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Spazieren auf Autorinnen-SpurenWer Männer kennt, schreibt Horror

Mary Shelley höchstselbst, die Mutter der fantastischen Literatur, führt durch einen Hamburger Park. Zu hören gibt es schaurige Texte nur von Frauen.

Die englische Mary Shelley im Portrait von Richard Rothwell Foto: imago

D er Treffpunkt ist vielversprechend: Los geht es am „Rabenstein“, so heißt eine Bushaltestelle gleich beim alten Haupteingang des Hamburg-Harburger Stadtparks. Die Ortsbezeichnung – eine Anhöhe, auf der der örtliche SC Tennis und Fußball spielen lässt – hat mit dem so gerne zum Unglücksboten gemachten Vogel wohl nichts zu tun, ein älterer Name ist „Grapenstein“.

Aber das erinnert, rein klanglich, nun erst recht an den Anlass für das kleine Grüppchen, sich hier eingefunden zu haben an einem gar nicht mal so lauen Sommerabend: das Monster, das Victor Frankenstein schuf.

Genau genommen geht es um die Frau, die diese beiden schuf (und gleich mehrere Unterabteilungen der fantastischen Literatur obendrein): „Mary und die anderen“ haben Nisan Arikan und Lars Henriks ihren diesjährigen „Theaterspaziergang“ überschrieben, gewidmet der Autorin Mary Shelley (1797–1851).

„Theaterspaziergang“ heißt hier: Geführt von Arikan in der Rolle der einflussreichen Gastgeberin geht es fast zwei Stunden lang durch den hügeligen, manchmal fast wie ein echter Wald wirkenden Park. Immer wieder treffen wir auf weitere, ebenfalls geschaugespielte Autorinnen, die eigene Texte vortragen – Texte zum Gruseln. „Wer für Jane Austen gekommen ist“, sagt Shelley/Arikan zu Beginn, „ist hier falsch.“

Von Männern unabhängig

Erst mal spricht sie aber über ihre Mutter, Mary Wollstonecraft: „Eine bedeutende feministische Denkerin des 18. Jahrhunderts. Hat Thesen geschrieben, die bis heute radikal sind“, etwa die Forderung, sich wirtschaftlich unabhängig zu machen von Männern und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Einer der wenigen Berufe indes, der Frauen dann offengestanden habe: Autorin.

Dann erfahren wir etwas über den Einfluss des deutschen Märchens auf die gothic novel und damit das schauerliche Schreiben insgesamt. Auch, wie die Texte lange mündlich überliefert wurden, von Frau zu Frau, von Frau zu Mädchen, und wie die Brüder Grimm den angeblich ehernen Stoffen ihren ideologischen Stempel aufdrückten.

Ann Radcliffe lernen wir kennen und Elizabeth Gaskell, vor der Charles Dickens Respekt bekundete (aber auch ein wenig Angst); die schreibende Maverick-Ägyptologin Amelia Edwards („Indiana Jones war real – und er war eine Frau!“) und Violet Paget alias Vernon Lee: Das maximal männliche Pseudonym wählte sie, klar, um ernster genommen zu werden. Später hat Daphne du Maurier noch einen Auftritt, und mit Shirley Jacksons „Die Lotterie“ sind wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts angekommen.

Horror der falschen Art

hat die Ma­che­r:in­nen des schauerlichen Rundgangs ereilt: In ihr noch in Gründung befindliches „Miskatonic“-Theater wurde vergangene Woche eingebrochen. Den Schaden beziffern Nisan Arikan und Lars Henriks auf rund 15.000 Euro, nun soll es ein Crowdfunding richten.

Ängstliche Männer würden so einem Rundgang eine Agenda unterstellen, und sie lägen, wie kaputte Uhren, sogar mal richtig: Was sich durch die vorgestellten Lebensläufe zieht, durch die unterschiedlichen Strategien dieser Frauen, an zeitgenössischen Widerständen vorbei zu schreiben, zu publizieren, ja: einfach etwas mehr so zu leben, wie sie das wollten, welche Rolle da immer wieder der Ausfallschritt in die Fantastik spielte: Doch, da gibt es ein Anliegen. Hier soll etwas herausgearbeitet, belegt, unterstrichen werden, was sehr lange unterbelichtet blieb.

Die Geschichte jener sturm­umtosten Nacht am Genfer See selbst, in der Mary Shelley den „Frankenstein“ ersann, haben Arikan und Henriks richtig inszeniert: „Mary Shelleys Monster“ heißt die Adaption, die nun ein paar Mal auf der Harburger Freilichtbühne zu sehen war.

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Überraschend musicalhaft nähern sie sich dem Gruselgeschichtenwettbewerb im „Jahr ohne Sommer“ 1816, bei dem eben nicht die Alpha-Romantiker Percy Bysshe Shelley und Lord Byron bleibende Texte herauswürgten, sondern der Arzt und Drogenbereitsteller John Polidori. Und Mary Shelley. Natürlich gibt es auch deren zentrale Schöpfung als gerafftes Stück im Stück.

Demnächst eröffnen Arikan und Henriks das – so sagen sie selbst – einzige Horrortheater der Welt, das „Miskatonic“. Als Erstes adaptieren sie im September den Text eines Mannes: „Der Ruf des Cthulhu“ von HP Lovecraft. „Das haben sich“, sagt Shelley/Arikan spöttisch, „die Jungs ausgedacht.“

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Alexander Diehl
Redakteur taz nord
Wollte irgendwann Geisteswissenschaftler werden, ließ mich aber vom Journalismus ablenken. Volontär bei der taz hamburg, später auch mal stv. Redaktionsleiter der taz nord. Seit Anfang 2017 Redakteur gerne -- aber nicht nur -- für Kulturelles i.w.S.
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