Auftakt der Berlinale: Dem Festival entgegenfiebern
Die 72. Filmfestspiele Berlin beginnen. Über Filme wird zunächst kaum diskutiert – umso mehr über Sinn und Unsinn eines Festivals in der Pandemie.
Hier soll es ja jetzt vornehmlich um Filme gehen. Leider muss das ein paar Zeilen warten. Dafür geht es zunächst um Omikron, Publikum am Potsdamer Platz in Berlin und Journalisten, die sich beschimpfen lassen müssen. Der Auftakt der 72. Berlinale gestaltet sich ungewöhnlich und, gelinde gesagt, kontrovers.
Als die Berlinale im vergangenen Oktober ankündigte, diesen Februar wieder ein Festival mit Publikum in den Kinos zu veranstalten, sorgte das für Erstaunen. Seit die Omikron-Welle in Deutschland die Infektionszahlen stetig auf neue Höchstwerte ansteigen lässt, mehrte sich die Skepsis, ob das überhaupt realistisch ist. Dessenungeachtet stimmten der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek im Anschluss an ihre Pressekonferenz im Januar die Öffentlichkeit regelmäßig auf die Rückkehr der Berlinale ins Kino ein.
Eine Woche vor Beginn des Filmfestivals rumort es nun vernehmlich in der Presse. Die sonst zur Begleitung gedachten Medien rücken auf einmal, scheint es, in den Mittelpunkt des Interesses. Denn einige Journalisten wie Wenke Husmann von Zeit Online und Anna Wollner vom RBB, die kritisiert hatten, die Berlinale komme in der geplanten Form zur Unzeit, setze in diesem Moment der Pandemie ein falsches Zeichen, bekamen unter anderem vom Filmverleiher Torsten Frehse zu hören, ihre Ansichten seien „kultur- und demokratiefeindlich“.
Und in der Neuen Zürcher Zeitung machte sich Andreas Scheiner am Dienstag in diesem Zusammenhang über die ängstliche „deutsche Volksseele“ lustig. Was durch die belastete Wortwahl noch einmal ganz andere kritische Fragen aufwirft.
Der Ton ist mittlerweile ähnlich schrill, wie man ihn längst andernorts in Teilen der sozialen Medien beklagt. Bloß ist die Frage, ob irgendjemandem geholfen ist, Vertreter einer Branche dafür zu verunglimpfen, dass sie sich im Namen der Gesundheit aller Betroffenen zu Wort melden. Darüber geraten zwei normative Appelle auf Kollisionskurs: Die Frage nach der Verantwortung für die Gesundheit anderer steht plötzlich gegen die Rettung des Kinos. Zweierlei Dinge mithin, die man besser separat betrachten sollte.
Zur Verantwortung: Die Berlinale bringt mit 256 Filmen ein stark reduziertes Programm, hat ein Sicherheitskonzept mit reinen Onlinebuchungen, halbvollen Kinosälen, sie verlangt 2G+ für die Besucher. Wobei allein die Presse ausnahmslos tagesaktuelle Tests benötigt, selbst für dreifach Geimpfte. Warum nicht verbindlich für alle, die zur Berlinale wollen? Wäre das nicht eine sinnvolle Selbstverpflichtung im Namen der Allgemeinheit?
Aber selbst dann: Wie soll bei den verschärften Einlasskontrollen verhindert werden, dass sich nicht doch Schlangen bilden oder man ähnliche „Begegnungen“ mit Ansteckungsrisiko hat? Im Zweifel braucht man gar nicht erst zu warten, bis man sich auf der Berlinale infiziert hat. Diese Zeilen etwa sind in Isolation geschrieben, nach Impfdurchbruch trotz Auffrischung.
Auf der anderen Seite geht es um den Wunsch der Filmemacher, ihre Filme auf der Leinwand zu zeigen. Die Berlinale ihrerseits hat ein berechtigtes Interesse, für Gäste des Wettbewerbs und der anderen Sektionen möglichst attraktiv zu sein, damit diese überhaupt kommen.
Durch eine Onlinelösung wie im vergangenen Jahr hätte die Berlinale womöglich riskiert, mit einem weit weniger namhaften Programm dazustehen. Das sind für ein Filmfestival ernsthafte Schwierigkeiten, erst recht für eines der drei wichtigsten, zu denen die Berlinale mit Cannes und Venedig zählt.
In übergeordneter Perspektive geht es zudem um die Zukunft des Kinos, für die die Berlinale ein Zeichen setzen soll. Eine Absage des Festivals oder eine Streaminglösung, so die Befürchtung, könnten sich verheerend auf die Bereitschaft auswirken, grundsätzlich wieder und öfter ins Kino zu gehen.
