Vor der EU-Wahl: Wie der Rechtsruck näher rückt

Ratlos blicken Sozialdemokraten, Grüne und Liberale Richtung rechts, wo sich die Radikalen neu sortieren. Sie könnten mehr Sitze erobern als die EVP.

Eine Frau, die Hände vor dem Mund und die Augen geschlossen

Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni bei einer Wahlkampfveranstaltung am 1. Juni in Rom Foto: Guglielmo Mangiapane/reuters

BRÜSSEL taz | Der befürchtete Rechtsruck bei der Wahl zum EU-Parlament nimmt Gestalt an. Nach den letzten Umfragen und Prognosen könnten rechte und rechtsradikale Parteien nach der Wahl am 9. Juni mehr Parlamentssitze erringen als die bisher führende konservative Europäische Volkspartei (EVP). Dies hätte weitreichende Folgen – von der Bildung der nächsten EU-Kommission bis hin zur Klimapolitik.

Zunächst die Zahlen: Laut dem auf Europapolitik spezialisierten Portal politico.eu könnte die EVP mit ihrer deutschen Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen (CDU) 172 Parlamentssitze erringen – rund 30 mehr als die Sozialdemokraten mit ihrem Luxemburger Frontrunner Nicolas Schmit. Das rechte Lager käme auf bis zu 184 Sitze. Es könnte somit sogar stärker werden als die EVP.

Nach den Zahlen von Euronews stehen die Konservativen besser da. Dort kommt die EVP auf 181 Sitze, S&D (Sozialdemokraten) auf 135 – und die Rechten auf 225, wobei die AfD und allerlei Splittergruppen mitgezählt werden. Für eine Mehrheit im Parlament (720 Sitze) sind 361 Stimmen nötig. Selbst wenn die EVP eine große Koalition mit den Sozialdemokraten bildet, reicht es nicht. Es sind weitere Partner nötig.

Hier kommen Liberale und Grüne ins Spiel – aber auch die rechten und rechtsradikalen Parteien. Sie könnten Zünglein an der Waage sein. Wenn keine neue Mitte-links-Koalition zustande kommt (wie bisher), könnten sie eine „alternative“, rechtslastige Mehrheit konstituieren. Denkbar wären auch wechselnde Mehrheiten oder ein Patt – wenn sich die „proeuropäischen“ Parteien zerstreiten.

Konservativer Flirt

Von der Leyen hat im Wahlkampf erklärt, dass sie eine Zusammenarbeit mit einzelnen Rechten nicht ausschließt. Sie umwirbt vor allem die rechtskonservative ECR („European Conservatives and Reformists“), in der Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni den Ton angibt. Meloni sei proeuropäisch, für die Ukraine und für den Rechtsstaat – behauptet von der Leyen.

Wird Meloni nach der Wahl zur „Königsmacherin“, ohne die nichts mehr geht? Der konservative Flirt mit der Rechten legt das nahe. Doch in der EVP weist man diese These zurück. Die zentrale Figur sei und bleibe von der Leyen. Sie habe alle Chancen, die Wahl zu gewinnen, heißt es in der Brüsseler Parteizentrale. Danach liege es an Sozialdemokraten und Liberalen, die Kandidatin der Konservativen zu unterstützen und den Einfluss der Rechten zu begrenzen.

Doch so einfach ist es nicht. Von der Leyen selbst habe die demokratische „Brandmauer“ eingerissen und Meloni umworben, kritisieren Schmit und die grüne Spitzenkandidatin Terry Reintke die Kommissionschefin. Wenn sich die EVP-Frau mit Hilfe des rechten Lagers wählen lasse, könne sie nicht auf die Stimmen der Sozialdemokraten und Grünen rechnen. Auch viele Liberale denken so, Linke sowieso.

Unüberhörbare Warnung

Das rot-grüne Lager geht auf Distanz, die Warnung ist unüberhörbar. Doch nicht nur Melonis dunkler Schatten schwebt über dieser Europawahl. Auch die Führerin des Rassemblement National in Frankreich, Marine Le Pen, möchte ein Wörtchen mitreden. Sie hat Meloni und der ECR vorgeschlagen, mit der rechtsextremen ID (Identity and Democracy) eine gemeinsame Fraktion zu bilden.

„Jetzt ist der Moment, um sich zu vereinen“, warb Le Pen in einem Interview. Auch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán träumt von einem Rechtsbündnis. Nach der Wahl würde er gern zur ECR stoßen. Die AfD wiederum könnte sich mit der rechtsextremen bulgarischen Partei Wiedergeburt einlassen und so ihre Isolierung überwinden, in die sie durch den Ausschluss aus der ID gestürzt worden ist.

Die Rechte formiert sich neu, nach der Wahl könnte sie in Brüssel zu einem unverzichtbaren Machtfaktor werden. Der liberale britische Economist sieht von der Leyen, Meloni und Le Pen schon beinahe vereint – diese drei Frauen würden Europa ihren Stempel aufdrücken. Allerdings spricht wenig dafür, dass Meloni und Le Pen tatsächlich zueinanderfinden und eine Superrechts-Fraktion bilden.

Viel wahrscheinlicher ist, dass Meloni versucht, mit von der Leyen anzubändeln und neue Deals einzufädeln. Nach der Migrationspolitik, wo sie bereits gemeinsam Abkommen mit Tunesien und Ägypten geschlossen haben, könnte es nach der Wahl zu Absprachen in der Klimapolitik kommen.

„Das wäre das Ende des Green Deal“, warnen die Grünen. Vor fünf Jahren haben sie sich mit von der Leyen in der Klimapolitik verbündet. Nun könnte der Vormarsch von Meloni und Le Pen die grünen Erfolge zunichte machen – und die EU weit nach rechts rücken.

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