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Armut und ObdachlosigkeitAnklagen und ausweichen

Wer Armut kritisiert, kann ignorant sein. Deshalb verspricht sich die CDU mit ihrer Hetze gegen Arme über die eigene Wählerschaft hinaus Erfolg.

Unter einer S-Bahnbrücke in Berlin-Charlottenburg Foto: Matthias Reichelt/imago

V or Kurzem durfte ich einen größeren Besuch empfangen: Mutter, Vater, zwei Kinder. In meiner letzten Wohnung reichte der Platz nur für einen Gast, heute geht eine ganze Familie. Weil gute Gastgeberschaft für mich mehr bedeutet, als Menschen zu beherbergen, machten wir uns auf den Weg, die Hauptstadt zu erkunden. Dass die Wege in Berlin lang sind, darüber freuten sich die Kinder, weil für sie jedes zusätzliche öffentliche Verkehrsmittel ein weiteres Abenteuer bedeutet.

Gleich in der ersten S-Bahn setzte sich der euphorische Vierjährige neben einen Mann, der krank aussah, abgenutzte Kleidung trug, nach Alkohol roch. Gerade als ich den Eltern raten wollte, ihn besser woanders hinzusetzen, griff der Mann in seine Tasche. Dann tippte er das Kind, das fasziniert die vielen Baustellen dieser Stadt betrachtete, so bedächtig an, wie es ein Alkoholisierter, von dem Gefahr ausgeht, nicht tun würde, und reichte ihm eine gelbe Actionfigur.

Nachdem der Junge sie etwas schüchtern angenommen hatte, zog der Mann noch ein Überraschungsei aus seiner Tasche und noch eines und noch etwas anderes. Der Junge, der so viel gar nicht tragen konnte, strahlte mit jedem Spielzeug mehr. Seine anfängliche Zurückhaltung verflog und über die verbleibenden Stationen entwickelte sich eine Art Dialog zwischen den beiden, die gemeinsam den Inhalt der Eier zusammenbauten. Ich kämpfte beim Anblick der schmutzigen Hände des Mannes gegen den Impuls an, dem Kind das Zeug aus der Hand zu reißen.

Keine fünf Minuten unterwegs und schon die erste Bekanntschaft gemacht, auch das ist Berlin, dachte ich später. Was ich auch dachte: wie schäbig von mir, dass ich meinem jungen Gast die Begegnung fast verunmöglicht hätte, weil ich den vermutlich obdachlosen Mann für eine Gefahr gehalten habe. Wie schäbig von mir auch, dass ich einem anderen Mann kürzlich in einem S-Bahnhof, in dem man oft nach Geld gefragt wird, mit einem unfreundlichen Nein ausgewichen bin, bevor der überhaupt einen Satz sagen konnte. Hätte ich ihn ausreden lassen, hätte ich mich nicht schämen müssen, als er gar nicht nach Geld, sondern nach dem Weg fragte.

Die CDU setzt auch auf meine Empathielosigkeit

Ich musste daran denken, dass ich mittlerweile den Wagen wechsle, wenn jemand in die Bahn steigt, der nach Geld fragt, weil ich mich der sichtbaren und riechbaren Not nicht aussetzen will.

Es klingt banal, aber vielleicht vergesse ich es gerade, weil ich es für selbstverständlich halte, und damit die Auseinandersetzung beende: Es ist das eine, Armut theoretisch anzuprangern, etwa in dieser Kolumne. Etwas anderes ist es, sich praktisch zu dieser Armut zu verhalten.

Dass der Europarat Deutschland wegen der Armut, die „in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes“ steht, rügt, dass er explizit die Obdachlosigkeit problematisiert und dass Finnland diese mit „Housing First“ erfolgreich bekämpft, darüber kann ich mit der Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, viel schreiben. Ich kann mich auch über die CDU echauffieren, die den Menschen sogar das Existenzminimum nehmen will.

Aber verspricht sich diese CDU mit ihrer Hetze nicht gerade Erfolg, weil sie auf Ressentiments setzt, die weit über ihre eigene Wählerschaft hinaus verbreitet sind, worauf auch Einschnitte beim Bürgergeld durch die Ampel verweisen? Auch auf meine Empathielosigkeit und Ignoranz, mit denen der Vierjährige noch nicht verseucht ist.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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12 Kommentare

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  • taz: "Ich musste daran denken, dass ich mittlerweile den Wagen wechsle, wenn jemand in die Bahn steigt, der nach Geld fragt, weil ich mich der sichtbaren und riechbaren Not nicht aussetzen will."

    Ich kenne das, denn man ist genervt, aber nicht von den armen Menschen, sondern von diesen erbärmlichen Zuständen (*Armut*) in diesem reichen Land, wo man die Reichen hofiert und die Armen im Dreck sitzen lässt.

    taz: "Aber verspricht sich diese CDU mit ihrer Hetze nicht gerade Erfolg, weil sie auf Ressentiments setzt, die weit über ihre eigene Wählerschaft hinaus verbreitet sind, ..."

