Ein Grab aus Mamor mit einer Marmorvase und Blumen

Foto: Magdalena Maria Stengel

Grabstätten von Roma und Sinti:Endlich ist Ruhe

Gräber von Sinti und Roma fallen auf: Groß, kitschig, raumgreifend. Doch eine spezifische Bestattungskultur gibt es nicht – dafür viele Klischees.

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3.11.2023, 13:22  Uhr

Das Grabmal aus gelb-rotem Marmor misst 3 mal 2,50 Meter. Zwei Stufen führen zur Grabplatte hinauf, darauf liegt ein Stein in Form eines aufgeschlagenen Buchs. In goldenen Lettern ist ein Bibelspruch hineingemeißelt. Golden sind auch die Weinreben, die sich am Kopfteil an zwei Säulen emporranken.

Die letzte Ruhestätte einer mit 50 Jahren gestorbenen Frau sieht aus wie ein pompöses Doppelbett aus Stein, auf dem allerlei Nippes drapiert ist. Zwei in Zellophan eingeschweißte Teddys aus rosafarbenen künstlichen Rosen, eine Vase in Form eines goldenen Pumps, Putten in verschiedenen Farben und Größen. Nebenan, auf einem in demselben Stil gestalteten Grab flackert hektisch eine Lichterkette an und aus; ein junger Mann ist hier begraben.

Solche Grabanlagen sind auf vielen deutschen Friedhöfen zu sehen und sie werden mehr. Manche sind noch opulenter: Überdachte Mausoleen, von Zäunen umstellt, lebensgroße Fotos von Verstorbenen auf Grabsteinen. In Hameln zieren ein kleiner Flügel und ein goldener Notenständer ein Grab.

Auch das Marmorbett auf dem kleinen Bremer Friedhof im Stadtteil Buntentor zieht alle Blicke auf sich – und Hermann Ernst tut alles, um die Aufmerksamkeit auf die anderen, weniger auffälligen Gräber hier in einer Ecke am südlichen Eingang des Friedhofs zu lenken. Sechzig sind es insgesamt, 5 Familiengräber und 81 namentlich genannte Verstorbene. Mit der Hälfte von ihnen ist Hermann Ernst verwandt.

„Gucken Sie mal hier auf dem Stein, eine Angel“, sagt er, „mein Vater hat gerne geangelt.“ Oder dort die Gravur eines Pferdekopfs in grauem Stein: Sein Onkel habe Pferde geliebt. Auch eine Pfeife gibt es, Marien- und Jesusabbilder. Über die Darstellung eines Aschenbechers mit brennender Zigarette rümpft Hermann Ernst die Nase. Unzufrieden ist er auch mit dem einzigen ungepflegten, von Gras überwachsenen Grab. „Hier muss auch mal wieder jemand kommen“, sagt er leise.

Sinti und Roma (und was sie unterscheidet)

An einem Freitagnachmittag Mitte Oktober führt der 60-Jährige, ein ruhiger, kleingewachsener Mann, auf dem Friedhof durch die Reihen. Die wenigsten Gräber wären auf einem südeuropäischen Friedhof eine Besonderheit: große Grabplatten aus geschliffenem Stein, hier und da kleine Fotos der Verstorbenen. Was sie mit den Hinguckergräbern gemeinsam haben: Hier sind Angehörige der Roma beerdigt.

Auch Hermann Ernst selbst gehört der Minderheit an, nennt sich aber nicht Rom, sondern Sinto. Er ist sowohl Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma als auch des Bremer Sinti-Vereins. Der Unterschied ist wichtig, auch hier auf dem Friedhof: „Sinti“ bezeichnet die Roma, die schon seit 600 Jahren in Deutschland leben, analog etwa zu den Gitanos in Spanien.

Wenn in Deutschland von Roma die Rede ist, dann sind damit meistens diejenigen gemeint, deren Familien nach 1990 aus osteuropäischen Ländern eingewandert sind. Fast immer sind sie es, die sich für so auffällige Andenken an ihre Toten entscheiden, so auch auf dem Bremer Friedhof. „Das sind Roma-Gräber“, sagt Hermann Ernst, „über die kann ich nichts sagen.“

Gräber auf einem Friedhof

Wären sogar auf manchem süd­europäischen Friedhof eine Besonderheit in ihrer Opulenz: Gräber auf dem Friedhof Bremen-­Buntentor Foto: Magdalena Maria Stengel

Aber andere sprechen um so mehr über sie. Weil sie nicht zu passen scheinen in die protestantische Bescheidenheit aus naturbelassenem Stein auf einem Quadratmeterchen Beet. Dabei ähneln sie in ihrer Wuchtigkeit deutschen Industriellen- und Adligengräbern aus den vergangenen beiden Jahrhunderten, die heute als Kulturdenkmäler bewundert werden.

