Antiziganistische Gewalt: „Wo bleibt der Aufschrei?“
In Koblenz wurden die Wahlplakate eines Sinto mit Gewaltfantasien beschmiert. In Flensburg zerstörten Unbekannte ein Mahnmal.
Alle Sinti und Roma sollten „ab in die Gaskammer“, hatte jemand neben Reinhardts Gesicht geschmiert, und dabei das rassistische Z-Wort benutzt. Direkt Bezug nimmt die Schmiererei auch auf Reinhardts Vater, den Musiker Django Heinrich Reinhardt.
Nur wenige Tage später wurden Plakate des Freie-Wähler-Spitzenkandidaten Stephan Wefelscheid ebenfalls beschmiert, nachdem dieser sich mit Reinhardt öffentlich solidarisiert und Strafanzeige gestellt hatte. Auch in diesem Fall wurden dem Porträtfoto die Augen herausgeschnitten und das Z-Wort als Beleidigung verwendet. Die Polizei ermittelt unter anderem wegen des Verdachts der Volksverhetzung.
Für Reinhardt stehen die Vorfälle ganz klar in Zusammenhang mit der, wie er es nennt, „aufgeheizten Stimmung“ in Deutschland, aber eben auch damit, dass er als Sinto in den Stadtrat will. „Ich bin recht bekannt in Koblenz. Aber weder auf meinen Werbeflächen noch auf den Boxplakaten gab es jemals ähnliche Vorfälle, nie einen Strich. Nur jetzt, wo es um Politik geht.“
Mahnmal in Flensburg geschändet
Überhaupt habe ihn überrascht, dass so etwas in Koblenz passiere: „Die Stadt ist in ganz Deutschland ein Vorbild für die Integration von Sinti und Roma, so etwas in dieser Form gab es hier noch nie“, sagt er. Ihn persönlich treffe der Angriff nicht. „Ich kann damit professionell umgehen“, sagt Reinhardt. „Aber für manche andere in der Stadt muss das schwierig sein. Es leben hier zum Beispiel auch noch einige KZ-Überlebende.“
Die rassistischen Parolen auf Reinhardts und Wefelscheids Wahlplakaten sind nur zwei von mehreren antiziganistischen Übergriffen innerhalb kurzer Zeit in Deutschland. In der Nacht zu Mittwoch war in Flensburg eine Metallstele aus dem Pflaster gerissen worden, die dort als Mahnmal an die von den Nationalsozialisten deportierten Sinti und Roma erinnert. Und Anfang Mai war zum wiederholten Mal in Neumünster Müll neben dem dortigen Mahnmal für ermordete Sinti und Roma abgeladen worden.
„In Anbetracht dieser Angriffe auf die Erinnerung und somit auf alle Sinti und Roma frage ich mich, wo der gesellschaftliche Aufschrei bleibt“, kritisierte der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, am Freitag. In diesem Jahr am 2. August jähre sich die Ermordung der letzten Sinti und Roma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zum 80. Mal. Der Bundestag habe im Dezember gefordert, den Jahrestag würdig zu begehen und die Erinnerung insgesamt zu stärken.
„Vor diesem Hintergrund ist es besonders erschreckend, dass sich Angriffe auf das Gedenken an den Völkermord häufen“, so Daimagüler. „Wenn wir es mit den politischen Appellen für ein würdiges Gedenken ernst meinen und wenn wir wollen, dass Sinti und Roma sich in dieser Gesellschaft sicher fühlen, müssen wir klare Kante zeigen.“
Wählen gegen rechts
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sprach von einem „alarmierenden Zeichen des wachsenden Antiziganismus“ in Deutschland. „Diesen wieder aufkommenden Gewaltphantasien müssen alle Mittel der wehrhaften Demokratie und des Rechtsstaats entgegengesetzt werden“, erklärte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats.
Der Bericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) habe für das Jahr 2022 621 antiziganistische Vorfälle dokumentiert, darunter auch Fälle extremer Gewalt. Der demnächst erscheinende Bericht für 2023 lasse angesichts des „erschreckenden Nationalismus“ eine Zunahme der Fälle befürchten, so Rose.
Politik und Justiz müssten endlich anerkennen, dass Antiziganismus genauso eine Gefahr für die innere Sicherheit sei wie Antisemitismus. „Auch die Bevölkerung ist aufgerufen, gegen diese rechtsextremistischen Tendenzen ein Zeichen an der Wahlurne zu setzen“, so Rose.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video