piwik no script img

Reaktionen auf IGH-Entscheid zu GazaRafah-Offensive und Grammatikstreit

Israel dringt weiter in Rafah vor. Unklar bleibt, ob der Internationale Gerichtshof einen Stopp der gesamten Rafah-Offensive gefordert hat.

Protest am Freitag vor dem IGH in Den Haag Foto: Johanna Geron/reuters

Jerusalem taz | Nach einem Zwischenurteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Freitag geht die Bodenoffensive des israelischen Militärs in der Stadt Rafah im Süden Gazas weiter. Nachdem in den vergangenen Wochen fast eine Million Palästinenserinnen und Palästinenser aus Rafah flohen, sind die Truppen nun weit in das Gebiet vorgedrungen, bis ins Zentrum der Stadt und das gleichnamige Flüchtlingslager. Nach Angaben des Militärs wurden dort zahlreiche Tunnel und Schächte freigelegt sowie Waffen gefunden.

Auch im strategisch wichtigen Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten ist das Militär weiter vorgerückt. Nach Angaben des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Kan 11 News wurden dort Dutzende Tunnel entdeckt, die Ägypten und den Gazastreifen verbinden. Sie sollen von der Hamas zum Schmuggel von Waffen, Munition und Personen genutzt worden sein.

Dass Israel in Rafah weiter militärisch vorgeht, liegt auch am IGH selbst – und dem schwammigen Urteilstext, den sein Präsident Nawaf Salam am Freitag verlas. Die Entscheidung des IGH hatten viele Medien zunächst so interpretiert, dass Israel seine Militäroffensive in Rafah unmittelbar stoppen müsse. Doch der Text ist weniger eindeutig: Israel müsse „die Militäroffensive und jede andere Aktion im Gouvernement Rafah sofort einstellen, die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnte(n), die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten“.

Von den 15 Richtern stimmten 13 für die Anweisung an Israel. Dabei scheinen selbst die Richter sich nicht einig zu sein, was diese denn bedeutet. Der rumänische Richter Bogdan Aurescu schreibt in seiner Erklärung: Es sei unklar, ob sich der Halbsatz, „die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnte(n), die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten“, auf die Militäroffensive oder „jede andere Aktion“ beziehe.

Auch die Erklärung des deutschen Richters Gerhard Nolte weist auf diese Problematik hin. Er interpretiert den Text so: Die Anweisung des IGH beziehe sich nur auf Aktionen, die eine solche Situation herbeiführen könnten.

Israel selbst übernimmt das Wording des IGH. Das Außenministerium und der Nationale Sicherheitsrat erklärten in einem gemeinsamen Statement: Israel habe keine militärischen Aktivitäten in der Region Rafah durchgeführt und werde dies auch nicht tun, „die Lebensbedingungen schaffen, die die physische Zerstörung der palästinensischen Zivilbevölkerung im Ganzen oder in Teilen zur Folge haben könnten.“

Südafrika stellt Eilantrag nach Eilantrag

Dass der IGH sich überhaupt mit der Militäroffensive Israels im Gazastreifen befasst, liegt an Südafrika, das Israel im Dezember vor dem IGH Völkermord vorwarf. Ein abschließendes Urteil wird erst in mehreren Jahren erwartet.

Südafrika stellt derweil immer wieder Eilanträge. Einem ersten solchen Antrag folgte Ende Januar eine Anweisung an Israel: Es müsse alles in seiner Macht Stehende tun, um Handlungen, die mit einem möglichen Völkermord in Gaza in Verbindung stehen könnten, zu verhindern. Ein Ende der Kampfhandlungen lehnten die Richter damals ab. Im März folgte eine erneute Anweisung, die vor allem Israels Kooperation zur Bereitstellung humanitärer Hilfe anmahnte.

Die Lage der Menschen im Gazastreifen ist seit Beginn des Kriegs gegen die Hamas – nach deren Attacke auf Israel am 7. Oktober – anhaltend Anlass zur Sorge. Um mehr humanitäre Hilfe leisten zu können, hatten die USA Mitte Mai einen vor der Küste Gazas liegenden, temporären Pier fertiggestellt. Nach heftigem Wellengang wurden Teile des Piers nun aber zerstört und teilweise in Israel angeschwemmt, gemeinsam mit zwei Schiffen, die ihn befestigen sollten. Nach US-Angaben ist der Pier aber weiter funk­tions­tüchtig.

Derweil werden über den Grenzübergang Kerem Schalom wieder mehr Hilfslieferungen abgewickelt. Ägypten hatte seine Lieferung eingestellt, nachdem Israel den Grenzübergang Rafah, der das Land mit Gaza verbindet, erobert hatte. Nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden am Freitag werden die in Ägypten auf Weiterverteilung wartenden Güter nun über den Grenzübergang Kerem Schalom zwischen Israel und Gaza abgewickelt. Nach Angaben verschiedener Medien sind Teile der Hilfsgüter bereits verdorben, wurden entsorgt oder in Ägypten verkauft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

23 Kommentare

 / 
  • Käptn Blaubär , Moderator*in

    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen.

  • Was unstrittig ist: der Gerichtshof fordert die sofortige, bedingungslose Befreiung der Geiseln.

    > The Court finds it deeply troubling that many of these hostages remain in captivity and reiterates its



    call for their immediate and unconditional release.



    www.icj-cij.org/si...4-ord-01-00-en.pdf

    • @Arne Babenhauserheide:

      Wenn das geschehen würde, wäre der Weg zu einer längerfristigen Waffenruhe und einem Ende der Rafah-Offensive höchstwahrscheinlich auch in Israel frei. Israel kann diesen Krieg nicht beenden ohne nicht mindestens eins seiner Kriegsziele erreicht zu haben.

      Leider wird nur einseitig und parteiisch Druck ausgeübt.

  • Man muss das Dokument lesen und nicht nur an der Grammatik des einen Satzes herumrätseln, denn der Internationale Gerichtshof hat festgestellt, dass sich die Situation so zum Schlechten verändert hat und daher die Bedingungen gegeben sind vorläufige Maßnahmen anzuordnen, nämlich die Rafah-Offensive einzustellen. Da ist der Unterschied zur vorherigen Entscheidung am 28. März. „Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Umstände der Rechtssache es erfordern, seine Entscheidung in dem Beschluss vom 28. März 2024 zu ändern. (The Court concludes, on the basis of the above considerations, that the circumstances of the case require it to modify its decision set out in its Order of 28 March 2024.)



    www.icj-cij.org/si...4-sum-01-00-en.pdf

  • Das ist schon eindeutig zu verstehen da gibt es nichts falsch zu verstehen:



    Sofortige Einstellung der Militäroffensive UND aller anderen Maßnahmen im Rafah



    Gouvernement, die der palästinensischen Gruppe in Gaza Lebensbedingungen auferlegen könnten, die



    ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten...



    www.icj-cij.org/si...4-pre-01-00-en.pdf

    • @Martha:

      Folgendes Problem:

      Was ist mit einer Militäroffensive und anderen Maßnahmen im Rafah Gouvernement, die nach Ansicht der Israelis NICHT der palästinensischen Gruppe in Gaza Lebensbedingungen auferlegen, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten?

      Darf die IDF die noch fortführen (und muss sich dann allenfalls im Nachhinein verantworten, wenn sie in der Einschätzung falsch lag) - ja oder nein? An der Stelle ist das Urteil missverständlich, weil die verwendete Sprachkonstruktion ("which...") sowohl als einschränkende Qualifikation des Einstellungesbefehls alsauch als eine den (dann uneingeschränkten) Befehl nur begründende Beschreibung des verbotenten Verhaltens dienen könnte. Beides lässt sich rauslesen, vor allem wenn man weiß, welche klarstellenden Formulierungen das Rechtsenglisch an der Stelle eigentlich bereithält, die hier aber fehlen.