Grabstätten im „Baumarktstil“

Auf dem Karlsruher Friedhof Grünwinkel würden sich manche Menschen wegen der „Protz-Gräber“ nicht mehr beerdigen lassen wollen, so formulierten es die Badischen Neuesten Nachrichten vor einem Jahr, in Anführungszeichen allerdings. Und in Frankfurt sorgten sich Be­su­che­r:in­nen in Internetforen um den „Hauptfriedhof als Kulturdenkmal“, wie die Frankfurter Rundschau 2019 berichtete – wegen Grabstätten im „Baumarktstil“.

In Bremen gab es noch keine öffentlichen Beschwerden, nur schräge Seitenblicke. „Na, also meins wäre das nicht“, sagt einmal jemand. An einem anderen Tag stehen zwei ältere Paare an einem imposanten Grab aus schwarzem Marmor. „Das hat doch bestimmt 100.000 Euro gekostet“, mokiert sich eine Frau. „Die Toten haben nichts davon“, wirft etwas abfällig ihr Begleiter ein.

Ganz so teuer sind die Gräber nicht, dafür warten die Kun­d:in­nen ein knappes Jahr auf sie. 30.000 Euro habe das Marmorbett für die im vergangenen Jahr früh verstorbene Mutter seiner sechs Kinder gekostet, erzählt an einem warmen Augusttag ein gebückt gehender Mann, die Familie habe zusammengelegt. Der Witwer sitzt oft hier, manchmal mit anderen Angehörigen, vor dem Grab ist eine Bank aufgebaut. Jeden Abend ist jemand da, um die Grablichter anzuzünden, die Blumensträuße sind immer frisch.

Ein paar Monate später, im Oktober, zeigt Hermann Ernst die Gräber seiner Verwandten. Auf manchen, wie auf dem seines pferdeliebenden Onkels, stehen zwei Vornamen: Hugo und sein Sinti-Name Latschokind. Auch Abschiedsgrüße auf Romanes, der Minderheitensprache von Roma und Sinti, gibt es als Inschriften. Hermann Ernst liest sie vor und übersetzt. „Du bist immer in unserem Herzen, vergessen werden wir dich nie.“ Auf einem anderen wird eines „Papo“ gedacht, das heißt „Opa“. So nennen seine eigenen Enkelkinder auch Hermann Ernst.

Menschen sollten vernichtet werden

Manchmal muss er einen Moment überlegen, in welchem Verhältnis er zu jemand steht. Eine Cousine, die Tochter von wem noch gleich? „Ich verliere selbst immer den Überblick.“ Die Familie ist groß, er selbst ist der jüngste von neun. Neben drei Geschwistern sind auch seine Eltern hier begraben, Albert und Liesbeth, geboren 1929 und 1927, gestorben 1988 und 1989. Als Kinder überlebten sie mit ihren Müttern Vernichtungslager in Polen.

Ein Mann in grauer Jacke schaut an der Kamera vorbei

Oft muss er kurz überlegen, in welchem Verhältnis er zu jemand steht: Hermann Ernsts Familie ist groß Foto: Magdalena Maria Stengel

Für die drei Schwestern und den Vater seines Vaters gibt es kein Grab. Sie wurden in Vernichtungslagern ermordet. Zwischen 220.000 und 500.000 Sinti und Roma sind nach Schätzungen in Europa während des Nationalsozialismus systematisch getötet worden, sämtliche „Zigeuner“ wollte das NS-Regime vernichten. In Deutschland sollen es laut Bundeszentrale für politische Bildung 25.000 Menschen gewesen sein, 10.000 bis 15.000 haben demnach überlebt. Heute sollen wieder 70.000 Roma und Sinti in Deutschland leben, aber auch dazu gibt es nur ungefähre Zahlen.

