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Rekrutierung in der UkraineKyjiw macht mobil

Das ukrainische Parlament hat das lange erwartete Mobilmachungsgesetz verabschiedet. Es ist höchst umstritten und tritt am 1. Juni in Kraft.

Bei dem „Mobilisierungsgesetz“ geht es vor allem um eine komplette Erfassung der männlichen Bevölkerung Foto: Vesa Moilanen/imago

Mönchengladbach taz | Führerscheinentzug, Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren, Berufsverbot im öffentlichen Dienst und keine Ausstellung von Pässen und Ausweisen – all das erwartet diejenigen Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren, die sich nicht ordnungsgemäß der neuen kompletten Wehrerfassung der männlichen Bevölkerung des Landes unterwerfen. Dies sieht ein Gesetz vor, das am Donnerstag vom ukrainischen Parlament mit einer Mehrheit von 283 Abgeordneten in zweiter Lesung verabschiedet wurde.

Bei diesem sogenannten „Mobilisierungsgesetz“ geht es vor allem um eine komplette Erfassung der männlichen Bevölkerung mit dem Ziel, jederzeit eine verstärkte Mobilisierung zu ermöglichen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich junge Männer in Wohnungen niederließen, in denen sie sich wohnbehördlich nicht angemeldet hatten.

Nun gilt eine Aufforderung zur Musterung oder Einberufung auch dann als zugestellt, wenn die Post eine misslungene Zustellung meldet. Auch eine Verweigerung aus religiösen Gründen ist in dem neuen Gesetz nicht vorgesehen. Wer zehn Tage nach Aufforderung immer noch nicht bei der Wehrbehörde erschienen ist, muss damit rechnen, dass er von der Polizei abgeholt und dorthin gebracht wird. Diese darf Passanten nach einer Bescheinigung der Wehrbehörde fragen und bei einer fehlenden Bescheinigung die betreffende Person sofort zur Wehrbehörde bringen.

Befreiung vom Wehrdienst nur für engen Personenkreis

Eine Bestimmung zur Befristung von Wehr- und Kriegsdienst sucht man in diesem neuen Gesetz vergebens. Mobilisiert werden kann auch mobiles und immobiles Eigentum. Die Höhe der Entschädigung wird von den Behörden festgelegt. Befreit von der Mobilisierung, die Männer zwischen 25 und 60 betreffen kann, ist nur ein kleiner Personenkreis. Dazu gehören Väter von drei oder mehr Kindern, Alleinerziehende, Erziehungsberechtigte von minderjährigen Behinderten, Ehepartner von schwer Kranken und Kinder von pflegebedürftigen Eltern. Auch Abgeordnete und zwei ihrer Mitarbeiter können nicht mobilisiert werden.

Auch wenn dieses Gesetz offensichtlich seit längerem geplant ist, verlief die Arbeit daran weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Niemand der ukrainischen Führung wollte seinen Namen mit diesem unpopulären Gesetz in Verbindung gebracht sehen, berichtet der ukrainische Service von BBC. Umgegangen sei man mit diesem Gesetzentwurf wie mit einer „heißen Kartoffel“, so BBC. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Heftige Kritik von der Opposition

Und das sei nicht rechtens, klagt der oppositionelle Abgeordnete Oleksij Hontscharenko von der Partei Europäische Solidarität. So müsse das Dokument, das die neuen Formulierungen eines Gesetzes deutlich mache, laut Geschäftsordnung des Parlamentes zehn Tage vor der Abstimmung den Abgeordneten vorgelegt werden. Doch bei Gesetz № 10449 habe man den Abgeordneten nur zweieinhalb Stunden für das Lesen von 1600 Seiten gegeben, kritisiert Hontscharenko auf seinem Telegram-Kanal.

„Jetzt sagt man uns, es seien nicht genug Leute an der Front. Aber niemand kann zählen, kann uns sagen, wie viele genau fehlen. Sind es 100.000 oder eine halbe Million? Und woher sollen die 720 Milliarden Hrywnja für die Mobilisierung kommen, von der die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Frau Pidlasa, spricht?“, kritisiert Dmitro Rasumkow, von 2019 bis 2021 Parlamentssprecher, das neue Gesetz auf seiner Facebook-Seite. Und Andrij Ischtschenko, der mehrere Monate als Freiwilliger an der Front gekämpft hatte, sieht auf seiner Facebook-Seite in dem neuen Gesetz gar eine „Diktatur nach nordkoreanischem Vorbild“.

Obwohl sich Präsident Selenskyj gegen eine Mobilisierung von Frauen ausgesprochen hat, werden nun auch Stimmen laut, die genau dieses fordern. Zu den bekanntesten Befürworterinnen einer Einberufung von Frauen gehören die Abgeordnete Maryana Bezuhlya und Oksana Grigorjewa, Gender-Beauftragte beim Kommandeur der Landstreitkräfte. Dass Präsident Selenskyj das Gesetz unterschreiben wird, gilt als gesetzt. Und dann werden die Bestimmungen von Gesetz № 10449 im Juni rechtskräftig sein.