  • Wer die Absurdität der Situation, mit der Israel sich konfrontiert sieht, begreifen möchte, muß nur einen Blick in die Zeitungen der letzten Woche werfen:



    ZEIT, 24. Mai 2024:



    "INTERNATIONALER GERICHTSHOF FORDERT STOPP ISRAELISCHER OFFENSIVE



    Der IGH erhöht den Druck auf Israel: Das Militär soll sich aus Rafah zurückziehen. Weiterer Schaden müsse von der Zivilbevölkerung abgewandt werden."



    ZEIT, 26. Mai 2024:



    "ERSTMALS SEIT MONATEN RAKETENALARM IN TEL AVIV



    In Tel Aviv berichten Einwohner von Explosionen, die Hamas reklamiert die Angriffe für sich. Die Zahl der Getöteten in Gaza soll bei fast 36.000 liegen."

  • Die zentrale Formulierung des Richterspruchs im Original:



    "Israel must immediately halt its military offensive, and any other action in the Rafah Governorate, which may inflict on the Palestinian group in Gaza conditions of life that could bring about its physical destruction in whole or in part."

    Von mir als brauchbar betrachtete Übersetzung:



    "Israel muss seine Militäroffensive und alle anderen Aktionen im Gouvernement Rafah, die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten, unverzüglich einstellen."

    Daraus geht eindeutig (und grammatikalisch nicht umdeutbar) hervor, dass Israel bezüglich seiner (Verteidigungs-)Aktivitäten zu einem bestimmten (Nicht-)Verhalten verpflichtet wird, aber nicht dazu, diese Aktivitäten einzustellen. Und das ist GUT so.

    Ganz aktuell (und nach diesem Richterspruch) haben die Hamas-Terroristen aus Rafah wieder Raketen in Richtung Israel abgeschossen. Dass Israel weiterhin dagegen vorgeht, ist absolut nachvollziehbar.

    • @Al Dente:

      "Dass Israel weiterhin dagegen vorgeht, ist absolut nachvollziehbar."

      Sehe ich genauso.

      Aber so eindeutig ist der Richterspruch deshalb auch im englischen Original immer noch nicht. Die Relativkonstruktion KANN man als Einschränkung des Angriffsverbots verstehen, weil keine Kausalkonstrution verwendet wurde (wie z. B. "Israel must immediately halt its..., AS it may inflict...") - kann, muss aber nicht. Man kann sie genauso als beschreibend verstehen. In dem Fall wäre der Tenor "Israel must halt..." unbedingt zu verstehen. Umgekehrt hätte eine eindeutige Bedingtheit erfordert, in dem Satz statt (oder vor) dem bestimmten "its" eine öffnende Formulierung wie "any" (bzw. "any of its...") zu setzen. Auch das ist unterblieben.

      Das ist schon SEHR unbestimmt...

  • Nun, spätestens nach dem erneuten Raketenangriff aus Rafah, ist das Urteil Makulatur und die Richter wurden der Lächerlichkeit preisgegeben.

    • @BrendanB:

      Sie meinen weil die Hamas Raketen auf Zivilisten schießt, darf Israel weiterhin Zivilisten bombardieren? Beides ist ein Verbrechen.

      • @Moritz Pierwoss:

        So einfach ist das nicht über einen Kamm zu scheren.

        Die Hamas-Angriffe sind unstreitig Verbrechen, weil sie absichtlich wahllos Zivilisten betreffen. Israel hat hingegen legitime militärische Ziele in Rafah - insbesondere die Leute, die die Raketen abfeuern. Das Vorgehen gegen diese ist trotz ziviler Opfer grundsätzlich rechtens. Ob Israel es übertreibt, richtet sich nach Abwägungen der Verhältnismäßigkeit. Und die sind in Häuserkampfszenarien ziemlich zuungunsten der Zivilisten vorgewichtet. Genau deshalb liegt es ja auch nahe, den strittigen Nebensatz in dem Beschluss des IGH als Einschränkung des Kampfverbots zu verstehen.

  • Der Urteilstext ist nicht schwammig, sondern juristisch.



