Nora Bossongs neuer Roman: Eine Fantasie des Friedens

Bossong erzählt in „Schutzzone“ von einer UN-Mitarbeiterin bei einer Friedensmission in Burundi – ohne Larmoyanz und Selbstbestätigungsideologie.

Man sieht einen etwa 6 Jahre alten Jungen von hinten, der eine Mathe-Aufgabe auf eine Schieferwand malt.

Ein Schulkind in Burundi. Nora Bossongs neuer Roman dreht sich um eine UN-Friedensmission Foto: dpa/Thomas Schulze

Schon in Kindertagen lernt Mira, dass Trennungen nicht nur traurig machen, sondern auch neue Chancen eröffnen können. Nach der Scheidung der Eltern lebt die Ich-Erzählerin eine Weile bei einer befreundeten Familie, so sehr waren Vater und Mutter mit ihrem Streit um „Habseligkeiten beschäftigt, die ihnen während der Ehe nicht das Geringste bedeutet hatten“. In der Übergangsfamilie lernt sie Milan kennen, einen acht Jahre älteren Jungen, der sich nicht wirklich für Mira interessiert, sich aber doch um die Pflegeschwester kümmert, und zwar aus Gründen, die für das junge Mädchen nicht wirklich nachvollziehbar sind: „Er war nicht verbindlich, aber er besaß eine Höflichkeit, die man leicht damit verwechseln konnte.“

Viele Jahre später arbeitet sie für die Vereinten Nationen, über die es im Roman heißt, sie „seien eine große Familie“, was die Erzählerin doch bezweifelt, zumindest entsprechen die kalten Gänge im Palais des Nations nicht ihrer Vorstellung von einem Zuhause, in dem gelebt und geliebt, sich gestritten und sich auch getrennt wird. Ausgerechnet im Schutzraum der Menschenrechte aber herrscht eine „großzügige Gleichgültigkeit“, was allerdings nicht heißt, dass den Mitarbeitern die Krisen rund um den Globus einerlei sind, nur haben die vielen Konflikte auch zur Desillusionierung beigetragen. Wer auch immer hier arbeitet, wird mit hohen Ansprüchen begonnen haben und gewiss auch mal gescheitert sein.

Miras größte Niederlage hat in Burundi stattgefunden. Ein Bürgerkrieg droht, mit vielen Toten, möglicherweise auch wieder schlimmen Massakern. Während in der fernen Schweiz am grünen Tisch gesittet mit Putschisten und Diktatoren verhandelt wird, überträgt sich die angespannte Spannung auch auf die UN-Gesandten vor Ort, was wiederum nicht heißt, das Leben biete keine schönen, man könnte auch sagen: aberwitzigen Seiten. Denn auch, „wenn wir tagsüber miteinander zerstritten waren, feierten wir nach Dienstschluss Partys an türkisblauen Pools zusammen, vereint in dem Wunsch, die Welt zu einer besseren zu machen.“ Wie schwer oder unmöglich dies zuweilen ist, wird Mira erst später so richtig begreifen, als sie mit Aimé einen Mann trifft, der sich erst als verführerischer Rebell präsentiert und später für Massenmorde verantwortlich gemacht wird.

Natürlich weiß die Erzählerin, dass die Vereinten Nationen viele Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes wie etwa in Ruanda nicht verhindert haben. Nun aber ist sie selbst in Afrika, lernt Kindersoldaten kennen, wird mit schlimmen Verbrechen konfrontiert, was sie nicht davon abhält, sich auf den geheimnisvollen und so luzide formulierenden Verführer Aimé einzulassen, der ihr keineswegs verheimlicht, was er von den Friedensmissionen hält: „Der Frieden, Mira, ist eine so schöne Geste, nur leider nicht mehr als das. Eine Fantasie, sagte er, meine Hand lag in seiner, und er zog mich sanft hinauf. Es ist leicht, in dieser Fantasie zu leben, oder nein, es ist natürlich nicht leicht, Sie leiden, Sie sind traurig, Sie haben Angst, Sie hassen, vielleicht hassen Sie auch, nicht wahr, Mira, tun Sie das nicht?“

Ohne Klischees vom bösen schwarzen Mann

Wie Nora Bossong diesen Zyniker beschreibt, der so sanft wie gewalttätig sein kann, das ist unheimlich und hebt sie auch deshalb von anderen Autorinnen und Autoren ab, weil sie an keiner Stelle die Klischees vom bösen schwarzen Mann reproduziert. Vielmehr spiegelt sie die Erlebnisse in Burundi mit einer ebenfalls verbotenen Liebesgeschichte, die sich einige Jahre später zutragen wird. Denn in Genf unterhält sie mit Quasibruder Milan – mittlerweile verheirateter Familienvater – eine mal faszinierende, mal quälende Affäre. Beide Männer vereint, dass sie schwer zu durchschauen sind, dass sie Regeln vorgeben, die sie nicht einhalten, weil es gute oder schlechte Gründe dafür gibt.

Mag es auch Schutzzonen geben, die mal mit dem Herzen und mal Waffengewalt errichtet werden, im Ernstfall, der auch ein Glücksfall sein kann, wird der Stacheldraht durchschnitten, verschwinden die Grenzen der bislang gekannten Ordnung. Bossong verknüpft die moralischen Ambivalenzen auf der politischen Weltbühne mit den Doppelbödigkeiten im Alltag – dieses Verfahren wirkt nicht zuletzt durch die ständigen Zeitsprünge und Ortswechsel überzeugend.

Bossong zeigt mit dieser Prosa außerdem, wie gut sie sich aus der Fülle literarischer Formen und Tonlagen zu bedienen weiß, um daraus ein stimmiges Gesamtwerk zu schaffen. Rhythmische Passagen wechseln sich mit elegischen Textstellen ab, sie kann analytisch und auch mal rätselhaft formulieren. Viele Tiere treten in „Schutzzone“ auf, Tauben und Pfauen, Nilpferde, und sie spielen durchaus überraschende Rollen auf der metaphorischen Erzählebene, woran nicht zuletzt Aimé erinnert, der sich darüber lustig macht, dass die Weltgemeinschaft ausgerechnet die so leicht zu zerfleddernde Taube zum Friedenssymbol erkoren hat.

Bossongs melancholischer Realismus passt sehr gut zu Sujet und Story. Ihre durchaus langen und oft verschachtelten Sätze haben eine angenehme Schwere, können aber auch leicht und ironisch sein. In dieser Hypotaxe ist das wachsende Unbehagen der Protagonistin in der politischen und privaten Unordnung gut aufgehoben, mit nahezu jedem Nebensatz kommen neue Zweifel hinzu, aber auch die Hoffnung wird genährt, es könne alles ganz anders kommen.

Hier wird kein Trend­thema durchgekaut, werden keine Klagelieder an­ge­stimmt

„Schutzzone“ wird wohl mit Robert Menasses Bestseller „Die Hauptstadt“ verglichen werden, weil nach dem erfolgreichen Roman über die Europäische Union nun im selben Verlag ein belletristisches Werk über die Vereinten Nationen erscheint. Kalkül werden manche das vielleicht nennen. Doch der Vergleich der Werke ist wenig ergiebig, selbst wenn beide von politischen Institutionen handeln, die unter ungeheurem Rechtfertigungsdruck stehen und als schwer durchschaubare und vom Alltag der Menschen weit entfernte Bürokratiemonster wahrgenommen werden. Doch zu verschieden sind Tonfall und literarisches Programm der beiden Romane.

Während Buchpreisgewinner Menasse seine politische Groteske mit historischen Fiktionen mischt, um neue moralische Pathosformeln in den Diskursraum zu stellen, schickt Nora Bossong ihr Publikum in einen offenen Sprachraum, in eine brüchige Gedankenwelt, in der es nur noch Reste der tradierten Imperative gibt, weil die Verhältnisse zu kompliziert und zu unübersichtlich geworden sind. Bossong ist insofern die modernere Schriftstellerin, weil sie keine Dogmen aufstellt, weil sie uns vielmehr sprachlich und inhaltlich auf ein Feld führt, auf dem es keine Schutzzonen mehr zu geben scheint.

Nora Bossong: Schutzzone, Roman. 328 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 24 Euro.

Dieses Buch ist aktuell im guten, weil produktiven Sinne; hier wird kein sogenanntes Trendthema durchgekaut, hier werden keine Klagelieder über die Ungerechtigkeiten in der Welt angestimmt, dieser Roman enthält keine naive Selbstbestätigungsideologie, wie sie leider immer häufiger in der zeitgenössischen Literatur zu finden ist. Bossongs Text ist eher eine Warnung an Politpropagandisten, Begriffe wie „Verantwortung“ oder „Wahrheit“ allzu leichtfertig zu verwenden. „Schutzzone“ steht zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, und dem Publikum wäre zu wünschen, dass dieser Roman gewinnt.

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