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Verschärfte Mobilmachung in der UkraineZunehmend kriegsmüde

Kommentar von Barbara Oertel

Gut zwei Jahre Krieg zermürben die Männer an der Front und ihre Familien daheim. Selenskyjs neue Kriegsgesetze dürften kaum auf Zustimmung stoßen.

Selenskyj senkt das Alter für die Einberufung von Reservisten von 27 auf 25 Jahre Foto: Efrem Lukatsky/ap/dpa

E s war eine Frage der Zeit, jetzt ist es soweit: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Unterschrift unter mehrere Kriegsgesetze gesetzt, die die Mobilmachung neu regeln. Dabei birgt die Absenkung der Altersgrenze von 27 auf 25 Jahre noch vergleichbar überschaubares Erregungspotenzial. Schwerer wiegt eine umfängliche Erfassung der persönlichen Daten von Personen im wehrfähigen Alter in einem staatlichen Register.

Warum dazu Angaben zu deren Eltern gehören oder Auslandsreisen der Betroffenen abgefragt werden, erschließt sich nicht wirklich. Auch eine erneute medizinische Überprüfung „eingeschränkt tauglicher“ Männer dürfte bei den Betroffenen auf wenig Begeisterung stoßen. Warum Selenskyj solange gezögert hat, ist klar. Dieser Schritt kommt einem Offenbarungseid gleich.

Der Ukraine fehlt es nicht nur an Waffen und Munition, um sich verteidigen, geschweige denn russisch besetzte Gebiete zurückerobern zu können. Auch frische Kräfte für die Armee sind Mangelware. Diese zu rekrutieren, wird schwieriger. Die Bereitschaft, sich freiwillig zum Dienst an der Waffe zu melden, schwindet, auch wenn immer noch die Mehrheit der Ukrai­ne­r*in­nen Konzessionen an Russland eine Absage erteilt.

Mehrfach kam es in den vergangenen Monaten zu Kundgebungen Angehöriger von Soldaten, die in Sorge um ihre völlig erschöpften Söhne und Männer sind. Das alles sind sehr deutliche Indizien für eine wachsende Kriegsmüdigkeit. Dass der Druck im Kessel steigt und die Nervosität wächst, zeigen auch Selenskys Personalrochaden. Nach dem unfreiwilligen Abgang des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walery Saluschnyj, kam es zu einem Wechsel im Nationalen Sicherheitsrat.

Jetzt wurden auch noch einige Berater des Präsidenten abserviert. Angesichts dieser angespannten Lage klingt das Mantra von Kyjiws Verbündeten „as long as it takes“ zusehends hohl. Wirkliche Unterstützung und vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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11 Kommentare

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  • Wenn Menschen etwas unfreiwillig tun, dann tun sie es auch meist nicht gut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das erfolgsversprechend ist. Aber doch hört man in der Geschichte immer wieder davon.



    Und noch immer wird davon ausgegangen, dass Frauen grundsätzlich schwach und ungeeignet sind und Männer grundsätzlich für den Krieg geboren sind.

  • Der kollektive Westen leistet sich toxische Eitelkeiten auf Kosten von Menschenleben. Man ist zu stolz un sich selber einzugestehen das die Kritiker des Bellizismus Recht hatten. Dabei sprechen die tatsächlichen Gegebenheiten an der Front eine Eindeutige Sprache. Auch wenn man es sich anders wünscht, einen Krieg gewinnt man eben nicht mit moralischen Argumenten sondern mit Soldaten und Ressourcen.

  • Selenskyjs neue Kriegsgesetze dürften kaum auf Zustimmung stoßen.



    Spekulation

  • Ich bin positiv überrascht von dem Artikel!



    Bisher herrschte ja, in der öffentlichen Darstellung, die Meinung vor, Selensky sei unfehlbar.



    Die ukrainische Armee hat schon vor einem Jahr auf erhebliche Verluste hingewiesen und Entsatz gefordert.



    Selensky konterte das mit PR aus.



    Die 500.000 Mann, die die Armeeführung vor nunmehr mehr als einem halben Jahr gefordert hat, empfinden Selensky und sein neuer Mann an der Armeespitze, übertrieben.



    "Wir haben nochmal durchgezählt".



    Wenn das so gut geklappt hat, wie beim Zählen der Gefallenen, bedarf es vielleicht mal eines Beraters mit mehr Fingern.



