Geflüchtete als Waffe: Strategie der hybriden Kriegsführung

Die Erzählung irregulärer Migration als Gefahr hält sich seit Langem. Die EU-Staaten setzen auf Abwehr und spielen damit Diktatoren in die Hände.

Eine Gruppe von Migrantinnen steht am Mittwoch, den 29. Mai 2024, im Wald von Bialowieza in Ostpolen hinter einer Metallbarriere und versucht, nach Polen zu gelangen.

Wollen nach Polen: eine Gruppe von Migrantinnen Foto: Czarek Sokolowski/ap

BERLIN taz | Es war der erste Nato-Gipfel, kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, im Juni 2022. Gastgeberland war Spanien, das Militärbündnis versuchte sich auf die neue Situation einzustellen. Und in Madrid hatte man eigene Vorstellungen darüber, auf welche Gefahr die Nato sich vorbereiten sollte: Kurz vor dem Gipfel forderte Außenminister José Manuel Albares, „ungeregelte Migration“ als „hybride Bedrohung“ in den Strategieplan des Bündnisses aufzunehmen. Diese sei eine der Gefahren, die „unsere Souveränität bedrohen“, so Albares.

Sie müsste in der künftigen „Roadmap“ der Allianz aufgeführt und es müsse festgehalten werden, dass es „auch an der südlichen Flanke des Bündnisses ernsthafte Bedrohungen“ gebe. Bei der Roadmap handelte es sich um das „strategische Konzept“ für das nächste Jahrzehnt. Albares sagte, im Süden gerieten Länder im Maghreb und in der Sahelzone unter verstärkten russischen Einfluss.

Spaniens Vorstoß hatte Erfolg: Am 29. Juni präsentierte die Nato das neue „Strategische Konzept“. Darin heißt es unter Punkt 7 zu „Autoritären Akteuren“, diese nähmen die „Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger mit hybriden Taktiken ins Visier“. Eine dieser Taktiken: Sie „instrumentalisieren die Migration“. Es lag auf der Hand, welches Szenario die Militärstrategen umtrieb. Eine ganze Reihe von Sahelstaaten wandte sich in der jüngeren Vergangenheit vom Westen ab und Russland zu.

Die Region ist ohnehin eines der Hauptherkunftsgebiete der Flüchtlinge und Mi­grant:in­nen auf dem Weg nach Europa. Dass Russland dort seinen Einfluss nutzt, um die Zahl der aufbrechenden Menschen in die Höhe zu treiben, ist keine abwegige Vorstellung.

Warschau spricht von hybrider Gefahr, die EU zieht nach

Unter hybrider Bedrohung versteht man irreguläre feindliche Akte zwischen Staaten unterhalb des Einsatzes von Waffengewalt, etwa Cyberangriffe oder eben auch den Versuch, größere Migrationsbewegungen in Gang zu setzen. Es war im Herbst 2021, als dies zum ersten Mal offen gesagt wurde. Auslöser war die Ankunft von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, denen Belarus demonstrativ freies Geleit Richtung Polen gewährt hatte, offenkundig, um sich an der EU für Sanktionen zu rächen, die diese wegen der unfreien Wahl gegen Minsk beschlossen hatte.

Zuerst sprach die Regierung in Warschau von einer hybriden Bedrohung, der Rest der EU folgte prompt. Für die EU sei es eine „Form der hybriden Bedrohung“, wenn „man Migranten als politische Waffe einsetzt“, meinte der damalige deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU). Die Nato befand, dass das „Lukaschenko-Regime Flüchtlinge als hybride Taktik einsetzt“. Und auch EU-Kommissionssprecher Peter Stano sprach von einer „hybriden Bedrohung“ aus Minsk.

Die semantische Aufrüstung hat Folgen: Wenn Flüchtlinge zu einer Art soften Waffe umgedeutet werden, liegt die Selbstermächtigung zur Verteidigung nahe. Polen hatte genau das im Sinn, setzte es doch in den folgenden Wochen offensiv auf die nach EU-Recht verbotenen Pushbacks. Wer angegriffen werde, habe freie Hand, sich zu wehren – das ist die implizite Annahme.

Belarus war nicht der einzige Fall. 2020 stellte die Türkei die Bewachung der Grenze zu Griechenland ein und ermunterte Zehntausende Menschen, sie zu überqueren. Der türkische Staatschef Erdoğan wollte mehr Geld für die Verlängerung des EU-Flüchtlings­deals. 2021 tat Marokko dasselbe mit der Grenze zu Melilla und zwang so Spanien, Marokkos Anspruch auf die besetzte Westsahara anzuerkennen. Von der „weaponisation“ von Flüchtlingen ist in einer Vielzahl sicherheitspolitischer Veröffentlichungen der letzten Jahre die Rede.

Im ­Journal of ­National Security Law beschrieb ­Aaron Petty 2022 dies als „absichtsvolles Instrument der Aggression zwischen Nationalstaaten“. Das MIT-Center for International Studies hält die Belaruskrise für den „Beginn einer gefährlichen neuen Ära internationaler Machtpolitik“. Die Flüchtlingszahlen steigen seit Jahren, die Klimakrise dürfte sie weiter in die Höhe treiben. Schon mehrfach hat die EU der Welt demonstriert, wie tiefgreifend sie die Ankunft einer größeren Zahl von Menschen zu destabilisieren vermag.

Militarisierung des Grenzschutzes

Das 2023 beschlossene neue EU-Asylsystem enthält nun einen Mechanismus, der es Staaten erlaubt, im Fall von „Instrumentalisierung“ Geflüchteter durch feindliche Nachbarstaaten oder sogar NGOs das Asylrecht noch weiter einzuschränken. Unter anderem sollen dann alle Ankommenden für Schnellverfahren interniert werden können. Längst hat die Rüstungsindustrie erkannt, welche sicherheits­politische Bedeutung Flüchtlingsankünfte haben können, und setzt gezielt auf die Militarisierung des Grenzschutzes als wachsendes Geschäftsfeld. Erst im April präsentierte die Europäische Investitionsbank einen milliardenschweren Aktionsplan im Rahmen der Strategischen Europäischen Sicherheitsinitiative (Sesi).

Förderfähig sind unter anderem Grenzschutzprojekte. Franck Düvell, Wissenschaftler am Osnabrücker IMIS-Institut, sieht die „In­strumentalisierung“ eher aufseiten der EU selbst. Die Wahrnehmung, dass irreguläre Migration eine Gefahr darstelle, sei ein Trend, den „wir seit langer Zeit beobachten“, sagt er, dieser sei „nicht mit irgendwelchen aktuellen Entwicklungen verbunden“ – auch nicht mit der Situation Ende 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze. Die Zahlen dort – Schätzungen lagen bei etwa 30.000 Personen – nennt Düvell „eine vollkommen unbedeutende Größenordnung“. Panik sei „auf der polnischen Seite ausgelöst worden mit einer extremen Xenophobie“.

Dass die EU-Kommission die „In­stru­mentalisierung“ in den neuen EU-Asylpakt eingebaut habe, sei sicher auch dadurch zu erklären, dass sie damit um die Zustimmung der osteuropäischen Staaten werben wollte. „Es war eine diplomatische Anstrengung, um Einheitlichkeit in der Migrationspolitik zu erhalten“, sagt Düvell. „Aber vielleicht war es auch ein Signal in Richtung Türkei.“ Immerhin gebe es schon seit den Zeiten des libyschen Diktators Gaddafi Erfahrungen mit Erpressungsversuchen. „Die EU spielt anderen Mächten in die Hände, indem sie demonstriert, dass das ihre schwache Flanke ist.“

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