Lebenswandel im fortgeschrittenen Alter: Hilfe, ich bin Tradwife geworden
Im Frühherbst des Lebens läuft die Boomerin Gefahr, alte Werte über den Haufen zu werfen – und unerwartet häuslich zu werden.
N un ist der Sommer also endgültig vorbei. Was für die einen eine prosaische Feststellung ist, kann bei anderen tiefe Melancholie auslösen.
Die Boomerin befindet sich, je nach Stimmungslage, ja selbst im Frühherbst oder Vollherbst des Lebens, während sich der optimistische Boomer in Verkennung der Tatsachen oft noch in seinem Spätsommer wähnt. Wie jedes Jahr frage ich mich um diese Zeit: Hab ich diesen Sommer wirklich ausgekostet – hab ich alles mitgenommen?
Okay, also ich habe in der Donau, in der Nordsee und in badischen Baggerseen gebadet, 300 Schnecken getötet, jeweils eine Handvoll rote und weiße Johannisbeeren und etwa zwei Pfund Brombeeren geerntet. Wobei wir beim Garten-Content wären – eine Boomerinnen-Kolumne ist immer auch eine Garten-Kolumne.
Angesichts der reichen Brombeerernte konnte ich nicht an mich halten. Es begab sich, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Marmelade einkochte. Brombeermarmelade. Es gelang auf Anhieb und verschaffte mir eine solch anhaltende innere Befriedigung, dass ich erschrak: „Oh mein Gott, bin ich Tradwife geworden?“
Wer sie nicht kennt: Tradwifes sind Frauen bei Insta und Tiktok, die in altertümlichen langen Kleidern, mit langem Haar, höchst komplizierte Gerichte mühelos zubereiten.
Ein typisches Tradwife-Video beginnt so: „Heute hatte mein Ehemann Lust auf Schokolade.“ Die Tradwife macht sich sofort ans Werk: zerschlägt eine Kakaofrucht, mahlt die Bohnen, stellt nebenher selbst Butter her.
Alles geht ihr lächelnd von der Hand, und 25 Arbeitsschritte weiter ist die Schokolade fertig, der Mann freut sich. Also ganz ähnlich wie ich beim Brombeeren einkochen! Und ich schwöre: Ich habe in meinem ganzen Leben keinen einzigen Kuchen gebacken und koche auch nur in Ausnahmefällen.
Wenn Marmelade Befriedigung verspricht
Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich in jungen Jahren, so mit 17, schon Boomerin und Old-School-Feministin war.
Als solche lehnte ich alle häuslichen Verrichtungen (backen, fermentieren, einkochen, Männern Kaffee einschenken, nett sein) stets ab. Fun Fact: Damals bekam man als junge Frau von alten Tanten noch Bettwäsche und Handtücher „für die Aussteuer“ geschenkt.
Letzte Woche stand ich dann aber in der Küche, blickte auf vier Gläser Brombeermarmelade und fühlte so eine tiefe Tradwife-Befriedigung in mir hochsteigen. Wie tief bin ich gesunken!
Aber als Tradwife hätte ich das Ganze ja gefilmt, beruhigte ich mich. Und die Küche sah ganz furchtbar aus – ich hatte noch nie im Leben etwas in einem Topf püriert, die Küchenwand der Herd und mein Unterarm waren brombeergesprenkelt.
Vielleicht ein Orakel für die Brombeerkoalition in Sachsen und Thüringen? Bei einer Tradwife wäre so ein Brombeermassaker undenkbar, beruhigte ich mich und beschloss, nicht mehr über diese neue Häuslichkeit nachzudenken.
Schon am nächsten Tag ertappte ich mich dabei, wie ich aus dem, was die Nacktschnecken im Garten übrig gelassen hatten, eine Kartoffel-Mangold- Karotten-Pfanne improvisierte. Zum Glück ist der Sommer jetzt endlich vorbei.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen