Atomschrott im Nordmeer: Russlands vergessenes Erbe
Nukleare Sprengköpfe und Atom-U-Boote aus dem Kalten Krieg lagern im Nordmeer. Seit dem Angriff auf die Ukraine kümmert sich niemand mehr darum.
Das meiste davon lagert auf dem Meeresgrund unweit der Insel Nowaja Semlja, die zwischen 1955 und 1990 Schauplatz von 130 Atomversuchen war. Lange Zeit hatte es Hoffnung gegeben, dass das gefährlich vor sich hin rostende Material eines Tages gehoben und in einer weniger riskanten Form gelagert werden kann. Aber die russische Intervention in der Ukraine vom 24. Februar 2022 hat diese weitgehend zunichtegemacht. Zu diesem Schluss kommt die norwegische Umweltorganisation Bellona in einem jüngst veröffentlichten Bericht.
Vorgestellt hat die Untersuchung Alexander Nikitin, der das Meer und das Problem sehr gut kennt. Ein symbolträchtiger Auftritt, denn von 1974 bis 1985 diente Nikitin als Bordingenieur auf Atom-U-Booten der Nordmeerflotte und leitete dann bis 1992 als Kapitän 1. Ranges die Gruppe für Inspektion der Nuklearsicherheit des Verteidigungsministeriums zunächst der UdSSR, später die der Russischen Föderation.
Lange Jahre war Nikitin auch Chef von Bellona-Russland. In dieser Postition wurde er im Februar 1996 von der russischen Staatsanwaltschaft des Landesverrates beschuldigt und saß zehn Monate in Untersuchungshaft. Das angebliche Verbrechen: Als Whistleblower hatte er in einem Bericht für Bellona die mangelnde Sicherheit bei der russischen Nordmeerflotte öffentlich gemacht.
Das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges, so Bellona, umfasste auch die Marine. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten bauten zwischen 1947 und 1989 mehr als 400 Atom-U-Boote. Diese sollten den beiden Supermächten die Möglichkeit geben, Atomraketen von einem Meer aus abzufeuern, wenn ihre landgestützten Silos durch einen feindlichen Erstschlag zerstört worden waren. Zentrum der sowjetischen Nordflotte waren die Fjorde und Küsten um Murmansk, die auch zur Deponie für radioaktive Abfälle und abgebrannte Kernbrennstoffe wurden.
Internationale Hilfe
Das ganze Ausmaß der Hinterlassenschaften wurde mit dem Ende der Sowjetunion deutlich. Hauptsächlich von Bellona recherchierte Berichte über radioaktiv verseuchtes Wasser in der Barentssee, versenkte Atom-U-Boote, Torpedos mit atomaren Sprengköpfen und tausende Container voll radioaktiven Mülls schreckten nicht nur die Erben des sowjetischen Nachlasses, sondern auch die Anrainer- und andere Staaten auf.
Insbesondere Norwegen, aber auch Deutschland und andere EU-Staaten unterstützten Russland in seinen Bemühungen, die schlummernden Gefahren in den Griff zu bekommen. Vor allem dank dieser internationalen Unterstützung gelang es, die Hälfte der im Marine-Stützpunkt Andrejewa-Bucht bei Murmansk gelagerten Brennelemente bis 2021 in ein sichereres Lager zu bringen.
Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der weitere Prozess weitgehend zum Erliegen gekommen. Die westlichen Partner haben sich sanktionsbedingt zurückgezogen. Und auch in Russland wird der Beseitigung der nuklearen Altlasten des Kalten Krieges in Barentssee und Karasee keine hohe Priorität mehr eingeräumt.
Putins Desinteresse
Im Februar 2023 verschob Putin mit einem Erlass die Sanierung der Gebiete, in denen sich Anlagen mit abgebrannten Brennelementen und radioaktiven Abfällen befinden, auf die Zeit nach 2035. Zwei Monate danach wurde mit Bellona die Organisation, die sich seit über zwei Jahrzehnten für eine Bergung der radioaktiven Altlasten in Barentssee und Karasee einsetzt, zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Damit ist ihr dort jegliche Tätigkeit untersagt.
Die größten Sorgen bereiten dem inzwischen in Norwegen lebenden Nikitin aktuell die auf Grund liegenden Atom-U-Boote KA-27, „Komsomolez“ und K-159. Das KA-27 war im Herbst 1982 in der Karasee versenkt worden, wo es heute in rund 75 Metern Wassertiefe liegt. Sieben Jahre später, am 7. April 1989, war die „Komsomolez“ gesunken, alle 42 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Womöglich werde das in 1.000 Meter Tiefe liegende U-Boot niemals geborgen werden, mutmaßt Nikitin. Dabei sei das Wrack eine ständige Gefahr für die Umwelt, in ihm befinden sich mehrere Atomtorpedos mit Sprengköpfen und ein Atomreaktor.
Auch wenn in regelmäßigen Abständen versucht werde, Strahlungswerte zu messen, denke doch derzeit niemand an eine Bergung, sagt Nikitin. Das K-159 war ein Atom-U-Boot der sowjetischen und später der russischen Marine. 2003 sank es, bereits außer Dienst gestellt, mit neun Besatzungsmitgliedern. Das Wrack liegt in der Nähe der Insel Kildin in der Barentssee, etwa 20 Kilometer östlich der Kola-Bucht.
Verseuchte Infrastruktur
Nicht nur am Meeresgrund lauern die radioaktiven Altlasten der sowjetischen und russischen Flotte. Auch die Infrastruktur, die für die Versorgung der Flotte gebaut wurde, ist verseucht. Deshalb ist wohl an keinem Ort im Norden Russlands die radioaktive Bedrohung so groß wie am Marine-Stützpunkt in der Andrejewa-Bucht in der Region Murmansk. Etwa die Hälfte der dort befindlichen Lager und anderer Strukturen ist nach wie vor verstrahlt: das Gebäude Nr. 5 beispielsweise oder die Trockenlager Nr. 2-A, 2-I und 3-A, in die die abgebrannten Brennelemente aus Gebäude Nr. 5 nach einem Leck 1982 verbracht wurden. Hier lagern etwa 15.300 Tonnen schwach- bis mittelradioaktiven Abfalls.
Wie kann es nun weitergehen? Noch vor einem Jahrzehnt waren die Aussichten, die ökologischen Folgen der vor sich hin verrottenden Altlasten in den Griff zu bekommen, nicht schlecht. Doch der seit dem 24. Februar 2022 andauernde Krieg hat diese Perspektiven begraben. Von den westlichen Partnern ist aktuell nichts zu erwarten. Umgekehrt will auch Russland nicht mehr mit dem Westen zusammenarbeiten. Und wer in Russland mit Moskau in einen Dialog zu diesem Thema treten will, muss mit beruflichen Nachteilen rechnen. Wer mit der dort verbotenen Umweltorganisation Bellona zusammenarbeitet, steht erst recht mit einem Bein im Gefängnis.
Dass es grenzübergreifende und globale Probleme gibt und man die Welt nur gemeinsam erhalten kann, ist in Zeiten wie diesen in Russland eine Minderheitenposition. Eine Bergung und sichere Lagerung der strahlenden Altlasten des Wettrüstens im Nordmeer ist damit in weite Ferne gerückt.
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