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„Reichskanzlerplatz“ von Nora BossongDer Wille zum Aufstieg

Bossong erzählt in „Reichskanzlerplatz“ von Magda Goebbels und einem schwulen NS-Diplomaten. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreises nominiert.

Magda (h. l.) und Reichsminister Josef Goebbels (M.) mit Stiefsohn Harald Quandt (v. r.) während der Bayreuther Festspiele 1934 Foto: Scherl/SZ Photo/picture alliance

Der Lebensweg der 1901 geborenen Johanna Maria Magdalena Behrend ist auf bizarre Weise exemplarisch für die Schrecken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Tochter eines unverheirateten Dienstmädchens kam Magda in ärmlichen Verhältnissen zur Welt, wurde aber 1908 von dem jüdischen Kaufmann Richard Friedländer adoptiert und lebte fortan in bürgerlichen Verhältnissen.

Im Jahr 1920 nahm sie eine kurze Zeit lang den Nachnamen des leiblichen Vaters, Oskar Ritschel, an, um den verwitweten Industriellen Günther Quandt heiraten zu können. Der doppelt so alte Quandt, den Magda auf einer Zugfahrt kennengelernt hatte, weigerte sich nämlich, eine Frau mit dem jüdisch klingenden Namen Friedländer in seine protestantische Familie aufzunehmen.

Weder der Antisemitismus noch der Altersunterschied waren für Magda ein Problem, sah sie doch die Chance, in die Oberschicht aufzusteigen. Wie wichtig ihr das gesellschaftliche Prestige war, erkennt man wohl auch daran, dass sie in ihrer Schulzeit noch in den jüdischen Bruder einer Mitschülerin verliebt war. Angeblich erwog sie sogar, mit dem späteren Zionisten und Sozialisten Viktor Chaim Arlosoroff nach Palästina auszuwandern.

Doch sie blieb in Deutschland, was ihr kein Glück brachte: Die Ehe mit Günther Quandt stand jedenfalls unter keinem guten Stern. Magda wollte auch nach der Geburt ihres Sohnes Harald ein ausschweifendes Leben führen, anders als der nüchterne, an wirtschaftlichen Fragen interessierte Ehemann.

Magda betrog ihren ersten Ehemann

Magda betrog ihn dann auch bald, sodass 1928 eine Schlammschlacht folgte: Quandt verlangte die Scheidung und warf Magda aus dem Haus, die den Nochgatten allerdings mit kompromittierenden Briefen erpresste. Es wurden monatliche Zahlungen und eine Abfindung vereinbart, mit der sie sich eine Wohnung am Reichskanzlerplatz in Berlin-Westend (heute: Theodor-Heuss-Platz) leisten konnte, gewissermaßen der Grundstein für ihren weiteren Aufstieg.

Vielleicht wäre die Geschichte der Magda Quandt längst in Vergessenheit geraten, wenn sie nicht alles darangesetzt hätte, ausgerechnet Joseph Goebbels kennenzulernen und sich schon bald an der Seite des NS-Propagandaministers als Vorzeigemutter des „Dritten Reiches“ feiern zu lassen.

DAS BUCH

Nora Bossong: „Reichskanzlerplatz“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024,296 Seiten, 25 Euro

Die Biografie jener Frau, die am 1. Mai 1945 zunächst ihre sechs mit Goebbels gezeugten Kinder und später sich selbst umbrachte, ist seitdem in unzähligen Artikeln, Filmen und wissenschaftlichen Aufsätzen, aber auch in fiktionalisierter Form aufgegriffen worden – was nicht zuletzt wegen der Materialfülle auf verschiedene Weise möglich war: Selbst intime Details aus dem Eheleben sind durch Tagebucheinträge und Zeitzeugenberichte dokumentiert.

Marcel Beyer etwa veröffentlichte 1995 seinen Roman „Flughunde“, der nicht nur vom nationalsozialistischen Tontechniker Hermann Karnau, sondern auch von der Familie Goebbels aus der Sicht der ältesten Tochter Helga erzählt. 2013 erschien in zunächst englischer Sprache eine Romanbiografie von Meike Ziervogel mit dem Titel „Magda“; für viele englischsprachige Zeitungen gehörte das Buch, das auch in polnischer Übersetzung zum Bestseller wurde, zu den damaligen „Books of the year“.

