Atomenergie in Deutschland: Der hohe Preis der Kehrtwende
Doch länger Strom aus Atomkraft? Es ist eine Stärke der Demokratie, auf eine neue Lage flexibel zu reagieren. Nur: In der Energiewirtschaft ist das nicht so einfach.
E ine der Stärken einer demokratischen Gesellschaft ist ihre Fähigkeit zum Wandel; ihre Fähigkeit, Entscheidungen aufgrund von neuen Entwicklungen jeweils neu zu bewerten. Gleichwohl ist es stets eine Gratwanderung. Eine hochentwickelte Gesellschaft braucht zugleich auch ein gutes Maß an Verbindlichkeit. Das gilt gerade dort, wo langfristige Strategien nötig sind, also speziell bei Fragen der Infrastruktur. Nur in wenigen Sektoren wird das so deutlich wie in der Energiewirtschaft.
Aktuelles Beispiel: Die Firma Siemens Energy verkündete dieser Tage, sie habe den bisher größten Auftrag für eine Stromnetzanbindung in ihrer Geschichte erhalten. Zwei Offshore-Windparks werden ihren Strom künftig über Konverter-Stationen in Lingen ins Netz bringen. Bemerkenswert ist dieser Satz in der Firmenmitteilung: „Kernkraftwerk Emsland gibt Netzkapazität für Windenergie frei.“
Der Fall zeigt exemplarisch, wie man bei der Planung den Atomausstieg einkalkuliert hatte. In komplexen Systemen muss man eben langfristig planen. Ähnliche Entscheidungen dürfte es auch andernorts geben. Andererseits muss es immer möglich sein, auch neu zu denken, wenn sich neue Entwicklungen auftun. Wie gesagt, das ist die Stärke einer freien Gesellschaft.
Aber je kurzfristiger und aufgeregter eine Gesellschaft sich von einer bisher vertretenen politischen Linie abkehrt, umso höher wird der Preis. Zum einen aus rein wirtschaftlicher Sicht, weil bisherige Planungen und Investitionen obsolet werden. Aber auch aus politischer Sicht, weil sich Verbindlichkeit plötzlich relativiert.
Bei der Atomkraft käme als besonders hoher Preis der politischen Wende die verminderte Sicherheit hinzu. Denn bisher war an den Standorten von den technischen Prüfungen bis zur den internen Organisationsabläufen alles auf ein Enddatum ausgerichtet.
Technisch-wirtschaftliche Prozesse haben eben oft langfristige Zyklen. Dass diese mitunter nicht zur Aufgeregtheit einer politischen Gesellschaft passen, sollten wir begreifen – und alle Planspiele der Laufzeitverlängerung beenden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“