    Leider scheinen weite Teile der Presse und des Politikbetriebes außer Stande zu sein, die Bedeutung korrekt zu erfassen und den Leuten zu vermitteln.

    Richter Nolte erläutert es ziemlich eindeutig (Absatz 25):

    www.icj-cij.org/si...4-ord-01-02-en.pdf

    Demnach ist die Militäroffensive in Rafah so weit zu begrenzen, dass der Zugang der pal. Bevölkerung zu Hilfsgütern nicht gefährdet wird. Für Militäroperationen die diesen nicht gefährden gilt dies nicht, und für Militäroperationen außerhalb Rafah überhaupt nicht.

    Wenn man bedenkt, das Südafrika (mit der Begründung einen Völkermord verhindern zu wollen) eigentlich den vollständigen Rückzug aus und die Beendigung aller militärischen Aktionen der isr. Streitkräfte in Gaza wünschte, dann wird klar, dass das Gericht diesem Antrag nur zu einem kleinen Bruchteil nachkam.

    Für mich ließt sich das so, dass der IGH bis dato keine Völkermordgefahr durch die bisherigen Militäroperationen an sich sah; z.Z. scheinen die Zerrüttungen bei den Hilfslieferungen den Richtern Sorge zu bereiten.

  • Die Anordnung eines kompletten Stopps der Militäroperation wäre ein Eingriff in die Souveränitätsrechte Israels der kaum vor Gericht bestehen dürfte. Es gilt als Rechtsgrundlage immer noch das Selbstverteidigungsrecht Israels. Nach dem der IGH Israel mehrfach erfolglos ermahnt hat, wurde jetzt via Urteilsspruch angeordnet das Israel bei seinen Militäroperationen die Verhältnismäßigkeit in den Fordergrund stellt. So gesehen hat der IGH Israel eine Brücke gebaut, dieses müsste auch der rumänische Richter erkennen können, dessen Aussage, zumal öffentlich getätigt mir völlig schleierhaft und zudem absolut unprofessionell ist.

    • 6G
      608196 (Profil gelöscht)
      @Sam Spade:

      Sie sind Volljurist mit Schwerpunkt Völkerrecht?

      • @608196 (Profil gelöscht):

        Sie etwa nicht?

        • 6G
          608196 (Profil gelöscht)
          @Normalo:

          Nope.



          Schwerpunkt Bürgerechte.

  • Warum stellt Ägypten die Hilfslieferungen ein? Haben die Menschen in Gaza auf einmal zu viele Lebensmittel zur Verfügung? Wenn nicht, dann frage ich mich welche Prinzipien für Ägypten wichtiger sind als die Hilfe an die Bevölkerung in Gaza?

    • @Gesunder Menschenverstand:

      "Ägypten hatte seine Lieferung eingestellt, nachdem Israel den Grenzübergang Rafah, der das Land mit Gaza verbindet, erobert hatte."



      Es gibt keine Landverbindung mehr, die nicht durch israelisch kontrolliertes Gebiet führt. Und aus Israel kommend gibt es einen anderen Grenzübergang, der nicht direkt am Kampfgebiet liegt.

    • @Gesunder Menschenverstand:

      "welche Prinzipien für Ägypten wichtiger sind als die Hilfe an die Bevölkerung in Gaza?"

      Ruhe im eigenen Land, kein unumkehrbarer Abbruch der Beziehung zu Israel, keine Palästinenser und Terroristen im eigenen Land.

    • @Gesunder Menschenverstand:

      Vielleicht verhindert Israel den Transport über den Grenzübergang? Möglicherweise hat es diesen komplett gesperrt. Anscheinend werden die Lieferungen jetzt ja über Kerem Shalom abgewickelt.

      • @Francesco:

        "Anscheinend werden die Lieferungen jetzt ja über Kerem Shalom abgewickelt."

        Und der Übergang wird von der Hamas mit Raketen angegriffen ...

        • @Gesunder Menschenverstand:

          Das steht wo?