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Aufruf von MenschenrechtsorganisationenNeuer „Tiefpunkt“ bei Asylpolitik

Hilfsorganisationen warnen, eine neue EU-Krisenverordnung könnte das Elend der Geflüchteten weiter verschärfen.

Asylsuchende mit ihren Kindern im polnischen Bialowieza Ende Juni 2023 Foto: Agnieszka Sadowska/ap

Berlin taz | Über 50 Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer weiteren Verschärfung der EU-Asylpolitik durch die derzeit unter den Mitgliedstaaten diskutierte „Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung“.

Die Organisationen – unter ihnen etwa ProAsyl, die Diakonie und Amnesty – befürchten, die Verordnung ermögliche „die Verzögerung von Registrierungen, die Verlängerung von Grenzverfahren sowie massive Absenkungen bei den Unterbringungs- und Aufnahmestandards“. Deshalb müsse die deutsche Bundesregierung die Pläne blockieren, so die Forderung der Organisationen in ihrem Aufruf.

Schon im Mai hatten sich die EU-Innenminister*innen auf eine grundsätzliche Verschärfung der Asylpolitik geeinigt. Ihr Kompromiss sieht vor, dass bestimmte Geflüchtete beschleunigte Asylverfahren direkt an den EU-Außengrenzen durchlaufen sollen, mutmaßlich in Lagern mit haftähnlichen Bedingungen. Außerdem sollen Geflüchtete in sogenannte sichere Drittstaaten außerhalb der EU zurück gezwungen werden, wenn sie über solche Länder eingereist sind. Auch die deutsche Bundesregierung trägt diese Pläne mit.

Weitere Verschärfungen möglich

Die nun diskutierte Krisenverordnung könnte diese Regelungen in bestimmten Situationen noch weiter verschärfen und bisher vorgesehene Ausnahmen aufheben. So sollen deutlich mehr Geflüchtete in die Grenzverfahren genommen werden können, unter bestimmten Umständen sogar alle. Das soll auch für Kinder und andere besonders vulnerable Gruppen gelten, für die es ansonsten eigentlich Ausnahmeregelungen gibt. Außerdem sollen die Grenzverfahren und die Haft auf eine Dauer von bis zu fünf Monate verlängert werden dürfen. Gleichzeitig werden die Anforderungen an Unterkünfte für Geflüchtete dramatisch gesenkt.

Gelten soll die Verordnung in Situationen, in denen schlagartig sehr viele Geflüchtete Asyl beantragen wollen und in Fällen, in denen Geflüchtete von anderen Staaten instrumentalisiert werden. Ein Beispiel für letzteres dürfte das Vorgehen der belarussischen Regierung sein, die Geflüchtete eingeflogen und über die Grenze nach Polen und in die baltischen Staaten gesendet hatte, um Druck auf die EU-Staaten auszuüben. Polen, Litauen und Lettland reagierten darauf, indem sie eine Art Ausnahmezustand verhängten und ihre Grenzen für Asyl­be­wer­be­r*in­nen schlossen.

Auch die verbotenen Mittel, zu denen Polen und auch andere EU-Staaten schon griffen, könnten durch die Verordnung einfacher und leichter zu verstecken sein. Polen zwang Geflüchtete teils direkt zurück nach Belarus, ohne dass diese die Möglichkeit hatten, einen Asylantrag zu stellen. Solche sogenannten Pushbacks sind eindeutig illegal.

Aktualisiert am 05.07.2023 um 15:50 Uhr. d. R.

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5 Kommentare

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  • Gegen die hohe illegale Einwanderung muss etwas getan werden. Dies ist die einhellige Auffassung aller Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten. Im Detail gibt es erhebliche Abweichungen, weshalb ein mühsamer Kompromiss gefunden werden musste, den zudem nicht alle Länder mittragen. Ob der im Mai gefundene Kompromiss tragfähig ist, und ob er das bringt, was man sich verspricht, das kann erst die Praxis zeigen.

    • @Stefan Schaaf:

      Der Anspruch auf Asyl und der Schutz vor politischer Verfolgung ist ein Grund- und Menschenrecht. Es gilt völlig unabhängig davon was einige Regierungschefs meinen. Man schließt ja auch keinen EU-weiten 'Kompromiss' zur Einschränkung der Pressefreiheit weil PiS und Orban das gern so hätten. Wenn man anfängt Grund- und Menschenrechte mit einfacher Mehrheit zur Disposition zu stellen steuern wir auf extrem düstere Zeiten zu.