Die umgekehrte Möglichkeit, dass Ansteckungen in großer Zahl bei der Berlinale eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Kinobesucher allgemein haben könnten und dem Festival empfindlich schaden würden, bleibt hingegen Sache der Schwarzmaler.
Bedenken gab und gibt es auch in dieser Redaktion. Dass gleichwohl von heute bis zur Preisverleihung am 16. Februar täglich zwei Seiten mit Berichten zur Berlinale kommen, ist Zeichen der Solidarität mit dem Festival, den geladenen Filmemachern und dem Publikum.
Wobei ausdrücklich auch an das Publikum gedacht ist, das während der Berlinale lieber abwarten und die Filme zu einem späteren Moment im Kino sehen möchte. Der „Publikumstag“, sonst traditionell am letzten Sonntag des Festivals, ist diesmal übrigens vom 17. bis 20. Februar, was den Betrieb entzerren soll.
Das Festival
Die Berlinale läuft vom 10. bis 20. Februar in Berliner Kinos. Im Programm gibt es 256 Filme zu sehen. Auf taz.de lesen Sie während des Festivals Interviews, Kritiken und Überblickstexte. Die Preise werden dieses Jahr bereits am 16. Februar verliehen, danach folgen vier „Publikumstage“. So will man die Fachbesucher vom restlichen Publikum trennen, um „Risikobegegnungen“ zu reduzieren.
Die Sicherheit
Tickets gibt es dieses Jahr ausschließlich online zu kaufen. Kinosäle sind maximal halb belegt. Besucher müssen genesen oder geimpft sein und brauchen einen tagesaktuellen, höchstens 24 Stunden alten negativen Schnelltest. Ausgenommen sind dreifach Geimpfte.
Infos: www.berlinale.de
Um unsere Kollegen zu schützen, berichten wir defensiver als sonst. Die zwei Seiten pro Tag bedeuten gegen die sonst üblichen drei Seiten zwangsläufig weniger Artikel, sodass bei den Sektionen die Auswahl stark begrenzt ist. Selbst beim Wettbewerb, den wir sonst umfangreich berücksichtigen, gibt es diesmal während des Festivals weniger zu lesen, nicht zuletzt, um die erforderlichen Kinobesuche gering zu halten.
Für freiwillige Kinobesuche lohnt sich auch dieser Jahrgang. Wie in vergangenen Ausgaben sind Filmemacherinnen bei der Berlinale erneut stärker vertreten als bei den anderen beiden „großen“ Festivals. Im Wettbewerb ist zum ersten Mal die französische Regisseurin Claire Denis vertreten, freuen kann man sich desgleichen auf den neuen Spielfilm ihrer Schweizer Kollegin Ursula Meier, die mit dem Drama „La ligne“ über eine gewalttätige Frau zum zweiten Mal für den Goldenen Bären antritt. Genauso erfreulich ist, dass die Schauspielerin und Regisseurin Nicolette Krebitz mit „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ vertreten ist.
Neugierig macht der Eröffnungsfilm „Peter von Kant“, mit dem der französische Regisseur François Ozon eine Fassbinder-Hommage beisteuert. Der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl fährt mit seinem neuen Film „Rimini“ an die Adria, und Andreas Dresen erzählt mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ deutsche Zeitgeschichte. Sonderbares verspricht die Sektion „Berlinale Special“, in der Horrormaestro Dario Argento seine „Occhiali neri“ präsentiert und der französische Spezialist für verqueren Quatsch Quentin Dupieux in „Incroyable mais vrai“ fast schon „seriös“ symbolisch männliche und weibliche Fantasien komplementär ins Bild setzt.
Für Sonderbares zuständig ist ebenso der Brite Peter Strickland, der in der Sektion „Encounters“ mit seinem „Flux Gourmet“ sich seinen Reim auf kulinarisches Kino macht. Aus der Schweiz hat Cyril Schäublin die „Unrueh“ mitgebracht und verfolgt streng abgezirkelt die Anfänge der Anarchie im schweizerischen Jura im Umfeld einer Uhrenfabrik.
Große Freude schließlich auch über den Goldenen Ehrenbären für die französische Schauspielerin Isabelle Huppert. Was ein Wiedersehen mit ihr in Filmen wie Michael Hankes „La pianiste“ oder „Elle“ von Paul Verhoeven bedeutet. In dieser Hinsicht darf man der Berlinale erwartungsvoll entgegensehen. Gleichzeitige Sorge schließt das halt nicht aus.
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