    Jetzt nur auf die CDU zu schimpfen, ist zu kurz gegriffen. Wem haben wir denn den massiven Sozialabbau zu verdanken? Und welche Partei macht immer noch gegen ihre ehemaligen Wähler unsoziale Politik? War/ist das nicht die SPD? Auch den heutigen SPD-Politikern fällt doch nichts Besseres ein, als die Ärmsten weiterhin mit Hunger und Obdachlosigkeit zu bedrohen, indem sie von 'Bürgergeld-Verschärfungen' reden. Vor kurzer Zeit saß Hubertus Heil (SPD) bei Maischberger und sagte, es geht bei den Verschärfungen um eine 'generalpräventive Wirkung' - und was das bedeutet, sollte eigentlich klar sein. Bei 'generalpräventive Wirkung' geht es nämlich gar nicht nur um die Bürgergeldempfänger, sondern in erster Linie um die Arbeitnehmer, denn denen will man klar machen: "Wenn ihr bessere Arbeitsbedingungen fordert und sogar noch eine Lohnerhöhung verlangt, dann werden wir euch auch ganz schnell in Harzt 5 (Bürgergeld) stecken."

    Wie hieß eigentlich noch mal der SPD-Politiker, der in seiner Doktorarbeit über die Beseitigung von Obdachlosigkeit geschrieben hatte, aber es auch jetzt noch nicht hinbekommt, das endlich mal in die Realität umzusetzen? Ach ja, *Frank-Walter Steinmeier: Bürger ohne Obdach, zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit; Giessen, Univ., Dissertation, 1991, Bielefeld*

  • Das teilweise entsetzliche Elend auf den Straßen und U-Bahnen muss durch Investition in niedrigschwellige Angebote und Sozialarbeit bekämpft werden.



    Mindestens 90 % der Obdachlosen sind Suchtkranke.



    An einer wirksamen Lösung haben Leute wie Friedrich Merz bzw CDU wohl eher kein Interesse.



    Allerdings ist es für die Einzelperson, welche die Situation auf der Straße sieht, schwierig, mehr zu tun als für Suppenküchen und Altkleiderausgabe zu spenden.

  • Ok Ok - bisken jung de Jung! Woll

    “Aber verspricht sich diese CDU mit ihrer Hetze nicht gerade Erfolg, weil sie auf Ressentiments setzt, die weit über ihre eigene Wählerschaft hinaus verbreitet sind, worauf auch Einschnitte beim Bürgergeld durch die Ampel verweisen? Auch auf meine Empathielosigkeit und Ignoranz, mit denen der Vierjährige noch nicht verseucht ist.“

    Ja - das waren noch Zeiten - als sojet Lück im Hohen Norden als Tippelbrüder oder - gern als Monarchen bezeichnet wurden.



    “Dor sitt buten - n Monarchen!“ “Liggers un nu brüng em mal’n Teller Suppe ruut!“ siin Grotmudder to den Ohl as Jung. Dahinter steckte aber auch - aufpassen, daß er den Hof wieder verließ und nicht des nachts versehentlich im Heu oder Stroh die Scheune abfackelte! Klar.



    Das - (Nach)kriegskind und Arbeitslosen Ini - lassen Ihre Reaktionen gar nicht erst zu! Woll - But



    Aber. Als letztlich doch noch protestantisch geprägter Zeitgenosse hab ich mit “…hasse mal ne Mark“ etc ähnliche Schwierigkeiten! Oder. Wie es Harry Rowohlt umschrieben hat; “…hab ich’s ja doch lieber - wenn jemand dabei was auf der Geige 🎻 kratzt!“

    kurz - schwieriges Terrain.

  • Ja richtig, die CDSU setz auf die verhärteten Herzen in unserer Gesellschaft. Ein guter Artikel, der mich persönlich berührt hat!

  • "Anklagen und ausweichen" - willkommen in der Bequemlichkeitskultur- und Kritik. Muss nicht sein, ist aber leider häufig der Fall. Man gibt sich zutiefst menschfreundlich. Die andere Variante, man schaut weg oder grantelt über die "Schmutzbürger", die zu Tausenden über die Straßen Deutschlands vagabundieren.

    Vielleicht sind es 400 000 Menschen, wahrscheinlich mehr. Jeder Mensch ein Schicksal, jeder Mensch eine Lebensgeschichte.

    Es ist nicht das Klientel von CDU / CSU ,FDP, SPD... und auch nicht der AfD, denn deren Alternative - "Gott bewahre" - sich in Form von "Arbeitslagern" gebärden könnte.

    Der obdachlose Mensch gilt gemein als faul und schmutzig. "Er will nicht!" - so die harte Botschaft. Dass es ein kranker Mensch ist, den das Schicksal gnadenlos auf die Straße spülte, will kaum einer genau wissen. Da weicht man lieber aus, weil konkreter Einsatz, harte Arbeit bedeuten würde, die man dann doch scheut... schließlich kommt jetzt Oster, wir sind halt gestresst...

  • Schöner Beitrag. Geht jedoch am Thema vorbei. Obdachlosigkeit mit der Bürgergelddebatte zu vermischen, passt nicht.



