Tories und Labour : Politik ohne Ideen
Margaret Thatcher und Tony Blair haben mit politischem Mut Großbritannien geprägt. Rishi Sunak und Keir Starmer können da heute nicht mithalten.
E in Jahr ist es her, da ging ein kollektives Aufatmen durch die britische Politik. Rishi Sunak wurde Premierminister und versprach Stabilität und Kompetenz. Die wilden Jahre von Boris Johnson und der kurzlebigen Liz Truss beförderte er kurzerhand auf den Müllhaufen der Geschichte. Endlich Ruhe.
Endlich Ruhe? Nach einem Jahr im Amt ist es Sunak nicht gelungen, den seit 2010 regierenden Konservativen Zuversicht einzuhauchen. Der junge Premier ist ein Arbeitstier und packt am liebsten alle Probleme auf einmal an, aber je eifriger er agiert, desto weniger scheint er zu überzeugen. Es hagelt eine Wahlniederlage nach der anderen, der Tory-Rückstand zur Labour-Opposition in allen Umfragen bleibt gigantisch. Je näher die nächsten Wahlen rücken – voraussichtlich im Jahr 2024 –, desto mehr steigt bei den Konservativen die Nervosität. Kann Labour-Führer Keir Starmer sich also beruhigt zurücklehnen, bis ihm die Schlüssel zu 10 Downing Street in den Schoß fallen?
Wer die politische Debatte in Großbritannien verfolgt, kommt nicht umhin, sowohl bei Konservativen als auch bei Labour eine Leerstelle dort vorzufinden, wo eigentlich Ideen sprießen sollten. Rishi Sunak und Keir Starmer sind beide vor allem dafür angetreten, mit der Vergangenheit ihrer eigenen Parteien aufzuräumen. 2019 standen sich die zwei besten Populisten ihrer jeweiligen Parteien gegenüber, also Boris Johnson und Jeremy Corbyn. Es war aufregend, aber am Ende sinnlos. 2024 droht ein Wahlkampf der zwei besten Technokraten. Das wird nicht einmal aufregend.
Die Errungenschaften Bildung und Wohneigentum
Es ist bezeichnend, dass Rishi Sunak sich gern auf Margaret Thatcher beruft und Keir Starmer gern auf Tony Blair. Beide suchen nach Glorie, die auf sie abfärben könnte. Die konservative Premierministerin von 1979 bis 1990 und der Labour-Premier von 1997 bis 2007 drückten nicht nur ihren Parteien ihren Stempel auf. Sie standen auch für mutige politische Projekte, die das Leben der Menschen sofort veränderten, aber ihre volle Wirkung erst später entfalteten und damit das Land für mindestens eine Generation prägten.
Bei Thatcher war es die Verallgemeinerung privaten Wohneigentums, bei Blair die Verallgemeinerung höherer Bildung. Margaret Thatcher bot Sozialmietern die Möglichkeit an, ihre Sozialwohnungen zu kaufen – Millionen taten das und damit wurde erstmals Wohneigentum auch für Geringverdiener erreichbar. Tony Blair baute das Hochschulwesen massiv aus – Millionen junger Menschen drängten an die Universitäten und damit wurde erstmals höhere Bildung auch jenseits der Bildungselite normal.
Bis in die 1960er Jahre hinein lebte nur eine Minderheit der Briten in den eigenen vier Wänden. Unter Thatcher stieg der Anteil steil, bis 2005 wurden es über 70 Prozent. Bei der höheren Bildung ist der Wandel noch spektakulärer: Noch 1990 zählte Großbritannien weniger als 80.000 Universitätsabsolventen pro Jahr, heute sind es mehr als viermal so viel, 38 Prozent der Schulabgänger gehen heute auf eine höhere Bildungsanstalt gegenüber 14 Prozent in der Thatcher-Ära.
Luxus und Ramschware
Beide Projekte enthielten auch politisches Kalkül. Thatcher wollte eine Mehrheitsgesellschaft der Eigentümer, die rechts wählt, Blair wollte eine Mehrheitsgesellschaft der Gebildeten, die links wählt. Aber beide Projekte hätten politisch nicht funktioniert, wenn sie nicht sowieso der gesellschaftlichen Fortschrittserwartung entsprochen hätten. Sie passten zum britischen Ideal des Aufstiegs aus eigener Kraft, für den der Staat gute Rahmenbedingungen setzt. Demokratisierung des Zugangs zu Wohneigentum und höherer Bildung heißt gesellschaftliche Teilhabe, soziale Inklusion, bessere Aufstiegschancen, abgesicherte Lebensumstände.
Die Schattenseiten zeigten sich später. Bei Thatcher ging die Privatisierung des Sozialwohnbestandes einher mit einem Stopp des sozialen Wohnungsbaus, der bis heute andauert. Bei Blair ging die Erweiterung der höheren Bildung einher mit dem Stopp des kostenlosen Studiums zugunsten von Studiengebühren; wer studiert, verschuldet sich, und je mehr Universitätsabsolventen es gibt, desto geringer sind ihre Karrierechancen. Die Ausbreitung von Wohneigentum kam mit der Finanzkrise zum Stillstand, die der Hochschuĺbildung scheint gegenwärtig zu enden.
Wer heute in Großbritannien aufwächst, wächst in eine Zweidrittelgesellschaft hinein, in der immer mehr Menschen die meisten Türen verschlossen erscheinen. Dass dazu auch noch die meisten Dienstleistungen immer schlechter und teurer werden, verschärft das Krisengefühl. Die Generationen Thatchers und Blairs können ihre Errungenschaften nur eingeschränkt an ihre Kinder weitergeben. Das private Wohneigentum ist zum scheinbaren Luxusgut geworden, der Hochschulabschluss zur scheinbaren Ramschware, und der Staat steht hilflos daneben.
Die Lösung besteht sicher nicht im uneinlösbaren Versprechen einer Rückkehr zu früheren Privilegien bei gleichzeitiger Beibehaltung der seitherigen Errungenschaften – also billige Sozialwohnungen und kostenlose Studienplätze für alle, wie Linke es fordern. Aber weder Rishi Sunak noch Keir Starmer haben überzeugende eigene Ideen. Sie gehen auch kaum die unerledigten Aufgaben an: erschwingliche, für alle zugängliche Altenpflege und Kinderbetreuung. Dabei wäre Sicherheit für die Ältesten und die Jüngsten neben Wohneigentum und guter Bildung der dritte Baustein eines gesellschaftlichen Aufstiegsversprechens, das länger trägt als nur eine Generation.
Sunak und Starmer sind ehrliche und ernsthafte Reformer. Aber ihr Verhältnis zur Politik ähnelt dem eines Mechanikers zu einem kaputten Auto. Sie schlagen vor, wie man es fahrtüchtig macht, aber nicht, wohin man fahren könnte. Ihre Politik beschränkt sich auf die Mittel, nicht das Ziel. Sie zehren von der Vergangenheit, aber Großbritannien braucht Zukunft. Es ist wichtig und unerlässlich, aber es reicht nicht.
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