    Hochmut kommt vor dem Fall.



    Schon nach der gescheiterten Gegenoffensive hätte eine neue Strategie entwickelt werden müssen.



    Krieg ist mit PR nicht zu gewinnen.



    An der Front stehen Menschen, werden taub, blind, verlieren Körperteile oder das Leben.



    Es wird Zeit, dass Selensky dafür Verantwortung übernimmt. Das ewige Entlassen von Kritikern und Fachleuten ist hier nicht zielführend.



    Es hieß immer, die Ukraine müsse Ihre eigenen Entscheidungen fällen.



    Beim jetzigen Kriegsrecht ist das in erster Linie der Präsident



    Selensky hat für sich offenbar die Entscheidung getroffen, bei Allem möglichst gut auszusehen.



    Von Kiew aus :"Durchhalten"! zu rufen, ersetzt keine Kompetenz.



    Kluge Politiker umgeben sich mit noch klügeren BeraterInnen um die eigenen Defizite auszugleichen.



    Selensky ist wohl eher an Jasagern interessiert.

  • "As long as it takes" heißt bei vielen westlichen Regierenden, allen voran bei Scholz und Macron inzwischen nur noch: Wir tun pflichtbewusst das Minimum, was notwendig ist, um später - wenn die Ukraine untergegangen ist - sagen zu können, "wir haben die Ukraine immer unterstützt, wir waschen unsere Hände in Unschuld". Danach gehen wir dann wieder zur Tagesordnung über - "man muss ja mit Russland im Dialog bleiben".

    Frankreich, Spanien, Portugal, GB kann es weitgehend egal sein, die allermeisten zusätzlichen Flüchtlinge werden in Polen und in Deutschland Zuflucht suchen. Damit agiert z.B. die französische Politik wie immer ganz im Sinne ihrer Interessen, die deutsche hingegen mal wieder arg kurzsichtig.

    • @Bussard:

      "Damit agiert z.B. die französische Politik wie immer ganz im Sinne ihrer Interessen, die deutsche hingegen mal wieder arg kurzsichtig."

      Deutschland konnte anders als Frankreich keine neutralere Position einnehmen - dafür war die Stimmung nicht gegeben. Das diese Politik langfristig Deutschland Interessen schadet stimmt natürlich.

      "Wir tun pflichtbewusst das Minimum"

      Der Westen insbesondere Deutschland tut verhältnismäßig viel, aber das man



      "As long as it takes" nicht wörtlich nehmen darf sollte doch eigentlich jedem klar gewesen sein.

      "die allermeisten zusätzlichen Flüchtlinge werden in Polen und in Deutschland Zuflucht suchen. "

      Das muss mittelfristig und langfristig nicht so bleiben. Bisher haben wir mit Abstand die besten Bedingungen in der EU für ukrainische Flüchtlinge geboten. Sobald sich das ändert, würden auch andere Länder "attraktiv".



      Ich möchte da den Flüchtlingen auch keinen Vorwurf machen, aber mittelfristig wäre eine gleichnässigere Verteilung besser.

  • Ich bin überrascht darüber, dass die Zahl der Freiwilligen so gering ist.



    Werden nicht relativ PR Kampagnen gefahren, die versuchen zu erklären warum es wichtig ist zu kämpfen?

    • @Alexander Schulz:

      Ist wahrscheinlich eine Art Naturgesetz: Je größer die Wahrscheinlichkeit umgebracht uder verstümmelt zu werden und je bewusster das Risiko, umso geringer die Freiwilligkeit.







      Sowas versteht man auf einem deutschen Sofa sitzend natürlich nur bedingt.

      • @Nansen:

        Genau so ist es.

    • @Alexander Schulz:

      Manche Menschen mag es überraschen, aber viele Menschen wollen nicht mit der Waffe in der Hand gegen andere Menschen kämpfen.



      Kriege sind Konflikte zwischen Staaten, den aber die jeweiligen Bevölkerungen austragen.



      Vielen Menschen ist der Kampf um nationale Unabhängigkeit, wirtschaftliche Interessen und gesellschaftliche Freiheitsrechte nicht den Einsatz des eigenen Lebens wert.

    • @Alexander Schulz:

      Ich bin nicht überrascht. Zumal es Gebiete sind, wo schon ewig, nicht nur die russische Sprache zu Hause ist.