Statistik der RIAS-Meldestellen: Antisemitismus auf dem Vormarsch

Der Terror vom 7. Oktober entfesselte den Judenhass auch in Deutschland neu. Meldestellen dokumentierten 2023 fast doppelt so viele Fälle wie im Vorjahr.

Daniel Botmann, Felix Klein, Bianca Loy und Benjamin Steinitz bei der Pressekonferenz zum Jahrebgericht „Antisemitische Vorfälle „ Foto: Kay Nietfeld/dpa

BERLIN taz | Erst sind es arabische Beschimpfungen, die die zwei Männer dem jüdischen Israeli entgegenschleudern, dann bespucken sie ihn, bevor sie treten und schlagen. Am Ende versuchen die Täter noch das Handy ihres Opfers zu stehlen. Dieser Angriff, der sich im Sommer 2023 an einer Berliner S-Bahnstation ereignete, ist einer von rund 4.800 antisemitischen Vorfällen, die der neue Jahresbericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen (RIAS) dokumentiert. Im Jahr zuvor waren es nur rund halb so viele Vorfälle.

Bei der Präsentation des Berichts am Dienstag sagte Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Antisemitisches Gedankengut reicht von ganz links bis ganz rechts und in die Mitte der Gesellschaft hinein.“ Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach von „absolut katastrophale Zahlen“. Er forderte eine Verschärfung des Strafrechts: Auch antisemitische Codewörter sollten als Volksverhetzung eingestuft werden.

RIAS dokumentierte insgesamt 121 gewalttätige Vorfälle, darunter sieben Fälle, die als „extreme Gewalt“ eingeordnet werden. Registriert wurden außerdem fast 200 Fälle antisemitischer Bedrohung. Dazu kommen über 300 Fälle von Sachbeschädigung. Den restlichen Großteil der Fälle ordnen die Au­to­r*in­nen der Kategorie „verletzendes Verhalten“ zu. Dabei geht es etwa um Beleidigungen oder um antisemitische Schmierereien an Hauswänden.

Über die Hälfte der Vorfälle, die RIAS erfasste, ereignete sich nach dem 7. Oktober, als die islamistische Hamas Israel überfallen und über 800 israelische Zi­vi­lis­t*in­nen ermordet hatte sowie 250 Zi­vi­lis­t*in­nen in den Gaza-Streifen verschleppte. Laut Bericht bot dies eine „Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen und Handlungen in Deutschland“: Teils als unmittelbare Reaktion auf den Angriff der Hamas, teils später vor dem Hintergrund des Gazakriegs. Insgesamt ordnet RIAS fast dreiviertel der erfassten Vorfälle dem israelbezogenen Antisemitismus zu.

Auch die antisraelischen Proteste in den Innenstädten hätten sowohl die „objektive Sicherheitslage“ wie auch das „persönliche Sicherheitsempfinden“ vieler Ju­den*­Jü­din­nen stark verschlechtert. Viele hätten sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen oder litten unter Ängsten. Fast die Hälfte der von RIAS registrierten Vorfälle ereignete sich im öffentlichen Raum, etwa auf der Straße oder Verkehrsmitteln. Die Zahl der Vorfälle an Schulen, Unis, Museen und Theatern verdreifachte sich fast auf insgesamt 471.

Gefährliche Kombination: Antisemitismus und Sexismus

Co-Autorin Bianca Loy fordert im Gespräch mit der taz „konsequente und flächendeckende“ Strafverfolgung antisemitischer Täter*innen. „Wir sehen immer noch, dass Polizisten, Staats­an­wä­lte und Richter codierten Antisemitismus teils nicht erkennen“, so Loy. „Das muss angegangen werden.“ Auch von Bildungseinrichtungen wie den Unis fordert Loy klare Ansagen und konkrete Schritte, wenn es dort zu Antisemitismus kommt. Zuletzt hatten pro-palästinensische De­mons­tran­t*in­nen an Berliner Unis immer wieder Hamas-Symbole an Wände geschmiert oder antisemitische Parolen gerufen, die etwa Israel das Existenzrecht absprechen.

Auch die Zahl der Vorfälle, bei denen sich Sexismus und Antisemitismus vermischten, stieg 2023 deutlich. Loy berichtet, wie eine Betroffene in Sachsen sexistisch und antisemitisch beleidigt wurde, bevor die Täter ihr offen mit Vergewaltigung drohten. „Vor dem Hintergrund der massiven sexualisierten Gewalt durch die Hamas am 7. Oktober hat das natürlich eine besonders bedrohliche Wirkung.“

Zu den offen antisemitischen Taten kommen laut Bericht zahlreiche Vorfälle, die nach den RIAS-Kriterien zwar nicht als eindeutiger Vorfall gewertet werden, für Ju­den*­Jü­din­nen aber erhebliche psychische Belastungen bedeuten. Hierbei geht es etwa um einseitige und verzerrende Darstellungen der Verbrechen vom 7. Oktober. Loy sagt dazu: „Viele Jüdinnen und Juden sind mit fehlender Solidarität und Empathie konfrontiert.“ Als Beispiel nennt sie zahlreiche Fälle, in denen Vermisstenplakate abgerissen wurden, die an das Schicksal der durch die Hamas entführten Zi­vi­lis­t*in­nen erinnern sollten.

Wie sich die Lage weiter entwickeln werde, sei derzeit schwer abzuschätzen, so Loy. „Es besteht aber die Gefahr, dass der grassierende Antisemitismus unwidersprochen bleibt, so normalisiert wird und die hohe Zahl der Vorfälle auf diesem Niveau bleibt.“

Die Psychologin und Geschäftsführerin der Beratungsstelle OFEK, Marina Chernivsky, sagte der taz: „Noch nie wurde die Existenz des Staates Israel und die jüdische Existenz nach der Shoah so geballt infrage gestellt wie jetzt.“ Der um sich greifende Antisemitismus erzeuge bei Juden*Jüd*innen ein „Gefühl der diffusen Schutzlosigkeit“ und ein „Klima der Angst und Verunsicherung“, so Chernivsky weiter. „Wir erleben eine Zeitenwende, die mit der Gewissheit eines Arrangements zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der nichtjüdischen Mehrheit bricht und die Fragilität dieser als doch vorhanden geglaubten Zuversicht aufzeigt.“

Auch andere Statistiken hatten zuletzt gezeigt, dass Antisemitismus in Deutschland nicht nur deutlich offener gezeigt wird, sondern auch immer öfter in direkte Übergriffe mündet. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hatte in zwei Lagebildern ebenfalls schon einen deutlichen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland diagnostiziert. Das Bundeskriminalamt (BKA) hatte allein in den ersten elf Tagen nach dem 7. Oktober über 500 antisemitische Straftaten registriert, in der Zeit bis Jahresende kamen etwa noch einmal so viele dazu.

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