piwik no script img

Angriff auf IsraelGeiseln in Gaza

Gastkommentar von Hagai Dagan

Die Entführung Dutzender Menschen zwingt Israel zu bitteren Entscheidungen. Die Notstandsregierung tendiert zur Härte, die Bevölkerung fordert Verhandlungen.

Auch vom Supernova-Festival nahe der Grenze zu Gaza wurden Menschen von der Hamas entführt Foto: Ronen Zvulun/reuters

E s fällt nicht leicht, zu schreiben, wenn einem die Wut bis in den Kopf steigt. Es ist nicht leicht, nüchtern zu analysieren, wenn uns die Bilder und Geschichten des Grauens keinen Moment in Ruhe lassen. In den israelischen Fernsehstudios sitzen Journalisten, die ihrer Arbeit in der Regel verantwortungsvoll nachgehen, sich jetzt aber kaum noch emotional zurückhalten können. Von den sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Eine komplette Nation befindet sich im Schockzustand und erlebt ein tiefes Trauma.

Dieses Trauma ist nicht nur Folge des unerträglichen militärischen und nachrichtendienstlichen Versagens und der hunderten Leichen, die in den verbrannten Häusern geborgen wurden, sondern es geht um etwas Tieferes, wenn man den Menschen zuhört, die dem Morden und dem Zerstören der Hamas unmittelbar entkommen sind. Immer wieder sind Sätze zu hören wie: Das war wie ein Pogrom in Litauen. Es war wie in Chișinău.

Die Schrecken dieser Woche rütteln jüdische Traumata entfernter Vergangenheit wach – Traumata der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Hintergrund und Ziel von Zionismus und der Gründung des Staates Israel war doch, dass so etwas nie wieder möglich sein würde. Im Herzen des liberalen Zionismus stand nicht, wie bei den Nationalreligiösen, der Wunsch nach Erlösung, sondern die Motivation war eine viel grundsätzlichere: Juden und Jüdinnen das Gefühl einer Heimat und Zugehörigkeit zu ermöglichen, Sicherheit, Ruhe.

All das ist zutiefst erschüttert und angesichts der sich verängstigt versteckt haltenden Menschen, die Stunden über Stunden die mörderischen Stimmen, die Schreie und Zerstörung hören und auf die Armee warten, die nicht kommt, vielleicht sogar unwiederbringlich. Noch schlimmer sind die Bilder von Alten, von Frauen, Kindern und Babys, von jungen Mädchen, die auf Laster gedrängt werden und abtransportiert – erniedrigt und verängstigt als Geiseln in Gaza.

Die ganze Nation rückt zusammen

Die Israelis – mit all ihren Meinungsdifferenzen – sind noch immer ein Stamm, eine große Familie. Wenigstens erinnern sie sich daran in Zeiten der Kriege und Krisen. Wenn der Vater zweier junger Mädchen, die von der Hamas entführt wurden, im Fernsehen davon spricht, dass „vielleicht gerade jetzt meine Töchter vergewaltigt werden“, rückt die ganze Nation in Schrecken zusammen.

Hagai Dagan

lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.

So entsteht das erste große Dilemma dieses Krieges. Schon in den ersten Tagen: Einerseits fordert die Bevölkerung von der Regierung, den Gazastreifen zu erobern und sogar komplett zu zerstören. Der Wunsch nach Rache für die erlittene Erniedrigung ist vielleicht aus psychologischer Sicht allzu verständlich. Manche versuchen ihn auch rational zu rechtfertigen mit dem Argument, dass Israel jetzt Stärke demonstrieren muss und die Abschreckungskraft wiederherstellen.

Auf der anderen Seite wird die Sorge um das Schicksal der Geiseln zur zentralen Emotion der Öffentlichkeit. Die große Mehrheit war bereit, hunderte palästinensische Häftlinge, die an Terroranschlägen beteiligt waren, für nur einen Soldaten auf freien Fuß zu setzen. Hier aber ist die Rede von Frauen, von Kindern und Alten. Die Hamas – von der Führung bis zu den jungen Männern, die in den Kibutzim mit ihren Gewehren herumrannten – hat sich als blutrünstige und mörderische Bande entlarvt.

