Nahost-Konflikt in Deutschland: Ungesehenes Leid
Muslime in Deutschland erfahren seit dem 7. Oktober Ausgrenzung, sagte Sawsan Chebli in der taz. Dem antwortet der Psychologe Ahmad Mansour.
S awsan Chebli hat in einem Interview in der wochentaz vom 29. Juni erklärt, das Leid der Palästinenser in Gaza werde in Deutschland nicht gesehen. Als Deutsche und als Muslimin palästinensischer Herkunft klagt sie: „Von der deutschen Öffentlichkeit erfahren wir kaum Empathie und Solidarität, sondern Ausgrenzung, Misstrauen und immer öfter puren Hass.“
ist deutsch-israelischer Diplompsychologe und Autor aus Berlin. 2018 gründeten Mansour MIND prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention), die Workshops zur Extremismusprävention durchführt. Dabei arbeitet er mit Insassen von Justizvollzugsanstalten und mit Geflüchteten. Im Oktober 2020 erschien sein Buch „Solidarisch sein gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass“ in S. Fischer Verlag.
Als Deutscher und als Muslim palästinensischer Herkunft frage ich mich, wie die intelligente, junge SPD-Politikerin so sehr an den Fakten vorbeireden kann. Umfragen und Kundgebungen in Deutschland zeigen, dass es genau umgekehrt ist: Nicht Muslime, sondern Juden erleben einen enormen Zuwachs an Feindseligkeit. Antisemitismus nimmt seit dem Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023 dramatisch zu. Demonstrationen an Unis und anderen Orten fordern Solidarität mit der Bevölkerung von Gaza, bezichtigen Israel des „Genozids“ und der „Apartheid“.
Die Boykottbewegung BDS gegen Israel und Israelis, auch gegen Musiker und Künstler, hat enormen Zulauf. Symbole der Hamas sind als Graffiti beliebt. Es gibt einen erschreckenden Anstieg an antijüdischen und israelfeindlichen Aktivitäten bis hin zu strafbaren Handlungen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hat allein für 2023 achtzig Prozent mehr Vorfälle registriert als im Vorjahr.
Es ist verblüffend, wie Sawsan Chebli diese Tatsachen ignoriert, es entsteht der Eindruck, dass sie vor allem eine muslimische Opfererzählung bedient. Ohne Zweifel sind die Bilder vom Gazakrieg tragisch und schwer erträglich. Die verzweifelte Lage des Konflikts bewegt die Öffentlichkeit. Jeden Abend sind die Bilder in den Nachrichten zu sehen, jeden Tag sind Artikel darüber zu lesen. Es gab und gibt weitaus weniger Kundgebungen in Solidarität mit Israel als mit Palästinensern in Gaza und dennoch meint Sawsan Chebli: „Von der deutschen Öffentlichkeit erfahren wir kaum Empathie und Solidarität.“ Auch der Löwenanteil an medialer Kritik gilt Israel, der Regierung Netanjahu und der Kriegsführung in Gaza, wo Israel gerade seine Existenz verteidigt.
Aktivisten hierzulande spielen das Spiel der Hamas mit
Sawsan Chebli erwähnt mit keinem Wort, worum es seit dem 7. Oktober 2023 geht. Sie erwähnt nicht die 1.200 von der Hamas massakrierten Israelis, sie fordert nicht die Freilassung der Geiseln des Terrors. Es geht im Gazakrieg um einen der schwersten Kämpfe gegen den Terror, die je geführt wurden. Hamasführer machen keinen Hehl daraus, dass sie zivile Opfer wollen, um Hass auf Israel anzufachen – und viele Aktivisten, auch hierzulande, spielen dieses Spiel mit. All das scheint Sawsan Chebli nicht zu stören. Sie klagt über Deutschland: „Es fehlt an aufrichtigem Interesse, an Gesprächen auf Augenhöhe und auch an Achtung von religiöser Vielfalt jenseits von Sonntagsreden.“
Da würde ich sogar zustimmen. Allerdings in einem anderen Sinn. Es fehlt der Politik an aufrichtigem Interesse an Muslimen, es fehlt an klarem Hinsehen und Hinhören. Arabische Israelis wie ich, und Muslime nahezu überall, werden mit Hass auf Israel und Juden groß. Das Ressentiment ist Folklore, es liefert Sündenböcke, es lenkt ab von den Defiziten muslimisch geprägter Gesellschaften. Dass zugewanderte Muslime habituelle Judenfeindlichkeit im Gepäck haben, wurde in Deutschland, in Europa, lange ausgeblendet. Es fehlte in der Tat an aufrichtigem Interesse: am Schutz der jüdischen Bevölkerung, an der Aufklärung muslimischer Migranten.
Es war nicht klar, was nötig ist für die Integration von Menschen aus autoritären Regimen und mit traditionell patriarchalen, oft antisemitischen Vorstellungen. Die Emanzipation von Frauen und Mädchen schien zweitrangig, über muslimischen Antisemitismus zu sprechen galt als rassistisch oder islamophob. Probleme wurden im Namen von Toleranz ignoriert. Es war die falsche Toleranz – und eben diese scheint Sawsan Chebli noch mehr einzufordern. Das Feindbild „Israel und Juden“ ist die Währung der Hamas. Im Nahen Osten ist das maßgeblich daran beteiligt, Fortschritt zu verhindern.
Kritik an der Regierung Netanjahu ist richtig
Das hatten die arabischen Staaten erkannt, die mit Israel die Abraham-Abkommen verhandelt haben. Diese sind für Hamas und Hisbollah eine Bedrohung ihrer Vision von der Auslöschung des Staates Israel. Das Massaker vom 7. Oktober war auch ein Versuch, die Prozesse der arabisch-israelischen Verständigung zu sabotieren. Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die so argumentieren wie Sawsan Chebli, oder Aktivisten, die „Yallah Intifada“ rufen, sich diese Kontexte bewusstmachen.
Kritik an der Regierung Netanjahu ist nötig und richtig. Aber sogenannte „Israelkritik“ wird zu oft instrumentalisiert, um Judenhass zu verbreiten. Und jüdische Menschen werden derzeit eingeschüchtert und beschimpft wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Leider leben viele Muslime in einem emotionalen Klima, das für Juden keine Empathie kennt.
Das war schon lange vor dem aktuellen Krieg so. Doch jetzt zeigt sich wie nie zuvor, dass zu viele in den migrantischen Communitys nie im Wertekanon der demokratischen Gesellschaft angekommen sind. Viele möchten umgekehrt der Gesellschaft ihre verzerrte Sichtweise aufzwingen. Sie reden vom deutschen „Schuldkomplex“ gegenüber Juden, und es gibt muslimische Eltern, die an der Schule Toleranz für antisemitische Äußerungen ihrer Kinder verlangen.
Die Bundesregierung steht weiter zu Israel
Offene Briefe von Tausenden muslimischen und nichtmuslimischen Akademikern haben zum Israel-Boykott aufgefordert, einer neuen Form von „Kauft nicht bei Juden!“, wie es hier in der Nazizeit hieß. Die Bundesregierung steht weiter zu Israel, und der Verfassungsschutz beobachtet nun auch die Boykott-Kampagne gegen Israel. Das ist nicht „muslimfeindlich“, sondern Haltung und Handeln im Sinn der Demokratie.
Ich wünsche mir, dass Sawsan Chebli und andere, die so denken wie sie, die Tatsachen anerkennen, hier im Land und im Nahen Osten. Es wäre großartig, wenn sie mit für die Aufklärung streiten würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video