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Identitätspolitik beim BuchpreisKann Spuren von Urteil enthalten

Ronya Othman und Juliane Liebert werfen einer Buchpreis-Jury vor, nach Herkunft des Autors geurteilt zu haben. Und machen dabei selbst einen Fehler.

Dem Unheil auf der Spur Foto: Simone Voigt/imago

A ls Journalistin muss ich ziemlich viel Finger still halten. Was von dem, was ich weiß, mache ich öffentlich? Was löse ich aus? Wer geht als Ver­lie­re­r*in vom Platz?

Seit einiger Zeit aber geht es in unserer Branche zu wie im Boulevard: als Whistleblowing um der höheren Werte willen, wird aus privaten Nachrichten oder halbprivaten Unterhaltungen ungefragt zitiert. Aus dem Geheimnisverrat von Insidern staatlicher Apparate ist das Verpfeifen von Kol­le­g*in­nen geworden. Das Private ist politisch. Recherche ist boomer.

Es ist die #metooisierung der politischen Debatte, die auf Reaktion in sozialen Medien zielt: „Kenn ich“, „Genau so!“, „Kotzsmiley“, „Hab es echt satt“, „Galgenemoji“.

Die Au­to­r*in­nen Ronya Othman und Juliane Liebert haben das nun leider auch getan. Sie werfen der Jury des HKW (Haus der Kulturen der Welt) und deren Leitung vor, in der Auswahl für den Internationalen Literaturpreis 2023 keine literarischen Kriterien, sondern politische angewendet zu haben, konkret: Herkunft und Hautfarbe.

#metooisierung der politischen Debatte

Was ein überfälliger Beitrag über die Rolle identitätspolitischer Kriterien im literarischen Jurybetrieb hätte werden können, ist leider verunglückt. Um den Befund zu beweisen, zitieren sie unnötigerweise Aussagen von Kol­le­g*in­nen der Jury, die nicht öffentlich arbeitet. Jurymitglieder werden anonym zitiert. Die Zitierten wurden nach eigenen Angaben vorher nicht mal informiert. Das ist seitens der Au­to­r*in­nen unkollegial und journalistisch unanständig.

Vorausgesetzt ihre Darstellung stimmt, hätten die beiden Au­to­r*in­nen natürlich trotzdem sehr recht mit ihrer Empörung. Belege für ihre Behauptung, ihre Erfahrung sei kein Einzelfall, bringen sie allerdings nicht. Glaubhaft ist es natürlich, denn allzu oft wird heute Kunst, auch Literatur, so behandelt wie eine Tomate: Bevor wir sie kaufen, schauen wir uns die Deklaration ihrer Herkunftsregion an und kontrollieren, ob sie garantiert pestizid- und glutenfrei ist. Auf den Klappentexten der Romane wird das Deklarationsetikett mit Herkunftsland geklebt und mit dem Verweis auf „postmigrantisch“ politisch korrekte Literatur garantiert.

Identität ist zur Leitwährung für kulturelles Kapital geworden. Mir aber drängt sich eine andere Frage auf: Jenseits der Kritik an identitätspolitischen Kriterien – wie können die beiden Au­to­r*in­nen von sich behaupten, dass sie als Einzige in der Jury mit rein literarischen Kriterien aus rein literarischen Motiven heraus die Texte bewertet haben?

Niemand ist frei von Urteilen

Ich bin selbst Mitglied einer Jury, die den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verleiht. Ich stolpere in dieser Funktion eigentlich permanent über meine eigenen Füße, ertappe mich dabei, mit Vorurteilen an die Bücher heranzugehen, frage mich, wie ich das abstellen kann, wie ich unter Kol­le­g*in­nen dastehe, wenn ich für diesen oder jene Au­to­r*in abstimme. Frage mich, ob ich das Buch nur deswegen so scheiße finde, weil mich das Social-Media-Verhalten des Autoren gruselt oder weil er mal einen Meinungsbeitrag veröffentlicht hat, den ich politisch unterirdisch fand.

Und selbstverständlich laufen die Diskussionen auch in unserer Jury irgendwann immer genauso unpolitisch wie die über den ESC-Entscheid. Sind Jurys, die „objektiv“ über Kulturbeiträge zu richten haben, angemessen? Niemand ist frei von Vorurteilen, eigenem Geschmack und völlig unabhängig in seinem Urteil. Ich jedenfalls kann mir das Etikett „garantiert gluten-, äh, vorurteilsfreie Richterin für die Kunst“ nicht ankleben.

Auf den Etiketten von Tomaten fehlt eine Angabe: Ob die Arbeitsbedingungen für die Menschen, die sie gepflanzt, geerntet und verpackt haben, den Regeln von Mindestlohn, Arbeitszeit und Würde entsprachen. Auf den Deklarationsetiketten der Jurys fehlt der Hinweis: Kann Spuren von subjektivem Urteil enthalten.

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Doris Akrap
Redakteurin
Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.
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7 Kommentare

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  • Ich meine den fraglichen Artikel der beiden Autorinnen/Jurorinnen bei Zeit online einigermaßen aufmerksam gelesen zu haben. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie betont haben, andere Juror*innen hätten offen zugegeben, ihre Beurteilungen entgegen ihrer Auffassung von der Qualität der eingereichten Werke letztendlich nach identitätsplitischen Erwägungen abgegeben zu haben. Bin vielleicht zu naiv, doch es kam mir glaubhaft vor. Und wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was die beiden über die Vorgänge in der Jury berichten, finde ich es als literarischer Endverbraucher es ganz gut, davon zu erfahren, auch wenn es mich nicht wundert, wenn die beiden nun in der Szene als Netzbeschmutzerinnen dargestelt werden.

  • "Frage mich, ob ich das Buch nur deswegen so scheiße finde, weil mich das Social-Media-Verhalten des Autoren gruselt oder weil er mal einen Meinungsbeitrag veröffentlicht hat, den ich politisch unterirdisch fand."

    Warum ist so jemand Jury Mitglied, der nicht besser zwischen Werk und Person unterscheiden kann?

  • "Mir aber drängt sich eine andere Frage auf: Jenseits der Kritik an identitätspolitischen Kriterien – wie können die beiden Au­to­r*in­nen von sich behaupten, dass sie als Einzige in der Jury mit rein literarischen Kriterien aus rein literarischen Motiven heraus die Texte bewertet haben?"

    Sorry, Frau Akrap, das behaupten Frau Liebert und Frau Othmann in ihrem Artikel nicht.

    Vielmehr schreiben sie:



    "Der Blick von Juroren ist nie frei von Vorlieben, Sympathien und, ja, auch von politischen Ansichten."

    Davon nehmen sich die Autorinnen selbst offensichtlich nicht aus.

    Sie kritisieren, dass diese Aspekte inoffiziell zu offen diskutierten Kriterien werden, obwohl nach außen hin anderes transportiert wurde.

    Der Kernvorwurf des Artikels von Frau Akrap trifft nicht zu.

  • Der Artikel von Doris Akrap überzeugt mich. Ich hörte im Zusammenhang mit dieser Affaire auf DLF Kultur die Position eines Experten, dass bei der Bewertung eines Textes idealer Weise nur der Text selber gelten sollte. Das halte ich für irrig. Zum Text gehört immer der Kon-Text, der Zusammenhang, in dem der Text entstanden ist, und der Zusammenhang, in dem ich selber stehe.

  • Liggers. Much all wesen! But

    Trösten wir uns damit; “Egal wie korrupt, gierig und herzlos unsere Regierung, unsere Unternehmen, unsere Medien und unsere religiösen und wohltätigen Institutionen werden, die Musik wird immer noch wunderbar sein.“



    ©️ Kurt Vonnegut

    „So it goes.“

  • Natürlich ist niemand jemals vollkommen objektiv und frei von Vorurteilen. Und man lässt eigene Vorlieben in Bewertungen einfließen.

    Aber es hat schon eine andere Qualität, wenn mögliche Preisträger und prämierte Bücher vorrangig aufgrund der (Geschlechts-)Identität oder Herkunft der Autoren in Erwägung gezogen oder abgelehnt werden.

    Überraschend sind solche Berichte nicht, aber sie tragen zumindest bei mir dazu bei, dass man solche Literaturpreise nicht mehr ernst nehmen kann. Ähnlich verhält es sich derzeit auch im Kunstbetrieb.

    • @gyakusou:

      Finde ich auch. Und am Ende machen solche Preisverleihungen den Preis wertlos, und die politische Bewertung führt zur Zerstörung ihres Mittels der Einflussnahme.