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Die grüne Krise in uns

Die fetten Jahre sind vorbei. Weil die Grünen das kapieren, werden sie zum Sündenbock. Wie kann man dieser Tage noch Zukunft gestalten?

Illustration: Katja Gendikova

Von Peter Unfried

Wenn man in diesem Herbst mit Grünen über ihre Lage redet, dann gibt es zwei Gruppen, mal abgesehen vom Vizekanzler. Die einen reden einfach weiter ihr Zeug, als könnten sie die Krise damit zumindest von sich fernhalten. Andere sagen nach einer gewissen Brabbelphase im Off dann etwas Ungewöhnliches: dass sie ratlos seien.

Damit ist die Lage auf den Punkt gebracht. Nicht nur die der Partei, sondern die der liberaldemokratischen Politik, der Mediengesellschaft und letztlich der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind nicht mehr Papst, wir sind nicht mehr Weltmeister, wir sind ratlos. Und je ratloser wir werden, desto lauter brabbeln wir weiter.

Es handelt sich fast immer um Selbstablenkungsaktivismus. Bis hin zur Großdebatte über die emanzipatorische Rückständigkeit eines früheren Fernsehsuperstars, die Pars pro Toto für den diskursiven Stillstand unter emotionalem Hochdruck steht. Die einen sagen: schlimm. Die anderen: Nein, ihr seid schlimm. Die Nächsten: Wir haben echt Wichtigeres zu tun. Die anderen: Typisch antiemanzipatorischer Whataboutism. Und noch andere: Was ist das denn nun schon wieder Neumodisches?

Nun will ich nicht behaupten, dass die Grünen keine Probleme hätten. Ich will nur zunächst den Rahmen beschreiben, in dem das verhandelt wird. Dieser Rahmen ist die Spätmoderne und der Westen und die Bundesrepublik Deutschland in einer veritablen System- und Kulturkrise. Viel wurde erreicht mit den Mitteln des emanzipatorischen und fossil befeuerten Sozialdemokratismus.

Doch aus den offensichtlichen Gründen – Erderhitzung, Zerstörung planetarischer Grundlagen, globale Umverteilung von Wohlstand, neuer Systemkampf zwischen liberalen Demokratien und Autokratien und anderes – hat sich der Rahmen für Staat, Gesellschaft und Individuum so verändert, dass das bewährte politische Werkzeug und die gesellschaftliche Kultur keine Zukunft mehr hat, nicht mal mehr eine Gegenwart. Die Verluste des Fortschritts werden sichtbarer und spürbarer und es nehmen die Zweifel zu, ob liberale Demokratien das reparieren werden können, wie Andreas Reckwitz in seinem neuen Buch „Verlust“ beschreibt.

Je klarer das wird, desto größer wird die Unsicherheit und die Angst. Und desto stärker wird die Sehnsucht, dass es eben doch irgendwie hinhaut, indem man die radikalen Veränderungen des Rahmens ignoriert und halt „erst mal“ ohne emissionsfreies Heizen und mit Verbrennungsmotoren weitermacht.

In diesem Zusammenhang wird den Grünen zweierlei vorgeworfen: dass sie zu viel gemacht hätten und dass sie zu wenig gemacht hätten.

Wie passt das zusammen? So: In Bezug auf den veränderten planetarischen und geopolitischen Rahmen machen sie als Teil der Regierung viel zu wenig. In Bezug auf die Erstarrung des bundesrepublikanischen Lebensgefühls machen sie sich mit Zukunftspolitik gemein und werden dafür – choreografiert von globalen und nationalen Machtinteressen – durchs Dorf gejagt. Es ist wie mit dem antiken Boten, der die schlechte Nachricht bringt und dafür getötet wird. Das löst das Problem nicht, aber für einen Moment fühlt es sich wie Handeln an.

Dabei hatte die Zukunftsorientierung ins postfossile Wirtschaften und Leben ein Jahrzehnt lang für die Grünen eingezahlt. Erst durch die Atomkatastrophe von Fukushima und dann vor allem durch Fridays for Future versöhnten sich wachsende Teile der Gesellschaft mit dem Gedanken: Dann machen wir das halt jetzt. Am Beispiel von Baden-Württemberg und seines langjährigen Grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann kann man sehen: Dieser Impuls muss von außerhalb der Grünen kommen und breite emotionale Kraft haben, in seinem Fall war das Fukushima 2011. Aber man kann den Impuls nutzen und verstetigen durch mehrheitsorientierte Politik, wie Kretschmann durch zwei Wiederwahlen bewiesen hat, zuletzt mit 32,6 Prozent.

Dieses positive Gefühl gegenüber Klimapolitik ist inzwischen durch verschiedene Kräfte und Treiber in ein negatives verwandelt, das sich auch gegen die Grünen wendet. Weil die Erderhitzung heute aber nicht mehr zu leugnen ist, sondern nur noch zu relativieren, wird das verbrämt mit dem berühmten Blockierersatz: „Grundsätzlich schon, aber nicht jetzt und nicht sooo.“ Als Beleg nimmt man dankbar den (teilweise abgebrochenen) Versuch der Bundesregierung, durch eine Novelle des Gebäude-Energie-Gesetzes (GEG) der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens näherzukommen.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder dieses „Heizungsgesetz“ war wirklich so schlecht gemacht, wie es die Deutungshoheit zu sein scheint. Oder es wurde genauso zur Desavouierung von Klimapolitik genutzt wie dereinst der „5 Mark-Benzinpreis“ und der „Veggie-Day“. Ich tendiere zu letzterer Einschätzung.

Im Moment ist Zukunftspolitik jedenfalls weitgehend desavouiert, und es sind die Bundesgrünen als aktive Verantwortliche für Zukunftspolitik in jenem Teil der Gesellschaft desavouiert, in den sie als vermeintliche Volkspartei der 20er Jahre bereits vorgestoßen waren: der gemäßigten Konservativen, die anschlussfähig zu sein schienen an gemäßigt progressive Politik. In Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und NRW ist das anders, aber das läuft im Moment unter dem mediengesellschaftlichen Radar.

Nun sind die Grünen-Funktionäre selbstverständlich auch nicht alle im 21. Jahrhundert angekommen. Gerade wenn die Umfragewerte sinken, dann steigen die Fliehkräfte.

Deshalb ist es schwer zu entscheiden, ob wir Medien die Grünen zurückinterpretieren in die Vergangenheit oder ob Funktionäre selbst zurückdrängen in die gute, alte Zeit des hochmoralischen Sprechens ohne reale Verantwortung für den Westen, Europa, Kriege, Verteidigungsfähigkeit, globalen Terror, Wirtschaftswachstum, CO2-Reduktion, Energieversorgung bis hin zur menschlichen Zukunft im Vormarsch der künstlichen Intelligenz.

Anja Weber

Peter Unfried

ist Chefreporter der taz sowie Chefredakteur der taz FUTURZWEI.

Tatsächlich ist es ganz und gar nicht einfach, den historisch-kulturellen Kanon der grünennahen Milieus (Frieden, Menschenrechte, Emanzipation, deutsche Schuld) mit der Realität der Gegenwart (Angriffskrieg auf Europa, Israel-Palästina, Waffenlieferungen, Flucht, Welthandel) zusammenzubringen. Auch viele „Progressiven“ sind heute längst nostalgisch und predigen weiterhin vom Fortschritt, der jedoch längst keine Grundlage mehr hat, wenn er sie den je hatte.

Das zentrale Problem dieser Gesellschaft löst dagegen kaum Emotionen aus. Es ist das drohende Ende der Gestaltung von Zukunft, also des zen­tralen Versprechens der Moderne und der Aufklärung an den Menschen. Das sollten die Grünen in die Regierungen bringen und nun droht ihnen der Verlust der Kompetenzzuschreibung dafür.