Publizistisches Risiko

Angesichts dieser Vorgeschichte ist es ein publizistisches Risiko, die weitgehend erforschte und auch dem breiteren Publikum halbwegs bekannte Geschichte der späteren Giftmörderin noch einmal zu literarisieren. Nora Bossong hat es mit „Reichskanzlerplatz“ gewagt, und obwohl die Autorin keineswegs neue historische Erkenntnisse vorträgt oder einen „anderen“ Blick auf Magda Goebbels präsentiert, ist ihr ein politisch relevantes und ästhetisch überzeugendes Buch gelungen.

Das liegt vor allem an der klug gewählten Erzählperspektive: Ins Zentrum stellt Bossong nämlich nicht die Frau, die stets im Mittelpunkt stehen wollte, sondern den fiktiven Hans Kesselbach, der in Bossongs Roman mit Magda mal eng und mal auf Distanz verbunden ist. Tatsächlich hat es einen Studenten namens Fritz Gerber gegeben, der mit Magda heimlich liiert war. Doch über ihn ist wenig bekannt, und diese Leerstelle nutzt Bossong, um ihre historische Fantasie zu entwickeln.

In dem Roman verliebt sich der junge Hans in seinen Schulfreund Hellmut Quandt und lernt schon bald dessen Familie kennen. Hellmuts leibliche Mutter ist an der Spanischen Grippe gestorben, und im Hause Quandt regiert nun die schöne Magda. Die Geschichte dieser widersprüchlichen Frau wird aus einer Halbdistanz erzählt, die viel Raum für literarische Erfindung lässt: Hellmut geht nach anfänglichem Flirten nicht weiter auf die Avancen des Mitschülers ein und wird schon kurz nach der Schulzeit tödlich verunglücken.

Daraufhin beginnen Hans und Magda eine Affäre, in der die zwei einsamen Herzen weniger Liebe als vielmehr Trost suchen. Nach Militärzeit und Studium tritt Hans in den diplomatischen Dienst ein. Die Beziehung zu Magda Goebbels bietet ihm bei lästigen Nachfragen die Möglichkeit, seine Homosexualität zu verbergen. Doch dieses so verlogene wie auch praktische Lebensmodell muss er aufgeben, als die politischen Verhältnisse im Deutschen Reich kippen und Magda im Dezember 1933 Joseph Goebbels heiratet.

Bossong erzählt kühl anstatt zu moralisieren

Nora Bossong streut die historischen Informationen dezent in ihren Roman ein, der als Spiegelkonstruktion angelegt ist: Hans verachtet zwar Magdas Hingabe zum Nationalsozialismus, aber auch seine Entscheidungen sind fragwürdig und alles andere als unausweichlich. Statt im Nachgang zu moralisieren, erzählt Bossong in einem so kühlen Tonfall, dass der Glutkern der Prosa übersehen werden kann: Unter der Textoberfläche lässt sich eine durchaus leidenschaftliche Reflexion über Freiheitsvorstellungen erkennen, die in Amoralität münden.

Magdas Wille zum Aufstieg ist gewiss stärker ausgeprägt. Doch auch Hans möchte seine Karriere im Außenministerium unter von Ribbentrop nicht aufgeben, obwohl er sich selbst in Gefahr bringt. Die beiden sind auf unterschiedliche Weise opportunistisch und rücksichtslos. Was sie verbindet, erkennt Hans erst im Nachhinein: „Wir wollten geliebt werden, das war alles, und wir hatten entsetzliche Angst, allein zu sein.“

Mögen die Figuren in einer anderen historischen Epoche gelebt haben, Bossongs Romanstoff ist hochaktuell. Dementsprechend ist auch der Schriftzug zu verstehen, der beim Friedhof in Pritzwalk, dem Stammsitz der Familie Quandt, zu lesen ist und den die Autorin dem Roman vorangestellt hat: „Was Ihr seid – das waren wir / Was wir sind – das werdet Ihr“.

