: Essen und Vergessen
VON BERNHARD PÖTTER
Die Erfolgsmeldung kam rechtzeitig zum Jubiläum: Endlich habe man einen BSE-Test am lebenden Tier entwickelt, verkündete Betram Brenig, Direktor des Tierärztlichen Insituts der Universität Göttingen am vergangenen Donnerstag. Anhand von Blutproben könne man bei Rindern feststellen, welche Tiere ein deutlich erhöhtes BSE-Risiko hätten. Der Vorteil: Bauern könnten mit dem neuen Verfahren verdächtige Tiere frühzeitig isolieren.
Der Haken an der Sache: Für eine offizielle Zulassung muss Brenig Tests an 200 lebenden BSE-kranken Tieren durchführen. Die aber gibt es nicht in Deutschland – weil BSE bisher erst diagnostiziert werden kann, wenn das Rind tot ist. Da beißt sich die Kuh in den Schwanz.
Das Beispiel zeigt die Hilflosigkeit beim Umgang mit der Rinderseuche BSE. Heute vor drei Jahren endete offiziell der Traum vom „BSE-freien Deutschland“ (siehe Kasten). Seitdem wurden 6.500 Rinder wegen BSE-Fällen in ihrer Herde notgeschlachtet. 400.000 Kühe wurden getötet, um den Fleischmarkt zu entlasten. Zwei Bundesminister (für Landwirtschaft und für Gesundheit) wurden gefeuert. 7,5 Millionen Kuhkadaver auf BSE getestet. 23 Millionen Euro Forschungsgelder ausgegeben. Das Ergebnis: Auch heute wissen Verbraucher, Politiker, Landwirte und Wissenschaftler nicht viel mehr als am 24. November 2000. Auf welche Weise entsteht die Krankheit? Warum wird sie auf andere Tiere übertragen? Wie stark sind die Menschen gefährdet? Auf die wichtigsten Fragen gibt es bisher keine wissenschaftlich fundierten Antworten.
„Das war auch nicht zu erwarten“, sagt Alexander Müller, Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium. „Es war immer klar: Die Erforschung und Bewältigung von BSE wird ganz viel Geld und ganz viel Zeit kosten“. Er verweist darauf, dass allerdings das Krisenmanagment funktioniert hat. Seit es verboten ist, Kälbern als Ersatz für die Muttermilch Tierfett zu füttern und seit das Verbot der Fütterung von Tiermehl überwacht wird, sind die neuen Fälle von BSE in Deutschland, der Schweiz und in Großbritannien drastisch zurückgegangen. „Wir haben zwar nicht den letzten Beweis für den Zusammenhang von Futter und BSE“, pflichtet dem grünen Müller in Berlin sein grüner Amtskollege Thomas Griese aus Nordrhein-Westfalen bei, „aber die Zahlen bestätigen unsere Vermutung.“ Grieses Chefin Bärbel Höhn, Umwelt- und Agrarministerin in Düsseldorf, berief sich auf den Verbraucherschutz, als sie bereits vor dem Dezember 2000 als Versuchsprojekt Rinder auf BSE testen ließ. Heute bestätigt Müller die Schlamperei seiner Vorgänger im Amt: „Es hat bereits vor Dezember 2000 BSE in Deutschland gegeben. Man wollte das nur nicht wahr haben. Man hätte das Risikomaterial schon viel früher entfernen müssen.“
Ganz wohl ist den Fachleuten nicht, wenn sie an die Zukunft denken. In der Öffentlichkeit ist das Thema BSE erst einmal erledigt. Das aber kann sich schnell ändern. Laut Müller könnte die Zahl der Neuinfektionen im nächsten Jahr wieder ansteigen – Kühe aus dem Jahrgang 1999, die jetzt zum Schlachten kommen, zeigen deutlich „mehr infektiöses Material“. Woran das liegt? Niemand weiß es.
Und woran liegt es, ob Menschen an BSE erkranken? Vielleicht an ihrer genetischen Veranlagung, vermutet inzwischen Hans Kretschmer, Professor für Neuropathologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Denn alle Opfer der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Großbritannien gehörten zu einer Gruppe mit gleichen genetischen Merkmalen, die etwa 37 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Ist diese Gruppe also anfälliger für die Krankheit?
