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Sinto über Mord und Erinnerung„Ich werde das nicht los“

Wie groß der Verlust war, erfuhr der Sinto Erdmann Grimm erst viel später: Nur seine Mutter überlebte die Deportation ihrer Familie nach Auschwitz.

„Wenn ich gesehen habe, dass Wohnwagen in der Nähe waren, bin ich hin und habe mich mit ans Lagerfeuer gesetzt“: Erdmann Grimm mit Familienfotos Foto: Jens Gyarmaty
Interview von Ralf Lorenzen

wochentaz: Herr Grimm, Sie haben mir erzählt, dass Sie zum Django-Reinhardt-Festival nach Hildesheim wollten. Wie war es dort?

Erdmann Grimm: Es hat mich umgehauen. Vor allem der eine Gitarrist, auf dessen Namen ich gerade nicht komme. Der hat gespielt und ich war weg. Ich habe dann ein Video von ihm rumgeschickt und eine Bekannte hat gesagt: Das ist ja sehr fingerfertig. Ich habe geantwortet: Das hat nichts mit seinen Fingern zu tun, das ist sein Herz. Ich war schon mindestens fünfmal auf dem Festival, vergangenes Jahr habe ich es leider verpasst, aber der Termin für nächstes Jahr ist schon notiert.

Wie ist Ihre Leidenschaft für den Sinti-Jazz entstanden?

Durch meine Mama. Sie hat mich mal ins alte VW-Museum mitgenommen, als da eine Sinti-Combo aus Hamburg gespielt hat. Ab da gab es für mich kein Halten mehr. Da hatte ich das erste Mal das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Die Musik löst so ein Fernweh bei mir aus. Dann möchte ich überall sein, wo meine Leute mal waren. Ich sage jetzt meine Leute, weil ich mich wirklich den Sinti zugehörig fühle. Mein Vater war zwar kein Sinto, aber meine Mutter eine Sintiza.

Das war Ihnen schon immer klar?

Ja, sehr früh, daraus hat sie nie einen Hehl gemacht. Aber sie hat lange bestritten, dass sie Romanes spricht. Ein paar Jahre nach dem Konzert im VW-Museum waren wir auf einem Konzert im alten Gewerkschaftshaus in der Nähe vom Bahnhof, da ist sie einfach in die Musiker-Garderobe gegangen. Da habe ich das erste Mal gehört, dass meine Mutter perfekt Romanes spricht. Sie hat pausenlos mit den Musikern geschnabbelt.

Warum hatte sie das vorher verheimlicht?

Sie wollte nicht, dass mein älterer Bruder und ich Romanes lernen. Damit wollte sie uns schützen, weil noch zu viele verkappte Nazis rumliefen. Sie hatte schließlich ihre ganze Familie durch die Nazis verloren und auch Angst um uns.

Was wussten Sie als Kind über die Familie ihrer Mutter?

Nicht viel. Mama hat nur von denen erzählt, von denen es noch Fotos gab und nach denen ich gefragt habe. Von ihrer Schwester Gertrud, einem Bruder und von meinem Pappo.

Pappo?

Das heißt auf Romanes Großvater.

In Ihrem Fall der Musiker Wilhelm Schwarz, der mit seiner Frau und zehn Kindern neben dem alten Bremer Schlachthof lebte. Von dort aus wurden sie im März 1943 mit etwa 270 anderen Sinti und Roma ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.

Meine Mutter war die Einzige von ihnen, die Auschwitz überlebt hat. Aber das habe ich alles erst viel später erfahren. Ich habe sie zwar danach gefragt, was die Nummer auf ihrem Arm bedeutet, aber da hat sie nur gesagt: Die ist aus Auschwitz – und damit konnte ich lange nichts anfangen.

Was hat sie von ihrem Vater Wilhelm Schwarz erzählt?