      • @Ingo Bernable:

        Wenn wir jetzt nichts unternehmen kommt die Afd an die Macht. Dann war es das mit Europa. Mir ist dieser Preis zu hoch. Dir nicht ?

  • Dieser Schwenk der Grünen - Geflüchtete als Bedrohung ("instrumentalisiert") - zeichnete sich schon Weihnachten 2021 ab (und hätte da vielleicht noch gestoppt werden können), noch bevor Scholz zum Kanzler gewählt worden war.

    Als Nouripour, noch als ihr außenpolitischer Sprecher, am 15.11.21 in der taz erklärte: „Die paar Leute, die jetzt in der Kälte stehen, die sind nicht das Problem. Das Problem ist der Erpressungsversuch.“ is.gd/t8mm6w (er verband dies mit heftigen Vorwürfen gegen die geschäftsführende Kanzlerin Merkel, sie habe durch ihr Telefonat mit Lukaschenko - um die Lage der Geflüchteten zu verbessern - die Wahl des belarussischen Diktators faktisch anerkannt, ihn legitimiert (eine Auffassung von Außenpolitik, die die Menschen, ihr Leiden, eben nicht im Focus hat und die sich fortgesetzt hat)

    Wasserwerfer an der Grenze, bei Minustemperaturen is.gd/3rDwDo- "die paar Leute..." (die nicht anschließend nach Hause gehen konnten, sich was trockenes anziehen.

    Die da gestorben sind

    is.gd/hWOzko(Spon)

    Unter ihnen eine Schwangere, kurz vor Weihnachten an der Ostgrenze Polens erfroren im Wald gefunden: 》Nyligen hittades en förfrusen och uttorkad gravid kvinna död i skogen《 (dn.se)

    Menschen als Waffen - mag sein, dass Lukaschenko oder Putin die Geflüchteten so eingesetzt haben. Es ist aber auch völlig unethisch, dann zu sagen: also schließen wir uns dieser Sicht an und behandeln sie so, als seien sie welche.

    Unmenschlich.

    • @ke1ner:

      Ich sehe hier weniger einen Schwenk, als eine Reaktion auf ein Novum: Ich kenne kein historisches Beispiel, wo ein Staat Migranten über tausende Kilometer aus Drittstaaten einfliegen ließ, um sie dann über die Grenze des Nachbarstaates zu drängen und in eine Notlage zu bringen, um dem Nachbarn zu Schaden.

      Das stellt ein schweres moralisches Dilemma dar: Wie verhalte ich mich, wenn Person 1 die Person 2 in eine Notlage bringt, und mein Mitgefühl für Person 2 mich drängt sie zu retten, auch wenn es mir letztlich schadet?



      So eine Situation hat schon Parallelen dazu, wenn Person 1 die Person 2 als Geisel nimmt und bedroht, um von Person 3 Geld oder ein bestimmtes Verhalten zu erpressen. Person 3 muss dann entscheiden, ob er darauf eingeht, oder Person 2 Schaden zukommen lässt.

      Leider hat sich gezeigt, dass Erfolg einer Erpressung für den Erpresser einen Anreiz darstellt, dasselbe immer wieder und in weiter gesteigerter Form zu tun – was dazu führt, dass beim nächsten Mal wieder Menschen in Gefahr gebracht werden, und der Nachgiebige wieder Schaden verkraften muss. Dies ist der Grund dafür, dass Staaten gegenüber Erpressung Unnachgiebigkeit zeigen: sie ist auf lange Sicht mit einer geringeren Opferzahl und geringerem Schaden verbunden.



      Die Haltung scheint umso mehr gerechtfertigt, da ich noch von keinem gehört habe, der mit Tod und Folter bedroht wurde in eine belarussische Botschaft zu gehen um sich dort ein Touristenvisum ausstellen lassen und dann ein Flugzeug nach Minsk zu besteigen. Hier ließen sich Leute auf ein sehr gefährliches Spiel mit der (staatlich) organisierten Kriminalität ein, und mussten wissen, dass dies illegal ist. Das dies auch tödlich sein kann, mochten sie am Anfang noch nicht wissen; mittlerweile müsste das aber allgemein bekannt sein, und es kann keiner behaupten er wisse nicht, worauf er sich da einließ.

      Im Übrigen meine ich, dass mit der Kritik an Merkel Nouripur tatsächlich eine hervorragende Gelegenheit verpasst hat, den Mund zu halten.