten Widerständen gefunden. Es gehe um Konsent, nicht Konsens. Viele Diskussionsschleifen seien daher nötig, bis die beste Lösung gefunden werde. „Man muss dann auch Leuten ins Gesicht sagen – auch wenn man sich menschlich gut versteht –, dass man sich nicht vorstellen kann, mit jemandem zusammenzuwohnen“, sagt Falterer. Eine Schwere liege dann in der Luft.

Eine Person habe beschlossen, nicht mit einzuziehen. Sie habe für sich entschieden, dass sie in ihrer jetzigen WG bleiben will. Falterer: „Wir haben da alle einen Erkenntnisprozess durchgemacht.“

Beim heutigen Plenum geht es um Einzelheiten im Keller. Wo kommt die Türe hin, wo welches Fenster? Nur durch viele Abstimmungen werden die besten Lösungen gefunden, sind sich hier alle sicher. So verhindert man, dass später Streit aufflammt.

Eine Person aus der Runde fragt, wann sie und Falterer ein „Einzeldate“ haben. Die sogenannten Einzeldates in der Gruppe sollen dazu beitragen, dass neben der ganzen Projektarbeit das persönliche Verhältnis zwischen den Mitgliedern nicht zu kurz kommt, erklärt Falterer. Auch wollen sie Grüppchenbildungen entgegenwirken.

Nach mehreren Stunden Plenumssitzung steht der letzte Punkt im Plan an – das „Auschecken“. Alle Mitglieder bedanken sich bei den einzelnen Arbeitsgruppen für die Vorbereitung der Vorträge. Sie planen schon die nächsten Aktionen, den nächsten Infostand, um für ihr Anliegen zu werben. Haben sie keine Sorgen, dass sie zu wenig Geld bekommen werden? Ein Blick in die Runde, alle schauen sich zuversichtlich an. „Wir sind so weit gekommen, da bremst uns nichts mehr“, sagt eine Person. Bei dem ersten Hauskauf, der dann platzte, haben sie innerhalb von zwei Monaten 1,3 Millionen Euro einsammeln können, trotz Krisen und Inflation.

Ende Oktober, erneuter Anruf bei Franziska Falterer. Wie läuft es, wie viel Geld fehlt? Die gute Nachricht sei, dass sie mittlerweile den KfW-Kredit bekommen haben. Die schlechte, dass die erste Auszahlung erst genehmigt wird, wenn die Bank einen Nachweis über die Sicherheiten hat. 20.000 Euro an Direktkrediten fehlen ihnen, damit sie genügend Eigenkapital gegenüber der Bank vorweisen können. Für Falterer und Zagler ist damit klar: Sie müssen weiterhin Leute für ihr Projekt begeistern. Aber das sei gar nicht so schlimm, meint Falterer und bedient sich an einem bekannten Spruch aus den Kreisen des Mietshäuser Syndikats: „Lieber 1.000 Freun­d:in­nen im Rücken als eine Bank im Nacken.“

Im Herbst 2025 soll es so weit sein. 14 Erwachsene, vier Kinder und ein Hund wollen dann ihr kleines Paradies beziehen.

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