Nur aus der Zeit in Bremen. Man konnte ihm jedes Instrument in die Hand drücken und er hat es ohne Noten gespielt. Und wenn sie ihm einen Streich gespielt hat, hat er zwar geschimpft, aber nie seine Hand gehoben. Er hat seine Kinder geliebt. Aber ich wusste ja damals nicht, dass es so viele waren. Sie hat das alles weggeschwiegen. Das hätte sie nervlich gar nicht ausgehalten, wenn sie von all ihren neun Geschwistern erzählt hätte. Und ich hätte es auch nicht ertragen: Vor dem Schmerz hat sie mich geschützt.

Wie war sie als Mutter?

Wie eine Mutter sein soll, einfach ganz lieb. Sie hat auch mal geschimpft, aber immer gelacht dabei. Sehen Sie das Bild dahinten?

Das Kind in der Lederhose mit der langen Lockenmähne?

Das bin ich mit fünf Jahren in der Lüneburger Heide. Ich war der einzige Junge mit langen Haaren, die anderen hatten alle eine Pottschnitt. Aber meine Mutter fand meine Haare so schön, dass sie wachsen sollten. Bis mein Bruder und ich mit zwei Nachbarsmädchen Frisör gespielt haben. Danach blieb auch für mich nur noch ein Pottschnitt übrig. Viel später, in meiner Zeit bei VW, habe ich mir einen langen dünnen Zopf wachsen lassen, der bis zu meinem Vorruhestand dranblieb. Mein Chef fand das zwar nicht so gut, aber ich habe mir nicht reinreden lassen, schließlich habe ich nicht an rotierenden Geräten gearbeitet.

Der Historiker Hans Hesse schreibt in seinem Buch über die Deportation der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, dass Ihre Mutter Frisörin werden wollte und sogar schon eine Lehrstelle hatte, die sie Ostern 1943 antreten sollte.

Mir hat sie oft erzählt, dass sie gern Porzellanmalerin geworden wäre. Sie konnte sehr gut malen, vor allem ganz feine Sachen. Das Bild da hinten ist auch von ihr (zeigt auf das Bild einer Schneelandschaft mit zwei Häusern).

Hatte sie in Wolfsburg Kontakt zu anderen Sinti?

Nein, aber ungefähr dreimal im Jahr ist sie mit mir zu Sinti nach Bremen gefahren, zu Harry und Gina. Dort ist meine Mutter immer richtig aufgeblüht, da war sie viel lockerer. In Wolfsburg war sie anderen gegenüber immer sehr reserviert. Manche dachten schon, sie sei hochnäsig. Das war aber zu ihrem eigenen Schutz. In Bremen war sie eine ganz andere, da war sie nicht die Frau Grimm, sondern die Anni.

Anni Grimm, Mitte der 1950er-Jahre aufgenommen in der Göhrde, Niedersachsen Foto: privat

Wie ist Ihr Vater mit dieser Veränderung umgegangen? War er auch bei den Bremen-Besuchen dabei?

Ja, manchmal war er auch dabei, aber damit hatte er keine Probleme. Ich glaube sogar, dass er sich da auch wohler gefühlt hat. Er hat meine Mutter geachtet und gut behandelt. Er hatte eher ein kleines Problem damit, dass sich die Männer immer nach meiner Mutter umgedreht haben – sie war eine sehr schöne Frau.

Haben Ihre Eltern Ihnen erzählt, wie sie sich kennengelernt haben?

Das war auch einer der Punkte, über den sie nicht gesprochen haben. Es muss aber in Thüringen gewesen sein, wo sie 1946 geheiratet haben. Dorthin hatte meine Mutter sich abgesetzt nach der Auflösung des Frauen-KZ Ravensbrück, in das sie 1944 aus Auschwitz verlegt worden war.

Wie waren die Besuche in Bremen für Sie selbst?