    Leute, die arbeitsfähig sind, sollten auch dazu gedtängt werden, Arbeit anzunehmen.



    Der Staat sollte darauf achten, dass dies auch Jobs sind, von denen die Menschen leben können ,und sie noch eine Zeitlang begleiten.



    Obdachlose brauchen zuerst eine Wohnung und soziale Betreuung.



    Das ist etwas völlig anderes.

    • @MIA R.:

      Solange das Bürgergeld nicht zwischen arbeitsfähigen und nicht-arbeitsfähigen Menschen zu unterscheiden weiß, ist das mit dem Drängen so eine Sache.

    • @MIA R.:

      Naja, es gibt schon Schnittstellen.



      Wenn z.B. der psychisch Kranke, der gerade so noch im Bürgergeld drin hängt am Ende aufgrund von Sanktionen auf der Straße landet.

      Es geht am Ende um Empathie und Mitgefühl. Es geht darum, zu verstehen, dass nicht jeder sich selbst helfen kann - und trotzdem vollwertiger Mensch ist!

      Und das betrifft eben alle Schwachen, die von unserem guten Willen abhängig sind.

  • Wie wahr. Und darunter: die Angst, Armut könnte eine ansteckende Krankheit sein.

    Lassen wir nicht zu, dass die Propaganda unsere Herzen auffrisst.

  • Es werden Dinge vermischt.



    Obdachlosigkeit kann man bei den oft angeschlagenen Psychen nicht mit Zahlungen an selbige bekämpfen. Wohnungen bereitstellen, oder Wohnprojekte mit Sozialbetreuung sind hier Lösungen.



    Bei Leuten ohne Job aber allerallermeistens mit Wohnung, PartnerInn , Kind sieht das natürlich anders aus. In Jobs reingbekommen steht oben, Qualifikation, Motivation und auch direkte Zahlungen. Allein Zahlungen reichen aber auch hier nicht.



    Ich denke mittlerweile, dass wenn mehr Geld in Jobvermittlung, Qualifikation usw. gesteckt werden würde, würde man sogar die CDU mitnehmen können.



    Von den USA lernen gesetzgeberisch: Leichte und schwierigere Gesetzesvorhaben zusammen verhandeln und verabschieden. Ginge bei uns auch: Stichwort Artikelgesetze. Muss man halt mal ran an das Themenbündel und nicht immer im Kleindetail sich verhaken, zumal sogar innerhalb der Koalition!

    • @Tom Farmer:

      "Von den USA lernen ..."

      Das ist doch mal ein toller Vorschlag. Die große Obdachlosigkeit in den USA kommt übrigens von einem Mangel an bezahlbaren Wohnungen (also wie in "good old Germany"). Die US-Amerikaner bekommen kaum Urlaubstage und dann gibt es auch noch die sogenannten 'sick-days' in den USA (möchte die CDU/CSU sicherlich hier auch gerne einführen). Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beträgt in den USA nämlich nur maximal sieben Tage pro Jahr, dann geht man entweder krank zur Arbeit oder man wird gekündigt. Von den USA sollte man gar nichts lernen, denn die USA ist das Land wo der Kapitalismus schon komplett das Sagen hat.

      Der Anteil der US-Amerikaner, die von Armut betroffen sind, ist übrigens deutlich gestiegen. Die Armutsquote bei Kindern hat sich sogar mehr als verdoppelt. „Der Anstieg der Kinderarmut ist kein Zufall – er ist das Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung der Republikaner, die Hilfe für Familien mit Kindern zu blockieren und gleichzeitig massive Steuersenkungen für die reichsten und größten Unternehmen voranzutreiben“, sagte Präsident Biden 2023. Das hat für mich eine sehr große Ähnlichkeit mit der "Politik" der Merz-CDU und der "Politik" der Lindner-FDP.

      ***Schauen Sie sich die USA an. Das ist gelebter Kapitalismus im Endstadium. Die Reichen haben sich komplett zurückgezogen. In eigene Wohnviertel mit Zäunen und Sicherheitspersonal, eigenen Kindergärten, Schulen, Unis, Krankenhäusern. Die Mittelschicht braucht zwei Jobs nebeneinander, um überhaupt halbwegs klar zu kommen. Das letzte Drittel sitzt komplett im Dreck, obdachlos oder sitzt in Vierteln, in die sich nicht mal mehr die Polizei traut. 95 von 100 aller amerikanischen Medien befinden sich in der Hand fünf reicher Familien. Und auf diesen Abgrund rasen wir hier auch zu. Aber keiner traut sich mal die Notbremse zu ziehen. Alles, was wir tun ist, alle vier Jahre den Lokführer neu zu wählen und zu sagen: ‘Halt Kurs und gib Gas!’***[Volker Pispers, Kabarettist]

    • @Tom Farmer:

      Schreibt er ja alles so gar nicht. Wohnprojekte in Finnland werden sogar als Beispiel genannt.



      Außerdem geht es in dem Artikel um etwas komplett anderes. Nämlich Stigmatisierung und Vorurteile gegenüber Armen.



      Die USA können da wohl kaum als gutes Beispiel herhalten.