Wer jetzt noch von Freiheitskämpfern spricht, ist entweder ein Idiot oder ein Verbrecher. Den offiziellen israelischen Stellungnahmen lässt sich entnehmen, dass die Regierung nichts von Verhandlungen hören will. Doch selbst Benjamin Netanjahu muss einsehen, dass seine Regierungszeit bald vorbei sein dürfte, wenn unter den Trümmern der Häuser, die die israelische Luftwaffe bombardiert, die Leichen israelischer Geiseln gefunden werden.

Denkbar ungünstigster Zeitpunkt

Die Hamas hat Israel zu einem aus ihrer Sicht denkbar günstigen Zeitpunkt erwischt, mit der schlechtesten Regierung in der Geschichte des Staates, eine Regierung, die mitnichten in der Lage ist, mit einem Krieg dieser Art umzugehen. Von der Haltung Netanjahus abgesehen, liegen bereits verschiedene Angebote von Seiten Ägyptens, Katars und anderen auf dem Tisch. So könnten sämtliche palästinensischen Häftlinge im Gegenzug für die entführten Frauen, Alten und Kinder getauscht werden.

Die Hamas signalisierte Bereitschaft, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Die Bilder der entführten Kinder und Frauen sind auch in der arabischen Welt mit Vorsicht behandelt worden. Sogar Al Jazeera, der offen eine Hamas-freundliche Berichterstattung pflegt, vermied es, diese Bilder zu zeigen. Politische Analysten in Israel gehen davon aus, dass Netanjahu sich einem Geiselaustausch nicht in den Weg stellen könnte, wenn die Hamas dem zustimmt.

Dennoch zeigt sich bereits ein Unterschied in den Positionen von Gesellschaft und Regierung. So forderte Finanzminister Bezalel Smotrich, den Krieg ohne Rücksicht auf die Geiseln zu führen. Auf der anderen Seite fordern Stimmen aus der Gesellschaft, alle palästinensische Häftlinge im Gegenzug für die Geiseln auf freien Fuß zu setzen. Die Hamas signalisierte in der Vergangenheit Bereitschaft unter der Bedingung, dass Israel die Regierung der Hamas nicht antastet.

Genau darauf zielen Regierung und Sicherheitsapparat aktuell jedoch ab. Völlig klar, dass sich die Israelis eine Befreiung im Stil von Entebbe wünschen würde, was auch den nationalen Stolz ein Stück weit wieder aufrichten würde. Unter den gegebenen Umständen ist damit indes kaum zu rechnen.

Die Hamas spielt ein schmutziges Spiel und übernimmt die Methoden des IS im Umgang mit den Geiseln. Wer sich in den Händen der Islamisten befindet, wird zum Verhandlungsgegenstand ohne jedes Erbarmen. Sie werden den maximalen Preis für jedes junge Mädchen, jedes israelische Kind herausholen. Das Gebot der Stunde ist, die Tränen runterzuschlucken, klug, rational, entschlossen und mit kühlem Kopf vorzugehen.

Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • Wer auf einen Fehler mit mehr Fehlern reagiert, der geht unter.



    Zahn um Zahn, Auge um Auge; hinterlässt eine Gesellschaft aus Krüppeln die Ihre Zukunft begräbt-Ihre Kinder.

  • Aus dem taz-Archiv vor wenigen Jahren:



    "Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist mit seiner Entscheidung, Verfahren zu mutmaßlichen Verbrechen in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu eröffnen, auf sehr widersprüchliche Reaktionen gestoßen. „Diese Entscheidung öffnet einen seit Langem erwarteten Weg zur Gerechtigkeit für israelische und palästinensische Opfer schwerer Verbrechen“, begrüßte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) den IStGH-Beschluss."



    /



    Wenn Weltrechtsprinzip und Gleichheit vor dem Gesetz Bedeutung haben sollen, ist auch hier (Beispiel aus der Türkei) eine Intervention geboten:



    "Regierungsabgeordneter bezeichnet Israel im Parlament Terrororganisation



    Mit seinen Worten im Parlament hatte der Abgeordnete Sehzade Demir Israel massiv angegriffen. „Ich sage es ganz klar. Israel ist eine illegale Terrororganisation. Deswegen sollte das Parlament Israel mit einer klaren Botschaft rügen. Alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen sollte beendet werden. Ich begrüße daher die Mudschahedin, die die Operation „Al-Aqsa-Flut“ durchgeführt haben“.



    Quelle fr.de



    Interessant ist, wer wen protegiert, finanziert und hofiert.