Sie haben mein Leben verändert. Auch ich habe mich da viel wohler gefühlt als in Wolfsburg. Vorher hatten wir in der Göhrde gewohnt, wohin meine Eltern 1951 geflohen waren und mein Vater als Gärtner gearbeitet hat. Da gab es vielleicht zwölf Häuser. Als wir nach Wolfsburg zogen, weil Papa bei VW angefangen hat, bin ich gar nicht klargekommen und habe mich so durchgemogelt.

Im Interview: Erdmann Grimm

Der Mensch

Der pensionierte Modelltischler Erdmann Grimm (74) ist einer von zwei Söhnen der Sinteza Anni Grimm, geborene Schwarz, die als einzige ihrer zwölfköpfigen Familie das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte. Familie Schwarz wohnte neben dem alten Schlachthof in Bremen, als sie im März 1943 mit etwa 270 anderen Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland im Schlachthof gesammelt und nach Auschwitz deportiert wurde. Anni Grimm wurde laut Recherchen des Historikers Hans Hesse 1944 in das Frauen-KZ Ravensbrück verlegt und war bei den Siemenswerken zur Arbeit zwangsverpflichtet. Im September 2022 wurde der Platz vor dem heutigen Kulturzentrum Schlachthof in Familie-Schwarz-Platz umbenannt.

Der Gedenktag

Der 2. August ist der europäische Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten 4.300 Sinti und Roma im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der SS in die Gaskammern getrieben und ermordet. Insgesamt wurden 500.000 Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa ermordet.

Was war bei den Besuchen in Bremen anders als in Wolfsburg?

Ich habe mich richtig ernst genommen gefühlt. Sobald wir ankamen, ist Onkel Harry mit mir zum Angeln an die Wümme gefahren. Das ist immer noch meine große Leidenschaft. Er hat mir die erste Angel geschenkt und mir die Anfänge beigebracht, zum Beispiel wie man am Gewässer lesen kann, wo der Fisch steht. Einmal habe ich einen Zehn-Liter-Eimer voll mit Barschen gefangen. Die haben wir dann zu Hause geschuppt, ausgenommen und gebraten.

Worüber haben Sie beim Angeln geredet?

Über Gott und die Welt. Als ich ungefähr neun oder zehn war, hat Onkel Harry mir auch etwas über die Geschichte der Sinti erzählt und ein paar Brocken Romanes beigebracht. Auch er hat mir nichts über die Grausamkeiten erzählt, die unserer Familie angetan wurden. Aber ich habe mich so verbunden mit den Leuten und ohne Worte verstanden gefühlt, dass ich immer dableiben wollte. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich wieder dahin konnte. Ab da habe ich mich als Sinto verstanden.

Wussten das Ihre Mitschüler in Wolfsburg?

Dem einen oder anderen habe ich das mal gesagt, und das ging dann rum. Ich frage mich manchmal, ob das richtig oder falsch war, aber ich tendiere mehr zu richtig. Es gab zwei, drei Mitschüler, die zu mir gehalten haben. Aber der Rest hat sich, ich sage es mal vorsichtig, ein bisschen weggedreht. Später muss es auch mein Ausbildungsleiter bei VW, wo ich Modelltischler gelernt habe, mitbekommen haben. Das habe ich gespürt, ich hatte es nicht leicht bei ihm.

Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, wenn man zehn Jahre alt ist und eine Identität als Sinto aufbaut, aber in einem ganz anderen Umfeld aufwächst. Wie haben Sie diesen Widerspruch ausgehalten?

Ich habe versucht, das Beste draus zu machen. Ich habe mich immer gefreut, wenn es wieder nach Bremen ging. Da habe ich mein Leben ein bisschen drauf ausgerichtet. Als ich älter wurde, habe ich das alles besser weggesteckt, dann konnte ich mich auch freier bewegen. Wenn ich gesehen habe, dass Wohnwagen in der Nähe waren, bin ich hin und habe mich mit ans Lagerfeuer gesetzt. Mit der Zeit habe ich auch mehr nachgefragt, vor allem bei Harry, und erfahren, dass auch von mir Angehörige in Auschwitz umgebracht worden sind. Ich habe mir dann Mamas KZ-Nummer auf den Oberarm tätowieren lassen, um meine Verbundenheit mit den Opfern zu zeigen.