Was die historischen Kontinuitäten anbelangt, muss man sich nur mit dem Korpsgeist in der deutschen Ministerialbürokratie damals wie heute beschäftigen, um frappierende Parallelentwicklungen festzustellen. Nora Bossong kennt sich in der Welt der Diplomatie gut aus; in ihrem Roman „Schutzzone“ geht es um eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen, die sich nach dem Völkermord im afrikanischen Burundi der eigenen Verantwortung stellen muss. Dieses Buch ist geprägt von schroffen Zeitsprüngen, krassen Szenen im Herzen der Finsternis und einer virtuosen Verflechtung der Erzählstränge.

Magda Goebbels völlig hemmungslos

In „Reichskanzlerplatz“ zeigt Bossong, dass sie auf sprachliche Experimente und stilistische Girlanden weitgehend verzichten kann. Die Skurrilitäten aus der Vita von Magda Goebbels, die nahezu nebenbei erwähnt werden, passen in Bossongs strenges Erzählkonzept. Diese Frau war – wie heutige Ideologen – völlig hemmungslos, was die Brüche in der eigenen Biografie anbelangt.

Sie verhinderte jedenfalls nicht, dass ihr jüdischer Adoptivvater und Förderer, Richard Friedländer, im KZ Buchenwald umgebracht wurde, obwohl sie zu Schulzeiten mit dem Davidstern um den Hals herumgelaufen war. Vom leiblichen Vater, der einer Freimaurerloge angehörte, wurde Magda in den Buddhismus eingeführt. Die friedfertige Erfahrungsreligion beeindruckte sie genauso wie Rosenbergs Rassenlehren.

Bei Bossong steht die „erste Frau“ der Nazidiktatur aus historischen und auch dramaturgischen Gründen nicht durchgängig im Mittelpunkt der Erzählung. Hans wird in die Schweiz versetzt und hat kaum noch persönlichen Kontakt mit ihr. Die wenigen schriftlichen Nachrichten Magdas aus Berlin enthalten allgemeine Phrasen oder banal-vielsagende Gedichtzeilen: „der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu“.

Als Magda Goebbels noch über Jahreszeiten und Vöglein sinnierte, war ihr böses Reich schon am Ende. Der Diplomat, der als Mitwisser und Mitläufer schuldig wurde, darf nach dem Krieg am Grab des früh verstorbenen Freundes über den Verlust der eigenen Integrität trauern – wozu er, frei nach Mitscherlich, nicht wirklich fähig ist.

Nora Bossong hat mit „Reichskanzlerplatz“ einen preiswürdigen Roman geschrieben, der vom Übergang einer Demokratie in die Diktatur erzählt, den die Menschen akzeptieren oder befördern, solange ihr eigenes Fortkommen gesichert ist. Die Demokratie, so heißt es an einer Stelle, hätten die Deutschen „so schnell vergessen wie eine Vokabel aus der Schulzeit“. Gegenwärtiger ist die Vergangenheit selten erzählt worden.

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1 Kommentar

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  • Gerät Politische Prominenz zu Nebenfigur poetischer Werke wie in Nora Bossongs „Reichskanzlerplatz“ Magda Goebbels vormals Quandt, Friedländer schimmern jene Gestalten im Schatten angeleuchtet aus schweigender Mehrheit auf, gewinnen Kontur, wie der Erzähler in Bossongs Roman Hans Kesselbach, der Kind seiner Zeit der Söhne, Veteranen Weltkrieges 1914-1918, zu denen gehört, die gesehen werden wollen auch als Kriegsversehrter, Krüppel, gleichzeitig traumatisiert von Fronterfahrungen, eingelullt trunken von heroischen Veteranen Gesang, Legedenbildung im engsten Lebenskreis, Kampfverbänden der Reichstagsparteien, Stahlhelm Deutschnationale, Reichsbanner SPD, Rotfront KPD, SA der NSDAP mit Präsenzpflicht, finanziert aus dunklen Quellen, persönlich viel an gar nicht heroischen Habits zu verbergen haben, sei es, dass sie 1914-1918 in Komplizenschaft an Massakern beteiligt waren, sei es, dass sie Verbotenes an Habits Drogensucht, Homosexualität praktizieren, die sie erpressbar abhängig machen, aber unabdinglich im Minimalkonsens der Epoche aus Nöten Krieges Tugenden ableiten auf Gedeih und Verderb eigenen und das Leben anderer unter Losung ein Leben ohne Krieg ist möglich, aber sinnlos