Lost im ÖPNV: Wehe, du fährst nach Berlin!
Gerne heißt es, der ländliche Raum sei vom Nahverkehr abgehängt. Eine Pendeltour von Brandenburg nach Berlin zeigt: Das Gegenteil ist der Fall.
M an kennt das ja von der Berliner U-Bahn. Die BVG-Minute auf den Anzeigen ist nicht nur eine grobe Schätzung. Sie ist in den meisten Fällen eine arglistige Täuschung. Im Normalfall dauert eine BVG-Minute mindestens zwei Minuten. Wenn laut Anzeige die nächste U-Bahn in drei Minuten kommen soll, sollte man also mit sechs Minuten plus x kalkulieren.
Das nur als kleiner Hinweis für Touris, die aus Städten kommen, in denen es einen funktionierenden Nahverkehr gibt. Und lasst euch auch nicht einlullen, dass euch die BVG „liebt“. Wenn's drauf ankommt, lässt sie euch sitzen. Hinweis Ende.
Als ich diese Woche vom Wohnsitz in Ostbrandenburg zum Wohnsitz in Berlin pendeln wollte, zeigte die Anzeige auf der Bölschestraße in Friedrichshagen 6 Minuten Wartezeit an. Die darauffolgende Tram sollte sogar erst in 36 Minuten kommen. Ich überschlug schnell, was das bedeutet. Auf die erste Tram würde ich mindestens 12 Minuten warten müssen. Sollte die nicht kommen, was ja inzwischen eher die Regel als die Ausnahme ist, wären es sogar 72 Minuten Wartezeit. Das sind eine Stunde und 12 Minuten.
In Friedrichshagen war ich gestrandet, weil die S-Bahn mal wieder kaputt war. Die S-Bahn musste ich in Erkner nehmen, weil es wieder Schienenersatzverkehr auf der RE 1-Strecke von Frankfurt (Oder) nach Berlin gab. Das kennen die Pendler schon: Die Bahn baut, wann und wo sie will, und meistens informiert sie die betroffenen Bahnunternehmen wie die Odeg erst kurz vorher.
Von Erkner die S-Bahn nehmen, ist kein großes Ding. Normalerweise teilt einem die App des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg VBB mit, wann die S3 abfährt und wann sie, in meinem Fall am Ostkreuz, ankommt. Leider ist die VBB-App inzwischen genauso kaputt wie die Deutsche Bahn, ihre Tochter S-Bahn Berlin, die Berliner Verkehrsbetriebe und natürlich deren Betreiberin, das Land Berlin mit seinem schwarz-roten Senat. Der hat mal versprochen, dass Berlin jeden Tag besser werde. Zuletzt sind bei der BVG 69 Züge ausgefallen, die U3 verkehrte alle 30 Minuten. In Warschau ist mir das noch nie passiert.
Gestrandet in Friedrichshagen
An dem Tag, an dem ich von Ostbrandenburg nach Berlin fuhr, schwieg die App also. Zwar war von Reparaturen auf der Strecke die Rede, nicht aber von einem Schienenersatzverkehr. Erst später dachte ich: Hättest du bloß auf den DB-Navigator geguckt. Der ist inzwischen zuverlässiger als die VBB-App. Warum der Navigator eines Unternehmens funktioniert, dieses Unternehmen aber genauso kaputt ist wie der Senat, darüber will ich jetzt nicht nachdenken.
Gestrandet in Friedrichshagen, gab ich der App eine zweite Chance. Die Tram-Linie 60, hieß es, würde mich zum Brandenburgplatz bringen, von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte, von dort sollte es mit der Buslinie 169 zum U-Bahnhof Elsterwerdaer Platz gehen. Dort, in Biesdorf, könnte ich in dann in die U5 steigen und mich auf den Weg zum Alexanderplatz machen.
Allerdings zeigte die App die Abfahrt der Tramlinie 60 nicht mit der für die BVG üblichen Verspätung an, sondern mit einer – Achtung! –Verfrühung von -6 Minuten. Das macht nach Adam-Riese also -12 BVG-Minuten. Die Tram wäre weg.
Oder soll ich sagen, die Tram wäre weggewesen? Denn auch die Tram war kaputt. An ihrer statt, das zeigte nicht die App, sondern die Anzeige an der Haltestelle, sollte ein Schienenersatzverkehrsbus fahren. Eine Abfahrtszeit wollte die Anzeige allerdings nicht anzeigen. Da passt es auch ganz gut, dass die BVG nicht mehr auf „X“ ist. Manche Diskussionen will man einfach nicht mehr haben.
Mittlerweile herrschte auf der Bölschestraße ein Trubel wie sonst auf der Piazza Navona in Rom. Eine ganze S-Bahnladung Reisender wechselte von einer Straßenseite auf die andere, in der Hoffnung, dort irgendeinen Anschluss zu finden. Wäre mein Handy-Akku vor lauter App-Checken nicht fast leer gewesen, hätte ich die Szene gerne gefilmt. Man hätte dann gesehen, wie Gestrandete und Autofahrer sich eine Straße teilen. Es hatte etwas Utopisches, fast schon Heiteres, es erinnerte mich an die „Shared Spaces“, von denen Mobilitätswendefreunde immer schwärmten, bevor die CDU damit anfing, Berlin jeden Tag besser machen zu wollen.
Plötzlich entdeckte ich auf der Anzeige eine Tram, die Richtung Schöneweide fahren sollte und überlegte, ob ich die 45 Minuten Fahrt auf mich nehmen sollte. Doch die Tram war nur angezeigt. Natürlich kam sie nicht.
Dann endlich, in der Ferne ein Bus. Auf seiner Stirn leuchtete es verheißungsvoll: „S3 SEV“. Die Heiterkeit endete abrupt: Eine ganze S-Bahn-Ladung begab sich an der Bushaltestelle in Startposition. Ich hatte Glück und bekam einen Platz, musste aber die Alkoholfahne meines Sitznachbarn ertragen, der zu seinem Kumpel immer wieder sagte: „Und nachher machen alle einen Corona- und Schwangerschaftstest.“ „Hoho“, grölte der Kumpel, noch lauter grölte der mit der Fahne über seinen Witz.
Dann erloschen die Anzeigen
Ich weiß nicht mehr, wann wir am S-Bahnhof Karlshorst ankamen, es war längst dunkel. Auf dem Bahnsteig verkündete die Anzeige: Ostbahnhof in 6 Minuten, dann wieder in 40 Minuten. Der erste Zug, der abfuhr, nahm die Gegenrichtung nach Wuhlheide. Dann erloschen die Anzeigen.
Irgendwann kam sie dann, die S-Bahn. Angeblich bis Grunewald. Natürlich fuhr sie nur bis Ostbahnhof. Mir war das egal. Als ich am Ostkreuz ausstieg, sah ich, dass die S-Bahn in Gegenrichtung wieder bis Erkner rollte. War die Reparatur auf der Strecke etwa abgeschlossen? War meine Odyssee völlig umsonst gewesen? Hätte ich nur in Erkner etwas warten müssen?
Oder war auch das wieder nur eine Falschmeldung? Gut möglich wäre auch, dass der Verkehr wieder normal rollte, die VBB-App aber immer noch Alarm schlug.
In Pankow angekommen, schrieb ich meiner Frau, die in Brandenburg geblieben war: „Es heißt immer, dass die auf dem Land abgehängt sind. In Wirklichkeit geht auf dem Land alles ganz fix. Aber wehe, du fährst nach Berlin!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Streitgespräch über den Osten
Was war die DDR?
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!