Historie der deutschen Grenze: Grenzen sind so 19. Jahrhundert
Die Debatte um die Grenzen Deutschlands erinnern an historische Debatten um nationale Souveränität – und zeigt: Grenzen sind soziale Konstrukte.
Nur wenige Tage nach der Ausweitung von Grenzkontrollen Mitte September bebilderte der Spiegel die „Neue Härte in der Migrationspolitik“ mit einer von vermummten Polizisten umringten Innenministerin. Etliche Artikel zitierten den Chef des BKA, der vom bereits erfolgreichen Kampf gegen Schleuser sprach.
Keine Frage, die medienwirksame Ausweitung von Grenzkontrollen hängt mit der rassistischen Mobilmachung der gesellschaftlichen Mitte in der sogenannten Migrationsfrage zusammen. Darüber hinaus führen die Maßnahmen zu einer Renationalisierung von Grenzen.
Das, was hier so medienwirksam in Szene gesetzt wird, ist die Erinnerung daran, dass zur Nation ein Territorium gehört, dessen polizeiliche Kontrolle alle Angehörigen der vorgestellten nationalen Gemeinschaft angeht. Dies etabliert nach Jahrzehnten europäischer Freizügigkeit nun ausgerechnet die Ampelregierung. Jenseits linker Warnungen vor dem Eingriff in das Asylrecht gibt es daran kaum umfassende Kritik.
Ähnliche Maßnahmen führten Ende des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden, erhitzten Debatten. Dabei musste das Verhältnis des Staates zu seinem Gebiet in diesem Zeitraum erst bestimmt werden. Staatsrechtler wie Georg Jellinek, Paul Laband oder Hugo Preuß konstatierten die „Notwendigkeit eines abgegrenzten Gebiets für das Dasein des Staates“, dass also der Staat durch sein Territorium verkörpert werde.
Preuß formulierte, „eine Verletzung des Reichsgebiets“ sei „eine Verletzung des Reichs selbst“ und entspreche somit eher „einer Körperverletzung, nicht einem Eigentumsdelikt.“ Dies machte Grenzüberschreitungen überhaupt erst zu einer gravierenden Angelegenheit.
Vor allem bürgerliche Reisende beschwerten sich
Auch polizeiliche Kontrollen – wie sie nun an allen deutschen Außengrenzen vorgesehen sind – waren alles andere als selbstverständlich, zumal sich die moderne Polizei erst entwickelte. Als 1888 an der deutsch-französischen Grenze aufgrund außenpolitischer Spannungen eine Passkontrolle eingeführt wurde, folgten aufgebrachte Reaktionen.
Die Grenzpolizei prüfte die Staatsangehörigkeit von Reisenden, die diese jedoch oft nicht einmal selbst kannten. Das lag an komplizierten Regelungen in Elsass-Lothringen, für Frauen auch an Heirat, aber auch an dem, was in der Forschung als nationale Indifferenz bezeichnet wird.
Vor allem bürgerliche Reisende beschwerten sich, wie etwa ein Mann, der laut Frankfurter Zeitung bei der Passkontrolle „in einer Weise behandelt wurde, als ob er irgendeines Verbrechens verdächtig wäre“. Deutsche und französische Zeitungen kritisierten immer wieder die Willkür des polizeilichen Vorgehens.
Passpflicht stünde „zu den Verkehrs-Verhältnissen der Jetztzeit in grellem Widerspruch“
Vor allem aber galten die Passmaßnahmen als unmodern. Im Reichstag verglich ein elsässischer Abgeordneter, die Maßnahme mit Verhältnissen in Russland, „das man bis dahin als ein halb barbarisches Land angesehen hat“. Zeitungen warnten, dass Deutschland „in den Ruf eines ‚wilden Landes‘“ komme und dass die Passpflicht „zu den Verkehrsverhältnissen der Jetztzeit in grellem Widerspruch“ stehe.
Diese Kritik wird nur verständlich, wenn man bedenkt, dass seit der Reichsgründung 1871 Pässe an der Grenze weder für Staatsangehörige noch für Ausländer nötig waren. Generell wurden im 19. Jahrhundert Reisende eher im Landesinneren kontrolliert, sozialer Status war wichtiger als Nationalität und Migration wurde durch Ausweisungen reguliert. Somit erschien die polizeiliche Kontrolle als unzeitgemäß und warf grundlegende Fragen nach einem „zivilisierten“ Umgang mit der Grenze auf.
Ein Einwand findet sich ähnlich auch heute: der ökonomische Nachteil. So wie derzeit Pendler:innen und Wirtschaftsverbände Grenzkontrollen innerhalb der EU als belastend bezeichnen, bemängelte etwa das Berliner Tageblatt den „verderblichen Einfluss auf Handel und Industrie“, die internationale Kundschaft bliebe aus und Rohstoffe erreichten ihr Ziel nicht mehr. Eine Kritik an Grenzkontrollen überhaupt war und ist damit jedoch nicht verbunden.
