Protest von Erzieher*innen 1990: Kita-Streik? Da war mal was
Vor 35 Jahren erlebte Berlin schon mal einen unbefristeten Kita-Streik. Nach 10 Wochen wurde er zwar ergebnislos beendet. Trotzdem war er ein Erfolg.
Wenige Monate später traten die Erzieher*innen dann im Januar 1990 in einen unbefristeten Erzwingungsstreik, der zehn Wochen, bis Ende März 1990, andauern sollte. Die Gewerkschaften forderten damals kleine Gruppengrößen, bessere Betreuungsschlüssel und dass die Vor- und Nachbearbeitungszeiten für Erzieher*innen in den Kitas auch tariflich entlohnt werden sollten.
Die Parolen lauteten damals: „Pädagogische Arbeit statt Aufbewahrung“, „Kein Kindergartentag ohne den Tarifvertrag“ oder „In der Kita steppt der Bär, Tarifverträge müssen her“. Manchmal wurden die Losungen auch als Lieder gesungen.
Besonders ist dieser Streik auch aus einem weiteren Grund: Es ist einer der wenigen Streiks, der fast ausnahmslos von Frauen getragen wurde. Rund 2.500 Erzieher*innen waren damals in der Westberliner ÖTV (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr), der Vorgängerorganisation der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisiert. Rund 800 waren Mitglieder in der Berliner Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Nach dem Urteil des Arbeitsgerichts vom Freitag ist unklar, ob und wann der Kita-Streik beginnen kann. Nachdem das Gericht den unbefristeten Streik untersagt hatte, hatte die Gewerkschaft Berufung beim Landesarbeitsgericht angekündigt. Das wird wohl Mitte der Woche ein Urteil verkünden. Ursprünglich war geplant, die landeseigenen Kitas ab Montag zu bestreiken. Parallel zur juristischen Auseinandersetzung laufen weiter Gespräche zwischen Verdi und Senat. (taz)
„Gequengel, Gebrabbel und Windelgeruch“
An den Streiks beteiligten sich rund 5.000 Erzieher*innen aus rund 400 Kitas. Schon am ersten Tag ruhte in 354 der 395 städtischen Kitas in Westberlin die Arbeit, betroffen waren demnach rund 46.000 Kinder. Die taz schrieb über „ungewohntes Gequengel, Gebrabbel und Windelgeruch in U-Bahnen, Betrieben und Behörden“.
Die streikenden Erzieher*innen betraten auch aus Sicht der Gewerkschaften Neuland: „Es ging nicht um die ‚traditionellen‘ gewerkschaftliche Forderungen nach mehr Geld oder kürzeren Arbeitszeiten“, schreibt Bärbel Jung von der GEW in einer Würdigung des Streiks in einer Sonderausgabe der Berliner Bildungszeitschrift 30 Jahre später.
Den Erzieher*innen sei es stattdessen um Personalschlüssel, Gruppengrößen, Vor- und Nachbereitungszeiten gegangen und um Fort- und Weiterbildungen, die sie in einem Tarifvertrag festschreiben wollten. Der Senat, schreibt Jung, sei nicht müde geworden zu betonen, „dass diese Forderungen nicht tarifierbar seien“. Der damalige Innensenator Erich Pätzold (SPD) lehnte die Forderungen kategorisch ab.
Jeden Donnerstag, zum „Tag der Solidarität“, zogen die Streikenden mit einer Kundgebung vor das Rathaus Schöneberg, den damaligen Sitz des Senats. Dorthin seien teils auch Erzieher*innen von Kitas der Freien Träger gekommen, um den Streik zu unterstützen, genauso wie Eltern oder manchmal auch Lehrer*innen mit ihren Schüler*innen, die so ihren „Sozialkundeunterricht vor das Rathaus verlegten“, wie Jung schreibt. Auch bei der Berlinale hatten die Erzieher*innen einen Auftritt – damals noch vor dem Zoo-Palast.
Solidarität der Eltern
Ab 6 Uhr hätten Erzieher*innen vor jeder Kita Streikposten gestanden, in den bezirklichen Streiklokalen diskutierten sie und tauschten sich aus. Eltern seien mit Kaffee und Kuchen vorbeigekommen, berichtet eine Streikbeteiligte, die heute bei Verdi ist. Die Solidarität der Eltern sei immens wertvoll gewesen.
Es gab eine Streikzeitung, Versammlungen in den Bezirken und wöchentliche Streikversammlungen im Audimax der Technischen Universität Berlin. Der Streik damals habe gezeigt, welche ungeheure Kraft die Erzieher*innen entfalten konnten, schreibt die ehemalige GEW-Referentin Bärbel Jung 2020.
Andere damals am Streik Beteiligte erinnern sich, dass die Erzieher*innen auch Straßen blockiert und Busse aufgehalten haben. Sie erinnern sich an große Solidarität zwischen Streikenden, Kitaleitungen und Eltern.
Von den Eltern hätten viele Verständnis gehabt, blickt eine beteiligte Erzieherin zurück. Sie hätten sich teils zusammengetan, um die Kinder gemeinsam zu betreuen, etwa in einer Not-Kita im Urban-Krankenhaus. Nachbar*innen und Freunde seien eingesprungen, Großeltern nach Berlin geholt worden.
Streikende scheiterten an starrer SPD
Doch die Stimmung sei irgendwann auch gekippt, vor allem nach negativer Berichterstattung in der Presse über die „heulende Mutter mit zwei Kindern, die ihren Job verliert“.
Für die Gewerkschaft ÖTV war der Streik besonders, weil es etwas ganz anderes war, Hunderte kleine Betriebe zu bestreiken als Großbetriebe wie etwa die BVG. Ihre Ziele konnten die streikenden Erzieher*innen damals nicht direkt erreichen, sie scheiterten letztlich an der starren Haltung der SPD. Die sagte zwar mehr Stellen und Kitaplätze zu, wollte aber nichts in Gesetzen festhalten.
In einer Streikversammlung im März dann verkündete die ÖTV, dass die Tarifkommission beschlossen habe, den Streik auszusetzen, ohne Urabstimmung, die sie vermutlich verloren hätten. Der Streik endete, worüber viele Erzieher*innen auch sehr wütend oder enttäuscht waren.
Doch Spuren hat der Streik trotzdem hinterlassen: Aus Sicht der GEW haben die Erzieher*innen damals ein Zeichen gesetzt und gezeigt, dass sie ernstzunehmen sind als Gruppe. Die Gewerkschaften selbst hätten Erfahrungen damit gesammelt, kleine Betriebe zu bestreiken.
Es ermutigte die Erzieher*innen wohl auch zu den bundesweiten Streiks von Erzieher*innen 2009 und 2015. Viele der Forderungen damals hätten sich am Ende in dem 2019 in Kraft getretenen bundesweiten „Gute-Kita-Gesetz“ wiedergefunden.
Linke erinnert an Streik vor 35 Jahren
Daran erinnerte am vergangenen Donnerstag in der Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses auch Franziska Brychcy, die bildungspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion. „Es ist nicht das erste Mal in Berlin, dass ein unbefristeter Kita-Streik im Raum steht“, sagte sie. Und dass Betreuungsschlüssel und Vor- und Nachbereitungszeiten inzwischen geregelt gesetzlich geregelt seien, was erstmal als Erfolg gelten könne. „Es gibt Wege“, sagte sie.
Dass nun die Bildungssenatorin sich hinstelle und behaupte, es gebe höchstens Probleme in einzelnen Einrichtungen, und dass der Staatssekretär für Jugend und Familie, Falko Liecke (CDU), sage, dass der Kinderschutz gewährleistet sei, zeige, wie sehr die Koalition hinter ihren eigenen Anspruch zurückgefallen sei.
„Der Anspruch war ein anderer“, sagte Brychcy. Die Regierung habe mal behauptet, dass es ihr wichtig sei, den Personalschlüssel zu überprüfen, den Kitas Zeit freizuschaufeln, um das Berliner Bildungsprogramm dort auch umzusetzen und gute Sprachförderung zu gewährleisten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!