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Rolle der GewerkschaftenDie Tarifbindung schwindet

Immer weniger Beschäftigte in Deutschland werden nach Tarifvertrag bezahlt. Nun warnt auch ein Pharmaverband vor den Konsequenzen.

Angestellter in der Pharmazeutischen Produktion Foto: Ivan Traimak/imago

Berlin taz | Wer dieser Tage auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist, hat häufig das Nachsehen. Denn die Gewerkschaft Verdi hat für diese Woche hier zu Warnstreiks aufgerufen. Am Montag wurden insbesondere Betriebe im Saarland bestreikt. Im Laufe der Woche erstrecken sich die Arbeitskampfmaßnahmen auf das gesamte Bundesgebiet bis auf Bayern. Hauptstreiktag wird der Freitag sein.

Die Warnstreiks im Verkehrsbereich dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bedeutung der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren gesunken ist. Das zeigt eine Studie des Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA). Demnach ist die Tarifbindung, also der Anteil der Beschäftigten, die nach Tariflohn bezahlt werden, von knapp 80 Prozent im Jahr 1996 auf 51 Prozent im Jahr 2022 zurückgegangenen.

„In einem steigenden Teil kleinerer Betriebe im Dienstleistungsbereich und neuer digitaler Services ist die Arbeitnehmerschaft wesentlich schwächer gewerkschaftlich organisiert als in der Industrie“, führen die VFA-Forschenden diesen Trend auf den Strukturwandel zurück. So konnten die Gewerkschaften ihre Stellung in der Industrie teilweise sogar ausbauen. In der Mineralölverarbeitung, der Auto- und der Pharmaindustrie etwa nahm die Tarifbindung zu.

Eine höhere Tarifbindung bedeutet höhere Gehälter. Gleichwohl warnt der VFA vor einem Schwinden der Tarifbindung. So „gilt die Tarifpartnerschaft in Deutschland als wesentlich stärker am Interessensausgleich orientiert als in vielen anderen europäischen Ländern“, schreibt der Verband. Will heißen: Die deutschen Gewerkschaften streiken vergleichsweise wenig.

Gute Arbeitsbedingungen gegen Fachkräftemangel

Gleichzeitig stehen starke Gewerkschaften für gute Arbeitsbedingungen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist das etwas, worauf auch Unternehmen von Hochlohnbranchen wie der Pharmaindustrie achten müssen: „Nur wenn die Arbeitsbedingungen attraktiv sind, wird die Erwerbsbeteiligung steigen und Deutschland als Ziel der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt im internationalen Wettbewerb um die besten Talente bestehen können“, schreibt der VFA.

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4 Kommentare

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  • "Demnach ist die Tarifbindung, also der Anteil der Beschäftigten, die nach Tariflohn bezahlt werden, von knapp 80 Prozent im Jahr 1996 auf 51 Prozent im Jahr 2022 zurückgegangenen."

    Seit 2003 hat Deutschland mit den sogenannten Harz-Reformen einen Niedriglohnsektor etabliert, in diesem Sektor ist die Arbeit zu einem sehr niedrigem Lohn und gleichzeitiger Bezug von Leistungen nach SGB II möglich. Der Staat legt für den Niedriglohnsektor den Lohn (Mindestlohn) fest, damit haben Beschäftigte in diesen Bereichen keine Möglichkeit per Streik oder Gewerkschaftsmitgliedschaft ein höheres Entgelt zu erzielen. Auch die Arbeitsbedingungen lassen sich in diesem Segment öber eine Gewerkschaft nur schwer verändern.

    Natürlich spielen neue Branchen und bestimmte Betriebe eine große Rolle, wenn Gewerkschaften irgendwo schwach sind, weil es keine gewachsene Beziehungen und Strukturen gibt.

    Und Streiks bringen nicht automatisch einen Zuwachs an Mitgliedern. Dort werden Gewerkschaften eben nur deutlich sichtbar, aber es heißt nicht, dass dies dort auch dazu führt, Menschen Mitglied werden.

    Niedrige Entgelte hindern am allerstärksten Mitglieder zu gewinnen, wenn Menschen sehr wenig verdienen und diese Entgelte nicht erkämpft werden müssen, dann entfällt auch der Druck, durch eine Gewerkschaft etwas durchzusetzen.

    Für viele Arbeitnehmer sind die Beiträge zu viel. Wer mit €2800 oder €3000 eine Familie finanziert, überlegt, ob er monatlich €28 oder €30 überweist und sich dann noch selber einbringen muss, wenn er von der Gewerkschaft mehr will. Wenn der Druck dann nicht hoch ist, sind Menschen sehr zurückhaltend. Niedrige Löhne und miese Arbeitsbedingungen sind dann die Folge. Undemokratische und hierarchische Machtverhältnisse kommen hinzu. Der Preis ist hoch, wenn Gewerkschaften schwach werden.

  • Wenn wir öffentliche Aufträge an die Tariftreue in der Lieferkette binden, wird es zügig besser.

  • Wow, nach Jahrzehnten Gewerkschaftsbashing und der Förderung der Entsolidarisierung solch eine Erkenntnis!

  • "Die deutschen Gewerkschaften streiken vergleichsweise wenig."



    Wie wahr, wie wahr - ganz besonders Verdi !!!!

    Und dann reden sie mal mit Verdi-Mitgliedern. Also nicht mit Funktionären sondern mit Mitgliedern an der Basis. Wenn sie überhaupt welche finden die bereit sind zu reden.



    Und dann schauen sie in die Bereiche "Pflege", "Callcenter" und "Lieferdienste".



    Wie mikrig der organisatorische Unterbau dieser Fachbereiche in Verdi ist.



    Da kann man dann nicht mal mehr von einer lahmen Ente reden, sondern nurnoch von einer toten.



    Und ein großer Teil der Gewerkschaftsbeiträge sollte in die Streikkassen gehen. Aber dort quilt das Geld eh schon aus allen Ritzen. Was geschieht also mit der Kohle der Mitglieder ?



    Die wird angelegt. Im Aktien und Fonts. Also auf Arbeitgeberseite.