In Deutschland gibt es bisher keinen Creutzfeldt-Jakob-Patienten, der sich an BSE infiziert hat. Oder doch? In Versuchen mit BSE-infizierten Mäusen entwickelten einige wenige Tiere statt wie erwartet die neue Variante, das alte, auch in Deutschland diagnostizierte Creutzfeldt-Jakob-Krankheitsbild. Gibt es also unerkannte BSE-Opfer? Und warum gibt es in Frankreich mit ähnlichen BSE-Zahlen Fälle von Patienten mit neuer Creutzfeldt-Jacob, in Deutschland aber nicht? „Das klingt alles sehr diffus“, sagt Kretzschmer. Aber man habe es bei BSE eben mit einem ganz neuen Phänomen in der Natur zu tun. „Es ist wie in der Krebsforschung: Es gibt Forschritte, aber wir kommen nur langsam voran.“
Aber die Veränderungen in der Landwirtschaft sollten schneller gehen, fanden die Kritiker, die schon seit Jahren bei jedem Lebensmittelskandal vor Gefahren gewarnt hatten. Das Entsetzen, das BSE und gleich darauf die Maul-und-Klauen-Seuche bei den Verbrauchern auslöste, wollten besonders die grünen Agrarministerinnen Künast und Höhn für eine „Agrarwende“ nutzen. „BSE muss für die industrielle Landwirtschaft das werden, was Tschernobyl für die Atomkraft war“, forderte Höhn: „Der Anfang vom Ende.“
Doch das System von subventionierter Überproduktion, von immer mehr Zahlungen an immer weniger Landwirte, von immer weniger immer größeren Fleischkonzernen und immer mächtigeren Lebensmittelkonzernen, die den Bauern die Preise diktierten, war nicht so schnell zu knacken. Und so waren denn auch für den Präsidenten des deutschen Bauernverbands, Gerd Sonnleitner, die „verschwindend geringen deutschen BSE-Fälle“ nur der Anstoß, „noch mehr Kontrollen im System aufzubauen“. Inzwischen „arbeiten alle besser zusammen, wenn es um die Sicherheit der Produktion geht“, sagt Sonnleitner. Er zitiert eine Emnid-Umfrage, nach der schon 2002 wieder 80 Prozent der Deutschen ein „hohes Vertrauen in die Landwirtschaft“ gehabt hätten.
Die Zahlen geben ihm Recht. Nach einem historischen Tief von 2001, als der jährliche deutsche Rindfleischkonsum von 9,6 auf 6,8 Kilogramm pro Kopf abgesackt war, hat er sich inzwischen wieder erholt. Die Deutschen essen wieder 8,4 Kilo Fleisch, und bestätigen damit den Trend, dass der Verbrauch leicht abnimmt. Auch das Bio-Rindfleisch, das im BSE-Jahr reißenden Absatz fand, ist wieder auf Vor-BSE-Niveau angelangt. Sehr zum Ärger von Tierschützern stiegen die Verbraucher von Rindfleisch auf Schwein oder Pute um, wo die Probleme mit artgerechter Haltung und Medikamentenzugabe weitaus größer sind als bei den Rindern.
Im Rückblick meint Sonnleitner, die deutschen Bauern hätten zwei schwere Jahre hinter sich – aber nicht wegen der BSE-Folgen, sondern wegen des Hochwassers und der Trockenheit. Einen entscheidenden Einschnitt für die deutsche Agrarpolitik sieht Sonnleitner am 24. November nicht: „Es hat personelle Einschnitte gegeben, aber keine Veränderung im System.“
War der 24. November 2000 ein Wendepunkt für die deutsche Agrarpolitik? Auch Lutz Ribbe, Landwirtschaftsexperte beim Umweltverband Euronatur, ist skeptisch. Ribbe hatte im Frühjahr 2001 für das Kanzleramt das kühne Konzept einer „verbraucherorientierten Agrarpolitik“ entworfen. Gefördert werden sollten die mittelständischen Bauern, wenn sie Umwelt- und Sozialauflagen erfüllten. Beihilfen sollten von der Produktion entkoppelt werden. „Alle diese Sachen sind jetzt durch die Reform des EU-Agrarsystems möglich“, sagt Ribbe heute.
„Aber gemacht wird kaum etwas.“ Denn der Wind hat sich gedreht: Die Agrarminister der Länder verwässern Künasts Vorhaben wie bei der Legehennenverordnung. In den EU-Staaten gibt es wenig Interesse an einer Agrarwende. Die Verbraucher essen wieder Fleisch. Und der Kanzler hat andere Sorgen. „BSE war nicht das Tschernobyl für die Landwirtschaft“, sagt Ribbe. „Im Gegenteil: Wir erleben ein massives Rollback der alten Agrarlobby.“
Das sieht Künasts Staatssekretär ganz anders. „Die Agrarwende ist im Gange“, sagt Müller. Es gebe eine Entkopplung der Zahlungen von der produzierten Menge, es gebe eine Umschichtung zugunsten von Sozial- und Umweltpogrammen, es gebe verbindliche Auflagen für die Landwirte beim Umweltschutz. „Wir haben einen vollkommenen Systemwechsel, das ist die größte Veränderung in der Agrarpolitik seit 30 Jahren. Der 24. November war ein großer Einschnitt für die deutsche und die europäische Landwirtschaft. Unter der Oberfläche passiert sehr viel.“
Das könnte auch für die Spätfolgen von BSE zutreffen. Allerdings hofft Thomas Griese, dass es nicht passiert. „Wenn wir Glück haben, bleiben wir in Deutschland von Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungen durch BSE verschont.“ Schließlich kämen statistisch gesehen möglicherweise erst auf 1.000 oder 2.000 oder 5.000 BSE-kranke Kühe ein kranker Mensch, sagt Griese.
Möglicherweise. Beweisen kann das niemand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen