piwik no script img

Foto: Zong He/Xinhua/imago

Raketenangriff auf den GolanhöhenZwischen den zerstörten Welten

Fassungslosigkeit nahe Syrien und dem Libanon: Im drusisch geprägten Madschdal Schams versuchen Menschen nach dem Angriff ihren Alltag zu bewältigen.

A uf einer wackligen Leiter klettern drei Männer auf ein Flachdach. Sie suchen nach bis dort oben versprengten Leichenteilen – Finger, Gewebe-, Knochenreste. Zwei von ihnen tragen vom Shirt bis zu den Schuhen Schwarz – Trauerkleidung –, wie so viele an diesem Tag in der drusisch besiedelten Kleinstadt Madschdal Schams, auf den von Israel annektierten Golanhöhen. Der dritte hat eine Weste von Zaka an, einem Such- und Rettungsdienst in Israel. Seine langen Schläfenlocken, wie sie viele ultraorthodoxe Juden tragen, sind unter der brennenden Sonne feucht geworden vom Schweiß. In der Hand trägt er einen hellen Plastiksack. Was die Gruppe findet, kommt hier hinein.

Freiwillige sammeln menschliche Überreste nach dem Raketenangriff ein, um sie zu bestatten Foto: Lisa Schneider

Am vergangenen Samstagabend gegen 18 Uhr schlägt in Madschdal Schams eine Rakete ein – aller Wahrscheinlichkeit nach abgefeuert von der Hisbollah-Miliz aus dem nördlichen Nachbarland Libanon. Sie trifft ein Fußballfeld, gelegen direkt neben einem Spielplatz und einer Sportwiese. Ein Dutzend Kinder und Jugendliche sterben, die Bilder ihrer durch die Wucht der Explosion verstümmelten Körper verbreiten sich rasant über soziale Medien. Zwanzig Menschen werden außerdem teils schwer verletzt.

Als die Rakete am Samstagabend einschlägt, erzählt Safi Safadi, ein junger Mann aus Madschdal Schams, sei er nur wenige Minuten entfernt eine der Straßen rund um den Fußballplatz entlangspaziert. Als der Alarm ertönte, sagt er, ging er einfach weiter. Drei Sekunden habe man hier, um bei Raketenalarm einen Schutzraum aufzusuchen. Safadi zuckt mit den Schultern. „Auf Arabisch sagen wir: Was passieren soll, soll passieren.“ Auch für die Kinder auf dem Fußballplatz, sagt er, sei die Zeit zu knapp gewesen. Direkt neben dem Sportplatz steht ein kleiner Bombenschutzraum, die Außenwände mit Kuhlen von der Explosion übersät. Nur wenige Meter trennen die Stelle des Einschlags von dem Schutzraum, dazwischen verbrannte Räder und Roller.

Drei Sekunden, um bei Raketenalarm im Schutzraum zu sein. Was passieren soll, soll passieren, sagt man hier

Kurz nach der betäubend lauten Explosion habe er den Spielplatz erreicht, erzählt er. Und sieht die toten Körper, „manche ohne Arm, andere ohne Bein“. Safadi ist ausgebildeter Ersthelfer, er versucht zu retten, wer noch zu retten ist. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen birgt er die Verletzten, dann die leblosen Körper, sammelt Leichenteile ein, bis in den frühen Morgen.

In Madschdal Schams steht am Fußballplatz ein kleiner Bombenschutzraum. Nur wenige Meter trennen die Einschlagstelle von dem Raum Foto: Matan Golan/Zuma Press/imago

Zwei Stunden habe er geschlafen, sagt er, in seinem Auto, obwohl sein Elternhaus oben am Berg nur wenige Autominuten entfernt liegt. Und auch am Sonntag ist er wieder am Sportplatz. Gemeinsam mit Freunden und Dutzenden anderen Freiwilligen sucht er weiter. Denn bis zum Sonntagabend gilt ein Kind als noch vermisst. Die gefundenen Teile werden einem DNA-Test unterzogen. In der Nacht zum Montag bestätigt sich dann: Der Junge ist unter den Toten. Einen Körper, den man beerdigen könnte, scheint es nicht zu geben.

Die elf bereits identifizierten Kinder werden am Sonntagvormittag beerdigt. Ihre Überreste werden in einer Prozession durch das Dorf getragen, Tausende sind gekommen, um sie zu verabschieden. Auf der großen Sportwiese neben dem Fußballfeld stehen in hohen Stapeln noch die Plastikstühle, die für die Trauerfeier dort aufgestellt wurden. Zwei Jugendliche beginnen sie einzusammeln und auf einen Anhänger zu verladen. Nur zwölf Stühle, bedeckt mit schwarzen Plastikhüllen, neben ihnen Blumenkränze aufgestellt, bleiben zurück.

Neben der Wiese klettern die drei Männer wieder hinunter vom Dach und ziehen weiter zum Nachbargebäude, einer Schule. Dort werden sie fündig, Dutzende eilen auf einmal die Treppen zu dem Flachdach hinauf. „Vielleicht Leberteile“, sagt der Mann von Zaka, zieht seinen blauen Einmalhandschuh aus und wirft ihn mit in den Sack. Die meisten der freiwillig Suchenden tragen keine Handschuhe. Ein Jugendlicher, die Hände schwarz vom Ruß der Hitze der Detonation, der sich über den Kunstrasen des Platzes gelegt hat, öffnet die Faust und zeigt seine Handfläche. Darauf liegt etwas, das aussieht wie ein Knochenstück. Es wandert in den blauen Sack.

In dem Meer aus schwarz gekleideten Männern und Frauen auf dem Sportplatz stechen ein paar Angehörige des Militärs hervor. Einer von ihnen filmt sich selbst, während er auf Spanisch von den Geschehnissen der vergangenen Nacht berichtet. Eine andere Soldatin fotografiert die Trauernden. Sie alle sind vom Pressedienst des israelischen Militärs. Einer von ihnen sagt: Man sei hier, um der Welt die Taten der Hisbollah zu zeigen. Die hatte sich zunächst zu Raketenangriffen auf den Berg Hermon, direkt bei Madschdal Schams gelegen, bekannt und war später zurückgerudert. Eine israelische Abwehrrakete des Iron Dome sei verantwortlich für die Explosion.

Das Militär dementiert und veröffentlicht am Sonntagabend Bilder der nach der Explosion geborgenen Raketenteile. Es handle sich um eine Falaq-1-Rakete, so das Militär: gebaut im Iran, eingesetzt von der Hisbollah.

Auch der Knesset-Abgeordnete Eliyahu Revivo ist am Sonntag nach Madschdal Schams gekommen, am Rande des Fußballfeldes gibt er Interviews und betont: Er sehe keine Alternative, um gegen die Hisbollah vorzugehen, außer einen Krieg. Revivo ist Mitglied der rechtskonservativen Partei Likud von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der kam nach dem Angriff vorzeitig von seiner USA-Reise zurück und berief am Sonntagabend gleich Israels Sicherheitskabinett ein, um über einen Gegenschlag auf die Hisbollah im Libanon zu beraten. Man habe sich auf ein Vorgehen verständigt, erklärte Netanjahus Büro später.

Die Reaktion des Staates müsse genauso ausfallen, wenn drusische Kinder auf den Golanhöhen getötet werden, wie wenn es jüdische Kinder in Tel Aviv wären, sagt Revivo in Madschdal Schams. Und der Staat Israel müsse die Souveränität über seine Gebiete wiederherstellen. Völkerrechtlich zählen die Golanhöhen zu eben jenem Staatsgebiet nicht dazu. Anfang der 1980er Jahre annektierte Israel das Gebiet, das es 1967 von Syrien im Kampf errang.

Entlang der ganz nah und parallel zur syrischen Grenze verlaufenden, nach Madschdal Schams führenden Straße, der Route 98, sind die Folgen des Kriegs um die Golanhöhen bis heute sichtbar: An rostenden Drahtzäunen warnen Schilder vor Minen und durch die leeren Fensterhöhlen halbzerstörter Häuser schimmert das Grün der sie umgebenden Bäume. Wo keine Minenfelder liegen, ist die Straße gesäumt von Kuhweiden, Militärcamps, Trainingsgelände für Schießübungen und den warmen, ockerfarbenen Steinen der bergigen Landschaft.

Schwarze Fahnen der Trauer

Wer schließlich Madschdal Schams erreicht, wird begrüßt von schwarzen Fahnen der Trauer: Auf den Kreisverkehren der Stadt, von den Straßenlaternen wehend und schließlich an dem Metallzaun rund um den Sportplatz selbst. Die Presseshow des israelischen Militärs störe ihn, lässt ein junger Mann aus der knapp 12.000-Einwohner-Stadt durchblicken. Seinen Namen will er nicht nennen. Natürlich komme die Besatzungsmacht vorbei, wenn sich eine Katastrophe ereigne, sagt er.

Wie etwa 80 Prozent der Drusinnen und Drusen auf den annektierten Golanhöhen ist er kein israelischer Staatsbürger, obwohl er einer werden könnte. In seinen Papieren, sagt er, stehe „undefiniert“ – nicht israelisch, nicht syrisch. Dass die meisten Drusinnen und Drusen der Region den israelischen Pass nur deshalb verweigerten, weil sie fürchten, von Syrien des Verrats bezichtigt zu werden, wenn Israel das annektierte Gebiet eines Tages wieder abgeben müsse, hält er für ein Gerücht. „Man nimmt nicht die Staatsbürgerschaft eines Landes an, das die eigenen Vorfahren getötet hat“, erklärt er.

Ich stehe hier zwischen den Welten und ich wünsche mir Frieden, einfach Frieden

Safi Safadi, Bewohner von Madschdal Schams

Safi Safadi sagt, er stehe zwischen den Welten. Der 26-Jährige spielt Rugby in einem lokalen Verein und in der israelischen Nationalmannschaft, erzählt er. Es sei nicht so, dass Israel für die Drusen auf den Golanhöhen nichts tue, erklärt er. Doch ein Teil seines Herzens, der bleibe eben syrisch. Auch weil er Verwandte dort habe, sagt er, etwa in der Stadt Suweida. Bis zum Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 war das Verhältnis zwischen Machthaber Baschar al-Assad und den Drusen gut.

Doch seitdem geht es bergab – und bis heute protestieren die mutigen Drusen in Suweida gegen Assad. Auch das trage dazu bei, schrei­ben Analysten, dass sich das Verhältnis zwischen den Drusen auf den Golanhöhen und dem Staat, der ihre Heimat annektiert hat, langsam bessert. Er wünsche sich Frieden, sagt Safadi, „einfach Frieden“.

Die Solidarität reicht bis über die Grenze. Am Sonntag halten die Drusen in Suweida eine kleine Demonstration ab und beschuldigen die mit dem syrischen Regime verbündete Hisbollah des „Tötens von Kindern“, schreibt die Times of Israel.

Wie der Frieden, den Safadi sich wünscht, erreicht werden soll, wird in Israel weiter diskutiert. Seit vergangenem Oktober schießt die Hisbollah beinahe täglich Raketen, Anti-Panzer-Waffen und Drohnen gen Nordisrael und die Golanhöhen. Einige Israelis sind überzeugt: Nur eine Bodenoffensive im Libanon, um die Hisbollah von der Grenze zurückdrängen, könne Frieden schaffen. Andere hoffen weiter auf eine diplomatische Lösung.

24 Zivilisten sind bei den Angriffen im Norden Israels bisher ums Leben gekommen, inklusive der in Madschdal Schams getöteten Kinder und Jugendlichen. Dass es verhältnismäßig wenige sind, liegt auch daran, dass die Region zu großen Teilen evakuiert ist. Über 80.000 Menschen haben bereits in anderen Teilen Israels Zuflucht gesucht.

Auch in Nordisrael leben Drusinnen und Drusen. Sie sind bereits seit der Gründung des Staates Israel seine Bürger, gelten als loyal zum Boden ihrer Vorfahren und damit auch zur kontrollierenden Staatsmacht. Bisher verweigern sie die Evakuierung – etwa aus dem nordisraelischen Dorf Hurfeisch, in dem Anfang Juni eine Rakete mehrere Menschen teils schwer verletzte.

Zu den vielen in Schwarz gekleideten Menschen sind im Laufe des Nachmittags einige junge Männer hinzugekommen, in der tarngrünen Kleidung des Militärs, an der Schulter einen aufgenähten fünffarbigen Stern, das Zeichen der Drusen. In Madschdal Schams, aber auch in Hurfeisch ist er allgegenwärtig. Als Anhänger an Ketten, als Sticker auf Autos und als Mosaik an Hauswänden.