    Andererseits ist man für Verhandlungen angewiesen auf Personen inklusive Entourage aus dem Halbmondbereich, in dem es oft wenig Licht und viel Schatten gibt.

  • Verhandlungen deckt sich nicht mit den neuesten Umfragen. Was ich von Freunden und Bekannten aus Israel mitbekomme, ist, dass die Bevölkerung sicher nicht Verhandlungen fordert, sondern Vergeltung.

  • Es ist sowieso nichts davon zu halten, dass der Mann, der das Land seit 2009 wie kein anderer prägt und dessen komplette Sicherheitspolitik gerade implodiert ist, jetzt die Beseitigung der Hamas überhaupt durchführen kann. Im Sinne des Landes müsste für den Krieg eine Expertenregierung etabliert werden, die sich von den Dogmen des letzten Jahrzehnts löst.

  • Ein Austausch aller palästinensischer Gefangenen gegen die Geiseln wäre doch ideal. Sobald alle dann daheim sind geht es munter weiter mit dem Krieg. Warum sollte nach einem Austausch eine der beiden Seiten aufhören?

    Israel hat nur jetzt die Möglichkeit, ein für alle Mal die Hamas zu zerstören, das wäre für die Palästinenser das beste. Ohne Hamas kann es Frieden geben, mit Hamas nur Krieg und Terror.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Man muss die Sache sehr gut geplant und vor allem nachhaltig angehen. Sonst übernimmt nach der Hamas der IS und es wird noch schlimmer.

  • Ein fataler Irrtum wird nicht von Fanatikern, sondern auch von nachdenklichen Menschen gemacht. Man geht davon aus, dass Hamas im palästinensischen Namen und Interesse handle. Das ist aber nicht der Fall!

    Hamas ist eine antisemitsche, dem Todeskult verbundene, Terrororganisation und kein bewaffneter Arm (wie es fälschlich heißt) der Palästinenser. Sie ist ideologisch ein Ableger der Muslimbrüder und hat - obwohl so verbreitet - eigentlich keinerlei Interesse an einem palästinensischen Staat. Nur die Auslöschung Israels.

    • @Der Cleo Patra:

      Nach der einzigen Wahl 2006 im Gazastreifen wurde die Hamas von der palästinensischen Bevölkerung gewählt. Danach gab es keine Wahlen mehr.

  • Das Ganze Gerede von Nationalitäten, Völkern oder gar Stämmen ist rückschrittlich. Es gibt nicht Völker, die angeblich ein Ganzes sind, sondern es es gibt nur Menschen, und die ganze Menschheit ist ein Familie.

    Es sind die Rechten und Rückständigen, die nicht anders können, als Menschen in Volksgruppen zu unterteilen und dazu noch in wertvollere und wertlosere Volksgruppen. Das führt dann zu Diskriminierungen und Hass, zu nationalen Konflikten und Kriegen. Und es führt zur Unterminierung der allgemeinen und gleichen Menschenrechte für Alle.

    Lasst uns das völkische Denken endlich beenden und als Menschheit friedlich und gleichberechtigt zusammen zu arbeiten. Dann erst wird der Krieg der Vergangenheit angehören und dann erst gibt es für einen wirklichen globalen Frieden eine materielle Grundlage.

  • 9G
    94799 (Profil gelöscht)

    Befreiung im Stil von Entebbe? Man sehe nur was daraus geworden ist, ein Staat der keiner ist mit grenzenloser Gewalt im Inneren und, und und.



    Und nicht vergessen, die Hamas wurde nach ihrer Gründung vorübergehend von Israel gesponsert um die PLO zu schwächen. Die perverse Politik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" ging a la long nach hinten los.



    Und was soll die Aussage "die schlechteste Regierung" ohne die Frage zu beantworten wieso hat die Mehrheit der Israelis diese gewählt?



    Alles nicht so einfach, wenn religiöser Fanatismus, auf beiden Seiten, das Geschehen bestimmt.



    Ich trauere um die Opfer beider Seiten die diesem mörderischen Wahnsinn ausgeliefert wurden/sind!

    • @94799 (Profil gelöscht):

      Sprechen Sie jetzt von der Situation in Uganda? Worauf wollen Sie hinaus? Soll israel auch für Idi Amin verantwortlich gewesen sein?

      Haben Sie Quellen für die Behauptung die Hamas wäre von Israel gesponsert worden? Und selbst wenn, wofür soll das als Argument dienen? Das Israel selbst schuld sei?