Die Passmaßnahme von 1888 wurde drei Jahre später wieder aufgehoben. Doch der mediale Fokus auf Grenzpolizei und Grenzzwischenfälle führte zunehmend zu einer Nationalisierung der Grenze. Mit technisch immer schnellerer Berichterstattung wurde es nicht nur für die Außenpolitik notwendig, sich mit dem „Grenzverletzungsproblem“ auseinanderzusetzen.
3.800 Kilometer Grenze
Auch für die Öffentlichkeit wurde die Grenze und ihre Überschreitung immer relevanter. Bilder und Berichte erreichten Leser:innen in allen Teilen des Deutschen Reichs und etablierten überhaupt erst, dass Grenzkontrollen von nationaler Relevanz waren.
Auch heute zeigen Pressefotos, Hoheitszeichen oder Polizisten, die Autos durchsuchen, und Reportagen berichten von „vor Ort“ über Verhaftungen und Zurückweisungen. Es gibt wieder eine Aufmerksamkeit für die territorialen Ränder der Nation. Während es zuletzt vor allem „Freie Sachsen“ oder „Identitäre“ waren, die immer wieder Grenzabsperrungen simulierten, sind es nun offizielle politische Maßnahmen, die die Grenzen derart ins Bewusstsein rücken.
Sowohl für heute wie damals heißt dies allerdings nicht, dass Grenzen sich tatsächlich umfassend überwachen ließen. Der Rede von „massiven Zurückweisungen“, stehen 3.800 Kilometer Grenze gegenüber, die insgesamt nur sporadisch kontrollierbar sind. Und dennoch hält sich die Rede vom „Öffnen“, „Schließen“ oder gar von der Grenze als Mauer.
Diese Metaphern sind zentraler Bestandteil des nationalen Spektakels, weil sie verschleiern, dass Grenzen eine Praxis sind, die Menschen durchsetzen und eine Erfahrung, die Menschen machen. Wie diese aussehen, ist jedoch Teil eines gesellschaftlichen Deutungskampfes.
Und hier sehen wir eine Entwicklung, die der Nationalisierung der Grenzen des ersten deutschen Nationalstaates ähnelt. Rechtliche Normen – heute die europäische Freizügigkeit, damals die Passfreiheit – werden durch Ausnahmeregelungen außer Kraft gesetzt.
Grenzkontrollen machen das Territorium zu einer Sache des nationalen Interesses. Dies bedeutet nicht nur einen massiven Eingriff in die Bewegungsfreiheit zahlreicher Menschen und die Zurückweisung von Geflüchteten.
Unter Rückgriff auf die Polizei wird wieder eine nationale Gemeinschaft beschworen, die sich ihrer Grenzen bewusst sein soll. Das ist ein Appell, der nichts Gutes verheißt.
Leser*innenkommentare
1Pythagoras
Sehr viele Worte um letztendlich einen Punkt für unkontrollierte Migration zu versuchen.
Dabei bleibt unerwähnt, dass genau dies den Aufstieg der AfD befeuert hat.
PeerTuba
Staaten haben, wie Körper, eine „Aussenkante“. Die das drinnen von draussen trennt. Allein dadurch wird Autonomie erst ermöglicht.
Die USA, die Briten etc. haben ja gar keine Pässe aber trotzdem Grenzen.
Diese definieren nach innen wie nach aussen gewisse Hoheitsrechte, die selbst innerhalb des „Körpers“ das eine Organ gegen das andere Organ Autonomie garantieren.
Abraham Abrahamovic
"Dies bedeutet nicht nur einen massiven Eingriff in die Bewegungsfreiheit zahlreicher Menschen"
Inwiefern? Verweigert man EU-Bürgern die Einreise? An Flughäfen gibtt es auch Kontrollen und man muss Zeit mitbringen, Züge verspäten sich oder fallen aus.
Lasst doch mal die Kirche im Dorf.
rero
Der Artikel macht sehr gut deutlich, die Jungen AfD wählen.
Wir erleben gerade, dass das Staatsgrenzen und deren Überschreitung ein bestimmendes Thema des 21. Jahrhunderts wird.
In Amerika, in Europa -inner- und außerhalb der EU - , in Asien und in Afrika.
Das zu ignorieren, ist Realitätsverweigerung.
Die politische Linke hat auf die Gefahr durch einwandernde Islamisten mit terroristischen Absichten schlicht keine Antwort.
(Ja, das ist zahlenmäßig nur eine sehr kleine Gruppe.)
Sie erkennt nicht mal die Sorge davor wirklich als berechtigt an.
Im Rückgriff des Artikels auf das 19. Jh. wird erklärt, was die Alternativen zu Grenzkontrollen sind: Kontrollen im Landesinneren, Regulierung der Migration durch Ausweisungen.
Neudeutsch: verdachtsunabhängige Kontrollen sowie Zurückweisungen und Abschiebungen.
Das ist doch aber genau das, was die Autorin unter "rassistische Mobilmachung" subsumiert.