Einige haben Gewehre umgehängt, ein anderer hat eine Pistole lässig in den Hosenbund geklemmt. Er komme nicht aus Madschdal Schams, sagt er, sondern aus dem Norden Israels. Aber man halte zusammen, als Drusen, betont er, und steht mit gesenktem Kopf vor der Kuhle im Boden, die die Explosion auf dem Sportplatz hinterlassen hat.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Der Raketenangriff war nicht "nahe Syrien" sondern "in" Syrien, dessen Golanhöhen von Israel völkerrechtwidrig anektiert wurden. Was soll die unterschiedliche Bewertung von Krim, Tibet und Golanhöhen?

    • @Thomas Müller:

      Die Golanhöhen wurden von Syrien als militärischer Stützpunkt genutzt, von dem aus immer wieder israelische Gemeinden beschossen wurden. Dies galt insbesondere für die an den Golan grenzenden israelischen Dörfer in den entmilitarisierten Zonen, welche im Zuge des Waffenstillstandsbkommens von 1949 eingerichtet wurden.

      Zwar konnte Syrien Teile des Golans im Jom-Kippur-Krieg 1973 zunächst wieder besetzen; diese Gebiete gingen jedoch im weiteren Verlauf der Kämpfe erneut verloren.

      Bei Geheimverhandlungen zwischen Israel und Syrien – weit in den Krieg in Syrien hinein, in den Jahren 2011/2012 – soll Regierungschef Netanjahu noch die vollständige Rückgabe der besetzten Golanhöhen im Gegenzug für ein Friedensabkommen in Aussicht gestellt haben. Die Zeitung Jedi’ot Acharonot berichtete, dass die Verhandlungen unter Vermittlung der Regierung Obama mit George Mitchell und Frederic Hof jedoch versandet seien, als sich der Krieg ausweitete.

      ==

      Vielleicht sollte mal jemand Hamas & Hizbollah erklären, das durch Kriege, ausgehend von Terrororganisationen



      oder von arabischen Staaten, sich die Situation aller im Nahen Osten lebenden Ethnien sich drastisch verschlechtert haben.

  • Eine Analyse, warum ausgerechnet die Golanhöhen beschossen wurden, wäre mir wichtiger gewesen. Denn das ist schon merkwürdig. Warum schießt die Hisbollah eine Rakete hierhin? Ein Fehler?

    • @Jalella:

      Die Vermutung ist dass die Rakete zu kurz geflogen ist. Ein paar hundert Meter weiter gibt es eine israelische Militäreinrichtung. Aber eine Fehlerkultur mit Eingeständnissen gibt es bei der Hisbollah nicht.

  • Und wessen Rakete war das jetzt? Kann man wirklich aus den Trümmern nicht rekonstruieren, wessen Rakete das war?

  • Ein notwendiger, wenn auch stellenweise schwer erträglicher Text, der endlich einige Details zu diesem Angriff beiträgt. Auch wenn der "Standard" gilt...."unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht" wirken sie doch glaubwürdig aufgrund ihrer Details.



    Kann man verlangen, das Israel anders reagiert als mit der üblichen Eskalation durch Gegenangriff und -gewalt? Schwerlich, zu nah liegt das Gefühl, die Täter dürften nicht "ungestraft" bleiben. Und dennoch: solche Gegenschläge treffen ja nie die eigentlich Verantwortlichen, sondern wieder nur "Unbeteiligte". Die dann wieder allen Grund haben, die Täter (und Täterinnen) zu hassen.



    Wenn ein Ausweg aus dieser Sprirale gefunden werden soll, dann muss irgendwann, irgendwie, irgendwer aus dieser Logik der Vergeltung aussteigen. Und eine Gewalttat vorerst "ungerächt" lassen.



    Von den gegenwärtigen Akteuren in diesem Konflikt traue ich -leider- keinem diesen scchwierigen Schritt zu.

  • Vielen Damk für den sehr gut zu lesenden und einfühlsamen Text, der gegenüber Tagesschau, Süddeutscher und Stuttgarter einen etwas näher ranzubringen scheint an diese menschliche Tragödie.