      Die Mehrheit hat die Regierung gewählt, weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß Frieden ohnehin nicht zu erwarten ist. Dann wollte man zumindest Sicherheit.

      Vor allem die genozidale Weitsicht der einen Seite bestimmt hier das Geschehen...

      • @Paul Meier:

        Ja, historisch ist es leider so das vor Jahrzehnten unter B.N. die Hamas unterstützt wurde um die PLO zu schwächen. War keine gloriose Idee. Also wenn Bibi sich jetzt hinstellt und den Ahnungslosen spielt - das hier hat er mit verbockt durch kurzsichtige, dumme Politik.

  • "Das Gebot der Stunde ist, die Tränen runterzuschlucken, klug, rational, entschlossen und mit kühlem Kopf vorzugehen"



    - wohl richtig! Und das nicht nur wegen der Geiseln, sondern auch wegen der zivilen palästinensischen Bevölkerung. Hamas ist eine Mörderbande. Durch die israelischen Angriffe werden die aber in den wenigsten Fällen getroffen. Es sind Zivilisten, die ihre Toten unter den in Schutt und Asche liegenden Wohnhäusern frei zu graben versuchen. So verständlich der Wunsch ist, die Hamas zu beseitigen, es wird nicht klappen, v.a. nicht mit kriegerischen Maßnahmen. Im Gegenteil: die Männer im Gaza-Streifen, die jetzt ihre durch israelische Bomben getöteten Mütter, Frauen und Kinder beweinen, werden sich morgen in ihrer Wut der Hamas zuwenden und Israelis töten, wenn sie können. So absurd das gerade jetzt klingen mag: dem Frieden näher kommen wird Israel nur, wenn es palästinensischen Menschen auf Augenhöhe begegnet, mit ihnen redet und z.B. die Siedlungen beendet.



    Dass die jetzige Regierung die "schlechteste in der Geschichte des Staates" ist, mag sein, aber sie wurde gewählt und hat damit ihre Legitimation. Wer in Israel Frieden will, sollte nicht nur ie Tränen, sondern auch die verständliche Wut runterschlucken, sich den rechten Landsleuten entgegenstellen und eine bessere Regierung wählen.

    • @stph:

      Insgesamt ja, aber:

      "Dass die jetzige Regierung die "schlechteste in der Geschichte des Staates" ist, mag sein, aber sie wurde gewählt und hat damit ihre Legitimation."

      Das ist ein notwendiges Kriterium, aber kein hinreichendes.

      Menschen wissen das seit 90 Jahren, und sogar Deutsche sollten es seit mindestens 78 Jahren wissen.

  • 47.900 Bürger fordern in einer aktuellen Petition, dass sich auch die Bundesregeriung als Vermittler für die Rettung der israelischen Geiseln einsetzt.

    Die Petition wurde von Raluca Ganea (Geschäftsführerin von Zazim - Community Action, Campacts Schwesterorganisation in Israel) initiiert.

    weact.campact.de/p...che-geiseln-retten

    • @Lindenberg:

      Die Hamas hat wohl unter Anleitung der Revolutionsgarden nach langer Vorbereitung ihren bislang den aus ihrer Sicht optimalen Coup gelandet. Maximale Demütigung und Erniedrigung um die größtmögliche Gegenreaktion zu erzeugen. Und dann bekommt man was man eigentlich will - Mobilisierung und Legitimation.



      Die Geiseln sind wohl verloren. Sie sind lediglich Lockvögel um die Israelis in einen Häuserkampf zu verwickeln bei dem die Opferzahlen in die Zehntausende gehen. Ich hoffe sie setzen erst auf Belagerung. Damit zumindest ein Teil der Zivilbevölkerung fliehen kann. ( Wobei dann notabene auch etliche Täter entwischen. )



      Die Frage ist ob Europa endlich aufwacht und die Unterstützer / Islamisten hierzulande endlich nicht mehr füttert sondern endlich gegensteuert.



      Dazu würde auch die Unterstützung dieser Mörderbanden und ihrer iranischen Chefs durch unsere ideologisch doch teilweise sehr verblasenen Linken. Und das ist durchaus auch ein Kapitel für große Teile der SPD die die von Moskau implementierten Erzählungen zu "Palästina" und Nato bis heute pflegen.