Zudem ist der soziale Status wichtiger als die Zugehörigkeit zur Nation.
Das bedeutet, soziale Gleichheit ist kein Wert. Im Gegenteil.
Dieses Gesellschaftsmodell ist rechts von der CDU anzusiedeln.
Ist die Linke so erstarrt, dass sie keine Antworten auf die aktuellen Fragen findet?
GregTheCrack
Die Argumente überzeugen nicht: Grenzen seien nur ein soziales Kontrukt, sagt der Autor.
Es stimmt das Gegenteil: sie waren immer da und ihr Nicht-Vorhandensein ist ein Märchen.
Vigoleis
Nur ein paar kurze Überlegungen: Grenzen sind wichtig, um Identität zu gewinnen, das gilt für das Individuum genauso wie für Kleinstgruppen, größere Gruppen, Interessenverbände, Verwaltungseinheiten u.s.w.
Grenzen schaffen Übersichtlichkeit.
Grenzen durchlässig zu machen heißt nicht, sie zum Verschwinden zu bringen. Eine anscheinend unsichtbare Grenze macht es u.U. nötig, genau hinzuschauen.
Grenzen sind nur für denjenigen lästig, den sie aus- oder einsperren. Für die anderen sind sie von Nutzen. Grenzöffnungen ändern Perspektiven und beinhalten immer Handlungsanweisungen.
Grenzüberschreitungen werden durch Wunden markiert.
Letztlich ist sogar meine Freiheit begrenzt, bekanntlich dort, wo die Freiheit...
Nairam
Lieber Sanni,
leider hilft es überhaupt nicht, sich hier über AfD-Dummheit zu beklagen.
Diese Leute wissen nicht einmal, dass es die TAZ gibt, vielleicht können sie nicht einmal lesen.
Aber dem Leser dieser Zeitung geht Ihr Beitrag runter wie Öl. Das ist ja auch schon was.
Nachtsonne
Grenzen sind nicht nur soziale Konstrukte, sondern sie Trennen auch unterschiedliche Kulturen. Dies kann sinnvoll sein. Nicht jede politische Idee, die in Deutschland gut funktioniert muss gut in Frankreich klappen und umgekehrt. Kulturelle Differenzen als potentielle Konfliktquelle innerhalb von Gesellschaften vollständig zu ignorieren greift zu kurz.
maxwaldo
"Grenzkontrollen machen das Territorium zu einer Sache des nationalen Interesses. "
Vermutlich der einzig vernünftige Satz in diesem Artikel, der strömt Stubenhocker Mentalität aus von jemand der noch selten eine andere als die deutsche Staatsgrenze passiert hat. Den genau darum geht es. Zu einem Staat gehören Volk, Territorium und Staatsgewalt. Die Staatsgewalt dient dazu, dass es Recht und Gerechtigkeit für das Staatsvolk innerhalb des Staatsterritoriums gibt. Gäbe es eine Jurisdiktion auf weltweiter Basis, wovor uns Gott bewahre, haben doch schon in Deutschland die Bayer und Preußen untereinander so ihre Probleme, dann wären Grenzen nicht mehr nötig. Es gibt etwas zu beschützen innerhalb des deutschen Staatsgebietes. Nicht jeder ist dieser Meinung und mancher findet Deutschland sogar "Scheisse". Aber für den/die wären andere Lokationen vielleicht doch die bessere Wahl.
Wurstprofessor
"Generell wurden im 19. Jahrhundert Reisende eher im Landesinneren kontrolliert, sozialer Status war wichtiger als Nationalität und Migration wurde durch Ausweisungen reguliert."
Aha. Und das war besser so?
Auch "so 19. Jahrhundert": der Sozialstaat. Wurde etwa gleichzeitig mit dieser Grenzen-Sache eingeführt, aus (auch vielen anderen) Gründen.
*Sabine*
Für mich bedeuten Grenzen in erster Linie die Sicherung von "Rechtsräumen".
Auch wenn ich lieber in einer Welt ohne Grenzen leben möchte, weiß ich es zu schätzen, dass, überspitzt ausgedrückt, nicht einfach Taliban-Angehörige, da wo ich wohne, ihre Lebensvorstellungen durchsetzen können, ohne sich strafbar zu machen. Sie könn(t)en es versuchen, aber sie machen sich damit strafbar und das ist für mich wichtig.
Sanni
Ich muss so über unsere Regierung und ihre Verzweiflung lachen. Eifern der AfD nach und tappen von einer in die nächste ausgelegte Falle. Es ist einfach nur lächerlich, denn man darf sich bei all der Geschehnissen nicht in die Irre leiten lassen. Das sind alles unsere Freiheiten, die uns genommen werden. Freiheiten, für die andere gekämpft haben, werfen wir heute weg, weil die AfD-Dummheit grassiert. Eine Pademie der Dummheit.
Emmo
@Sanni Das Problem: würde "Open Borders" umgesetzt, hätte die AfD wohl bald absolute Mehrheiten in Bund und Ländern - oder sind Sie da anderer Meinung?