Hat Ihnen Ihre Mutter mehr über ihre Lagerzeit erzählt, als Sie älter wurden?

Nicht die Grausamkeiten. Als ich die ganze Geschichte meiner Familie erfahren habe, sind mir wieder Momente eingefallen, in denen ich sie sehr traurig und in sich versunken erlebt habe.

Wann haben Sie von der zwölfköpfigen Familie Schwarz aus Bremen erfahren – und davon, was ihr widerfuhr?

Vor etwa drei Jahren bekam ich einen Brief vom Friedhofsamt, in dem ein zweiter Brief steckte. Der war von Hans Hesse, der mir von seinen Recherchen schrieb – und fragte, ob er mit mir sprechen könne.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Das war erst mal ein Schock, bis dahin wusste ich ja nur von Gertrud und einem Bruder. Und von Pappo und Mami, meiner Großmutter. Aber dann wollte ich alles ganz genau wissen und habe alles aufgesogen und gelesen, was ich darüber erfahren konnte. Ich werde das nicht los, das ist immer da. Als 2022 der Platz vor dem Kulturzentrum Schlachthof in Bremen nach meiner Familie benannt wurde, hat der Schlachthof-Mitarbeiter Matthias Otterstedt die lebensgroßen Silhouetten einer zwölfköpfigen Familie auf Bildplatten gemalt, vom Baby bis zum Vater. Nur eine Figur hat ein Gesicht: das meiner Mutter. Ein Foto davon habe ich mir jetzt rahmen lassen. Ich habe große Hochachtung vor meinen Leuten, die so bestialisch umgebracht wurden.

Was bedeutet es für Sie, dass dieser Platz jetzt nach Ihrer Familie heißt?

Es hat mich sehr ergriffen, als ich mit dem Bürgermeister das Schild enthüllt habe. Ich hatte wieder das Gefühl, angekommen zu sein, ein Stück meiner Wurzeln wiederbekommen zu haben. Außerdem habe ich mich bei den Bremer Sinti und ihren Freunden gleich wohlgefühlt und einen neuen Angelfreund gefunden. Sie nennen mich Männi, wie es meine Mutter getan hat.

Wann ist Ihre Mutter gestorben?

Das war 2007. Am Tag vorher musste ich noch wie jeden Sonntag bei ihr zum Essen antanzen, am Montag habe ich sie dann in ihrer Wohnung gefunden. Das war einerseits hart, aber auch so, als wenn es so sein sollte. Bei der Trauerfeier hat der Pastor eine Christusfigur gezeigt, die von einem polnischen Künstler aus dem Draht von Auschwitz gefertigt worden ist. Und dazu gesagt, dass meine Mutter dort inhaftiert gewesen ist. Außer meinem Sohn und mir waren noch zwei Nachbarinnen da, die das nicht wussten und ganz still wurden.

War Ihre Mutter religiös?

Ja, sie ist regelmäßig in die Kirche und zu Gemeindetreffen gegangen.

Welche Bedeutung haben für Sie die Erinnerungstage wie der 2. August, der internationale Holocaust-Gedenktag für die Sinti und Roma?

Die sind sehr wichtig – wie Mahnmale. Es ist unvorstellbar, wie Menschen andere so grausam behandeln konnten. Wie Nummern und wie Kreaturen, die einfach nur wegmüssen. Heute muss sich niemand mehr dafür schuldig fühlen, aber wenn ich sehe, welche Parolen es in Deutschland wieder gibt, kriege ich ganz schön Angst. Meinen Mund lasse ich mir trotzdem nie verbieten.

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