Auf dem kleinen Bremer Friedhof erinnert eine Gedenktafel an den Völkermord. In einer Broschüre und im Internet lassen sich die Lebensgeschichten einiger der hier Beerdigten nachlesen. Ein Historiker hat sie in Zusammenarbeit mit in der Erinnerungsarbeit engagierten Bre­me­r:in­nen recherchiert. Zitiert ist darin aus dem Entschädigungsantrag der Großmutter väterlicherseits von Hermann Ernst, Auguste Ernst, aus dem Jahr 1955. „Mei­ne drei Mäd­chen sind in den Lagern in Polen ge­stor­ben“, hat sie damals der Bremer Staatsanwaltschaft erzählt. „Mitgebracht von dort habe ich nur meine vier Söh­ne.“

Auguste Ernst, 1889 geboren, starb 1988, im selben Jahr wie ihr Sohn Albert, der Vater von Hermann Ernst. Damals habe sich der gerade drei Jahre zuvor gegründete Sintiverein dafür eingesetzt, dass sie so bestattet werden konnten, wie es in der Familie üblich ist, erzählt Hermann Ernst: in einer Art Gruft. So sind die Gräber auf diesem Grabfeld fast alle von allen Seiten von Stein umschlossen, nicht alle Friedhöfe in Deutschland erlauben das. Warum seine Familie und viele andere Familien das so machen, weiß Hermann Ernst nicht, es sei halt Tradition. Davon, dass die Toten der Roma und Sinti nicht die Erde berühren sollen, hat er noch nie etwas gehört.

Mythen über spezifische Bestattungskultur

Das aber kursiert als Tatsachenbehauptung im Internet. So zitierte im Oktober die Deis­ter und Weser Zeitung eine Sprecherin der Stadt Hameln: „Hintergrund ist, dass nach dem Glauben der Sinti der Sarg nicht vom Erdboden umschlossen sein soll.“ Und in einem WDR-Radiobeitrag aus diesem Jahr heißt es: „Nach Sinti- und Roma-Tradition darf der Sarg die Erde nicht berühren.“ In dem Beitrag kommt auch der Kölner Pfarrer Jan Opiéla zu Wort, Leiter der „katholischen Seelsorge für Roma, Sinti und verwandte Gruppen“. Der Körper solle „so weit wie möglich unverwest wieder zur Auferstehung kommen“, begründet er die Bestattung in einer Gruft.

Weitere Annahmen über eine spezifische Bestattungskultur von Roma und Sinti finden sich in einer Broschüre seiner Dienststelle im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 2022. Darin findet auch der „Mulo“ Erwähnung, der „Geist des Toten“. Der Respekt vor ihm veranlasse „die Lebenden, den Totengeist mit der neuen Bleibe zu beruhigen“. Außerdem gelte alles, was mit dem Tod zusammenhänge, als unrein. „Daher werden bei Sinti die Sachen des Toten bis hin zu seinem Wohnwagen – sofern er darin verstorben ist – möglichst verbrannt.“

Es gibt neben „Roma = Wohnwagen“ weitere Kurzschlüsse. So orakelt der Autor des Artikels in der Deis­ter und Weser­zeitung, die Tradition des Verbrennens habe seinen Ursprung „Forschern zufolge womöglich im indischen Hinduismus“. Der Hinduismus kommt ins Spiel, weil die Roma ursprünglich in Indien beheimatet waren.

Es handelt sich bei diesen vermeintlichen Fakten um Beobachtungen, die verallgemeinert und weitergetragen werden – so reproduzieren sich Klischees. Die Forscher etwa, die eine Verbindung zum Hinduismus sehen: Es gibt sie schlicht nicht. Eine Recherche zu englisch- oder deutschsprachiger Literatur zur Bestattungskultur der Roma fördert nur drei Texte hervor.

Suche nach kleinstem gemeinsamen Nenner

Erstens einen Bericht aus dem Jahr 1952 über die „Funeral and Death Customs of the Swedish Gypsies“ ohne wissenschaftlichen Anspruch. Zweitens eine Untersuchung aus dem Jahr 2018 zum Umgang mit Tod und Sterben von Roma, die aus Transsylvanien migriert sind, mit Fokus auf die Überführung der Leichname ins Herkunftsland sowie digitalisierte Trauerrituale. Drittens eine Feldforschung aus Südostserbien aus dem Jahr 2005, in die Interviews mit elf Zeit­zeu­g:­in­nen einflossen.

Deutlich wird aus Letzterer, wie eng verwoben die Bestattungskultur der Roma mit der der jeweiligen Region ist, in der sie teilweise seit Jahrhunderten leben und die sie mitgeprägt haben. Davon, dass Roma in Gruften oder Mausoleen beerdigt würden, habe er noch nie gehört, schreibt der Autor der Studie, Dragan Todorovic von der Universität im serbischen Niš, der taz. Er wisse nur, dass die muslimischen Roma wie die anderen Mus­li­mi­n:­in­nen dort in ein weißes Tuch gelegt würden, mit Holzbalken darüber, damit die Erde nicht auf den Leichnam falle.

Aber: Wer nach einer allgemeingültigen Aussage zur Bestattungskultur von Roma und Sinti, nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner sucht, muss erst noch begreifen, dass es „die Roma“ und auch „die Sinti“ gar nicht gibt – und sich von den Angehörigen dieser Gruppen nicht alle auf die gleiche Weise beerdigen lassen.