Das wird evident durch die unterschiedlichen Rezeptionen des mutmaßlichen Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Wenn der Vizekanzler differenziert vorwärtstastende historisch-kulturelle Reden hält, kriegt er riesige Zustimmung dafür, weit über die Parteigänger hinaus. Genauso möchte sich ein großer Teil der Mitte in der Welt repräsentiert sehen. Spricht Habeck aber als Wirtschaftsminister, begleitet ihn Skepsis und lösen auch große Erfolge keine vergleichbaren Gefühle aus. Weshalb die politischen Gegner ihn stets und erst recht im kommenden Wahlkampf als „schlechtester Wirtschaftsminister aller Zeiten“ brandmarken werden. Ihre zukunftspolitische Vorstellung reduziert sich auf eine Sache: dass die Grünen wegmüssen.

Ob nun Union und SPD in den langen gemeinsamen Regierungsjahren nicht rechtzeitig die Politik änderten, um das Land zukunftsfähig zu machen, weil wir Leute das nicht mitgemacht hätten oder ob wir Leute es heute nicht mitmachen, weil diese Parteien niemals das Gespräch darüber mit uns aufnahmen – das ist Wasser unter der Brücke. Jedenfalls war es so, dass das lange verdrängte Nichtsprechen und Nichthandeln sichtbar wurde in dem Moment, in dem die Grünen Teil der Bundesregierung wurden. Solarindustrie abgewickelt, Autoindustrie schwer hinterher, Stahl­industrie in Not, Bundeswehr nur noch eine Attrappe, Energieabhängigkeit von einem gefährlichen Feind und so weiter.

Es handelt sich faktisch um einen Kollateralschaden der CDU/SPD-Jahre, in der die Idee der Veränderung ohne Veränderung so zentral gemacht wurde, dass die Betreiber dieser Illusion nun schlecht sagen können: Leute, das haben wir verbockt, sorry. Hier wird sich einiges ändern und das kostet auch richtig was.

Das lange verdrängte Nichtsprechen und Nicht­handeln wurde sichtbar in dem Moment, in dem die Grünen Teil der Bundes­regierung wurden

Wer ansatzweise in Richtung Realität handelt, kriegt es mit allen anderen Parteien zu tun. Und wenn Robert Habeck dann gar noch andeutet, dass man Dinge hinkriegen kann, rasten Leute vollends aus. Zukunft gestalten und hinkriegen? Unverschämtheit.

Aus der Desavouierung von Zukunftspolitik soll eine Desavouierung von Zukunft gemacht werden. Zukunft ist schlecht. Von europäischer Zukunft schon gar nicht mehr zu reden. Die Deutschen, das ist auch eine Gefahr, ziehen sich zurück in das Nationale, und damit meine ich nicht Rechtspopulisten. Die Krise der Grünen ist unser aller Krise.

Jetzt ist es nicht ausgeschlossen, dass ich selbst auch ein nostalgischer Progressiver bin, aber ich denke, es gibt in diesem Land auch liberaldemokratische Aufbruchsbereite, ich schätze mal optimistisch mindestens 25 Prozent. Das sind Leute, unterstelle ich, die sich ihrer Ratlosigkeit ernsthaft stellen, statt einfach immer nur weiterzubrabbeln und weiterzudenken wie bisher. Das ist die Grundlage eines neuen Gesprächs über einen Aufbruch, der – Reckwitz weitergedacht – die Bewahrung progressiver Errungenschaften sicherstellt und mit den Verlusten einigermaßen konstruktiv umgeht. Es ist höchste Zeit, diese Aufbruchsbereiten zu adressieren, sichtbar zu machen und zu einem Machtfaktor auszubauen.

Es wird kaum zu verhindern sein, dass die nächste Bundesregierung von der Union geführt wird. Das Ziel der Aufbruchsbereiten muss sein: Nicht ohne uns.

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