piwik no script img

Argentinien unter Javier MileiAbrissbirne gegen staatliche Regeln

Argentiniens neuer Präsident Javier Milei stellt sein umfangreiches wirtschaftliches Schockprogramm vor. Tausende gehen dagegen auf die Straße.

Tausende von Argentiniern gingen spontan auf die Straßen von Buenos Aires Foto: Roberto Almeida Aveledo/ZUMA Wire/imago

Buenos Aires taz | Argentiniens neuer Präsident Javier Milei hat über 350 Deregulierungsmaßnahmen erlassen. „Ziel ist es, den Weg des Wiederaufbaus unseres Landes zu beginnen, dem Einzelnen Freiheit und Autonomie zurückzugeben und mit dem Abbau der enormen Menge an Vorschriften zu beginnen, die das Wirtschaftswachstum behindert, erschwert und gestoppt haben“, sagte Milei am Mittwochabend in einer landesweit im Fernsehen übertragenen Rede.

Unter anderem wird das Arbeitsrecht geändert. Dabei geht es in erster Linie um die Erleichterung von Entlassungen, wie etwa die Reduzierung von Abfindungen oder die Einschränkung von arbeitsrechtlichen Klagen gegen eben eine Entlassung. Im Gegenzug soll das den Unternehmen ein Anreiz sein, mehr Einstellungen mit formalen Arbeitsverträgen vorzunehmen.

Staatliche Unternehmen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt und anschließend privatisiert. Der Erwerb von Land wird für ausländische Investoren erleichtert. Auch das Gesetz über die Brandbekämpfung soll geändert werden, durch das der Verkauf von illegal abgebranntem Land für Jahre verboten wird, um so den Schutz von Wald- und Feuchtgebieten zu gewährleisten.

Nach der Rede war es nicht nur in der Hauptstadt Buenos Aires zu Cacerolazos, Kochtopfkonzerten, Hupkonzerten und spontanen Straßenprotesten gegen die Ankündigungen gekommen. Wie viele der Maßnahmen allein per Präsidialdekret umsetzbar sind, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Dann muss das 86-seitige Dekret mit seinen 366 Artikeln dem Kongress vorgelegt werden. Solange der nicht darüber entscheidet, hat es „unter der Vermutung der Gültigkeit“ Gesetzeskraft. Erwartet wird schon jetzt eine große Zahl von einstweiligen Verfügungen gegen einzelne Maßnahmen.

Wer Straßen blockiert, soll die Sozialhilfe verlieren

Die Ankündigung, die ursprünglich für den Mittag geplant war, wurde wegen eines Protestmarsches zur Plaza de Mayo auf den Abend verschoben. Linke Basisorganisationen und Parteien hatten zu dem ersten großen Protestmarsch gegen den seit dem 10. Dezember amtierenden Präsidenten Javier Milei aufgerufen. Und obgleich sich Milei selbst als ersten libertären Präsidenten eines Landes bezeichnet, zeigte er hier eine äußert autoritäres Gesicht.

Der 20. Dezember war nicht zufällig gewählt. Der Tag gilt als Höhepunkt der sozialen Unruhen im Dezember 2001, als der damalige Präsident Fernando de la Rúa den Ausnahmezustand verhängte, was die Proteste verstärkte, bei denen 39 Menschen ihr Leben verloren und die schließlich zum Rücktritt des Präsidenten führten, der den Präsidentenpalast mit einem Hubschrauber verlassen musste. Seitdem findet jährlich ein Gedenkmarsch vom Kongress zur Plaza de Mayo vor der Präsidentenpalast statt.

Die Stimmung war jedoch extrem aufgeheizt, seit Sicherheitsministerin Patricia Bullrich letzte Woche das neue Sicherheitsprotokoll für Demonstrationen vorgestellte. Bei der Präsentation ging es weniger um die Gewährleistung der Meinungsfreiheit als vielmehr um die Sicherstellung der Bewegungsfreiheit und die Verhinderung von Straßenblockaden. „Die Straße wird nicht blockiert, die Leute werden auf dem Bürgersteig gehen“, sagte Bullrich und drohte mit harten Konsequenzen für den Fall der Nichteinhaltung.

Piquetes werden nicht unterstützt

Sandra Pettovello, die für die Sozialpolitik zuständige Ministerin, setzte am Montag bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt noch einen drauf. „Wer zu einer Demonstration geht und die Straße blockiert, dem wird die Sozialhilfe gestrichen“, lautete die klare Botschaft der Vorsteherin des neu geschaffenen Ministeriums für Humankapital. Pettovello wiederholte damit einen Satz, den Präsident Javier Milei bereits in seiner Antrittsrede gesagt hatte: „El que corta no cobra – diejenigen, die die Straßen blockieren, werden nicht unterstützt.“ Milei hatte damit eine Kehrtwende im Umgang mit den Piquetes, den Straßenblockaden, angekündigt, die seit Jahren eine umstrittene, aber geduldete Form des Protests vor allem von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind.

Schon am frühen Dienstagmorgen wurden die Zufahrtswege ins Stadtzentrum kontrolliert. An allen Einfallstraßen und Bahnhöfen überwachten Uniformierte, wer in Richtung der Sammelpunkte für der Sternmarsch unterwegs war.

Auf den Anzeigetafeln der Bahnsteige und in den Bahnhofshallen lief pausenlos der Satz „Wer die Straße blockiert, wird nicht unterstützt.“ Und wer ihn nicht gelesen hatte, hörte ihn als wiederkehrende Lautsprecherdurchsage oder bekam ihn über die sozialen Netzwerke von der Regierung auf sein Mobiltelefon.

Ein Erfolg für beide Seiten?

Tatsächlich waren es weit weniger Teilnehmende als erwartet. Als am Nachmittag schließlich rund 15.000 Demonstranten in Begleitung eines massiven Polizeiaufgebots zur Plaza de Mayo marschierten, saß Präsident Javier Milei selbst vor den Bildschirmen im Lagezentrum der Polizei und beobachtete den Marsch.

Abgesehen von kleineren Rangeleien verlief der An- und Abmarsch friedlich. Am Ende erklärten sich beide Seite zu Siegern. Man habe sich nicht einschüchtern lassen, so der Tenor der sozialen Organisationen. Der freie Verkehr wurde gewährleistet, so die Regierung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • So ist Demokratie. Wenn dieser Heilsbringer erwartungsgemäß scheitert, wird er dafür gesorgt haben, daß man ihn nicht wieder los wird. Putin, Erdogan, Orban lassen grüßen! Und dann ist da auch noch der Retter des demokratischen Europas aus der Ukraine mit auf dem Bild.

  • Er wurde von der Mehrheit des Volkes gewählt. Offenbar war die sozialistische Regierung zuvor so schlecht, dass das Volk ihr nicht mehr traute. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob der Kettensägemann ein Fluch oder ein Segen für Argentinien ist.

    • @Rudi Hamm:

      Die Exekutive kann trotzdem nicht ein Paket von über 300 Gesetzen beschliessen. Dafür gibt es die Legislative. Zwar muss nur eine Kammer des Parlaments zustimmen, aber die Präsidentschaft hat wohl einen Fehler gemacht, als sie das zu einem Riesenpaket zusammenschnürten. Es gibt dafür vermutlich keine Mehrheiten.

    • @Rudi Hamm:

      manchmal erkennt man in der Vergangenheit, die Zukunft und daraus folgt, es wird nicht klappen, mehr als ein Ausverkauf ist nicht drin.....

      die Vergangenheit:



      www.relevante-oeko...ge-in-den-abgrund/

      • @nutzer:

        Ich persönlich halte ihn für einen Verrückten, der dem Land schaden wird. Aber es gilt was die Mehrheit wollte.