Entsprechend irritiert reagiert eine Mitarbeiterin des Zentralrats deutscher Sinti und Roma in Heidelberg auf die Frage nach wissenschaftlichen Untersuchungen zur Bestattungskultur. Es gebe keine besonderen Rituale, sagt sie, das seien alles Familientraditionen. Schon das Wort „Ritual“ weist sie zurück, vielleicht in der Annahme, hinter der Frage stecke das Klischee des abergläubischen Zigeuners, der kaffeesatzlesenden Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt?

Exotisierender Blick von außen

Wie begründet ihr Misstrauen ist, zeigt die Broschüre der Deutschen Bischofskonferenz mit ihrem Verweis auf den Totengeist, als würde daran jeder Rom und jede Sintezza glauben. Dieser Mulo wurde auch bis vor Kurzem in einer Wanderausstellung des Kasseler Museums für Sepulkralkultur über unterschiedliche Bestattungskulturen gezeigt. Das sei nicht das einzige Problem mit der Ausstellung und ihrer Darstellung von vermeintlichen Traditionen bei Roma und Sinti gewesen, sagt Gerold Eppler, stellvertretender Leiter des Kasseler Museums. „Wir haben sie jetzt aus dem Verkehr gezogen.“

Der Museumspädagoge bestätigt, dass die wissenschaftliche Grundlage zur Bestattungskultur von Roma und Sinti ausgesprochen dünn sei. Erfahrungen zeigten, dass etwa der oft beschriebene Ahnenkult kaum eine Rolle spiele. „Es ist ein Klischee der Mehrheitsgesellschaft, dass Roma und Sinti sehr traditionelle Bestattungsriten vollziehen“, sagt Gerold Eppler. Er sieht darin einen exotisierenden Blick von außen, der Ausgrenzung produziert: Wir und die. Zu hören ist das auch während des Friedhofsbesuchs in Bremen. Mehrfach korrigiert sich Hermann Ernst, wenn er über „die Deutschen“ redet. „Wir sind ja auch Deutsche.“

Es sind nicht nur die Gräber, die als „anders“ markiert werden, es ist auch die Art des Trauerns. In dem Artikel in der Frankfurter Rundschau empören sich Friedhofsbesucher darüber, dass an Allerheiligen 20 bis 30 Menschen an einem Grab gegessen und getrunken hätten. Und auf dem Bremer Friedhof erzählt eine ältere Frau, einmal sei ein Teil des Friedhofs wegen einer Beerdigung abgesperrt gewesen. „Da saßen bestimmt 150 Leute, viele auf Klappstühlen. Gut, die waren alle ruhig, aber komisch war das schon.“

Es gebe Gründe, warum die Familie für viele Roma und Sinti eine so große Rolle spiele und bei Ereignissen wie Beerdigungen viele Menschen zusammenkämen, sagt Katharina Rhein, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verband deutscher Sinti und Roma in Hessen. „Das hat vermutlich mit der jahrhundertelangen Verfolgung und Vertreibung zu tun“, sagt sie. „Da war die Familie die einzig verlässliche Struktur.“

Erfahrung mit Diskriminierung

Das gelte übrigens weiterhin, diskriminiert würden Menschen immer noch, wenn sie ihre Roma-Identität offen legten. Dazu gibt es auch Zahlen: Im September veröffentlichte die von der Bundesregierung geförderte Melde- und Informationsstelle Antiziganismus ihren Jahresbericht für 2022: In dem Jahr waren 621 antiziganistische Diskriminierungen gemeldet worden. Bei der Hälfte handelte es sich um Vorfälle im institutionellen Kontext wie Polizei oder Jobcenter.

Zudem, sagt Katharina Rhein, hätten Roma und Sinti ihre Toten lange gar nicht auf Friedhöfen bestatten dürfen. Und während des Völkermords in der NS-Zeit gab es allzu oft gar keine sterblichen Überreste, die hätten beerdigt werden können. „Vor diesem Hintergrund hat so ein Grab auf einem Friedhof noch einmal einen ganz besonderen Wert.“

Das hat auch der deutsche Staat erkannt: Seit fünf Jahren können Angehörige von als „Zigeuner“ Verfolgten einen Antrag darauf stellen, dass die Kosten für den Graberhalt anteilig von Bund und Ländern übernommen werden. Damit sollen die Grabstätten von vor 1945 geborenen Roma und Sinti dauerhaft erhalten bleiben – und so die Erinnerung an das an erlittene Unrecht.

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