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6 Kommentare

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  • Feige Klugheit oder kluge Feigheit?

    Einer dpa-Meldung zufolge seien bei der Kiewer Staatsanwaltschaft seit Kriegsbeginn mit stark steigender Tendenz über 46 000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubtem Entfernen von der Truppe eingeleitet worden. Mehr als ein Viertel davon entfielen auf das erste Quartal 2024. (Quelle: Tagesspiegel)

    Dazu Charles Maurice de Talleyrand: „Deserteure müsste man gleichzeitig wegen Feigheit erschießen und wegen Klugheit auszeichnen.“

  • "„Jetzt sagt man uns, es seien nicht genug Leute an der Front. Aber niemand kann zählen, kann uns sagen, wie viele genau fehlen. Sind es 100.000 oder eine halbe Million? (...)“, kritisiert Dmitro Rasumkow, von 2019 bis 2021 Parlamentssprecher..."



    Ganz einfach: Das ist keine fixe Zahl, sondern ein wachsender Bedarf, solange Russland weitermacht. Das nennt man Krieg. Nicht mitbekommen?

    • @Encantado:

      Es geht ja auch vorallem um Rotation, die Truppen die die letzten 2 Jahre gekämpft haben durchzurotieren, neu zu trainieren und auszurüsten um sie dann 2025 für neue Offensiven zur Verfügung zu haben.

  • Das wurde auch Zeit!



    Natürlich ist der Schritt unpopulär, Krieg im eigenen Land ist es auch.



    Dass sich die Verantwortlichen aber monatelang um die notwendige Entscheidung gedrückt haben, darf als verantwortungslos betrachtet werden.



    Wer bei den UnterstützerInnen täglich neue Forderungen stellt, sollte auch selbst Alles tun, was nötig ist .



    Dieser Schritt kommt spät, hoffentlich nicht zu spät.



    Die Warnungen aus der eigenen Armee wurden lange in den Wind geschlagen.



    Die Verabschiedung des Gesetzes bedeutet ja auch nicht, dass die ukrainische Armee zeitnah Unterstützung erhält.



    Es wird wohl noch dauern, bis Wehrpflichtige ausgebildet sind und dann sinnvoll eingesetzt werden können. Kanonenfutter kann auch nicht der Lösungsansatz sein.

    • @Philippo1000:

      Ich möchte zustimmen, allerdings auch eines anmerken:

      " Dass sich die Verantwortlichen aber monatelang um die notwendige Entscheidung gedrückt haben, darf als verantwortungslos betrachtet werden."



      Das ist eine der Situationen, wo die Entscheidung nicht leicht sein _darf_. Auch wenn es rein rational betrachtet sehr klar ist.

  • Merkwürdig dass die bei der Kritik grad aussparen, was nach sehr verbreiteter Auffassung Hauptknackpunkt ist. Zu wenig zu spät, aber vor allem Letzteres. Viel zu spät. Dieses Gesetz bzw. Entwürfe hingen ja seit einer Ewigkeit in der Schwebe. Und dass es so kam, was dafür ursächlich ist und verständlicherweise, entkräftet für sich genommen einige der Vorwürfe. Hier hatte man einfach keine gute Option und hat sich zu einer der schlechten dann auch noch zu spät durchgerungen. Ein vollständiges Desaster, aber ich empfehle grösste Vorsicht bei jedwedem Drang zum Unken aus dem Ausland, das wird nur zynisch und hohl ohne dass gangbare Alternativen folgen, nein besser vorauseilen, das wird sonst auch nicht mehr besser. Es gäbe im Prinzip auch nur eine, aber alle die darauf Urheberrecht haben, kenn ich bald beim Namen. Und ausserdem ist jeder gute, verantwortbare Zeitpunkt dafür erst recht durch. So kann man wenigstens festhalten, dass die Rekrutierung zukünftig jedenfalls nicht ungerechter würde, vorausgesetzt dass es auch streng umgesetzt wird, was man bezweifeln muss. Denn bisher ist das wie jeder Krieg in der Hauptsache natürlich'n Verheizen der untersten, lobby- und hilflosesten Klassen, d.h. den Männern darunter. Darum kann ich Forderungen nach Berücksichtigung der Frauen auch absolut nachvollziehen. Aber das ist alles Kosmetik, es ändert überhaupt nichts daran, dass hier nur mehr versucht werden kann, Löcher zu stopfen bei einem Fass, dem der ganze Boden fehlt. Ohne dass die NATO dort - wenigstens in und über die Luft -interveniert, unterstützt, schirmt, entlastet, für mich absolut pervers.