SPD-Wahlniederlage in Hessen: Doppelt verloren
Innenministerin Faeser fuhr für die SPD das schlechteste Ergebnis in dem Land ein. Sie wird zum Symbol einer Klatsche für die Ampel.
N ancy Faeser wirkte am Montagvormittag erstaunlich gefasst. Als die Spitzenkandidatin der hessischen SPD 16 Stunden nach ihrer historischen Niederlage in Wiesbaden in der Berliner Bundesparteizentrale vor die Presse trat, verurteilte sie zunächst den „unfassbaren Terror der Hamas“.
Sie betonte, dass es jetzt darauf ankomme, jüdische Einrichtungen in Deutschland zu schützen und dass es „selbstverständlich“ sein müsse, Menschen die Hass und Hetze verbreiteten, auch auszuweisen. Da sprach die Innenministerin, die ihre Doppelrolle als Spitzenkandidatin wie einen schlecht sitzenden Mantel bereits abgestreift hatte.
Dabei hatte Faeser am Abend zuvor ihre bitterste politische Niederlage erlebt. Eine, die geeignet wäre, auch ihre bundespolitische Karriere ins Wanken zu bringen. Bei der hessischen Landtagswahl holte ihre SPD nur 15,1 Prozent der Stimmen, verlor alle Direktmandate. Es ist das bisher schlechteste Ergebnis in Hessen – einem Bundesland, in dem die SPD jahrzehntelang regierte.
Nun liegt die Partei weit abgeschlagen hinter CDU-Mann Boris Rhein, sogar noch hinter der AfD. Selbst in ihrem eigenen Wahlkreis, Main-Taunus 1, landete Faeser nur auf Platz drei. Dabei war die Sozialdemokratin mit dem Ziel angetreten, erste Ministerpräsidentin in Hessen zu werden – nach 25 Jahren CDU-Regierungen.
Zu schlecht für Hessen, gut genug für Berlin?
Zwanzig Minuten dauerte es am Sonntag, nach Verkündung der ersten 18-Uhr-Prognosen, bis Nancy Faeser in der „Wohnzimmer“-Bar in Wiesbaden die Bühne betrat. Im Raum herrschte zuvor entgeisterte Stille über das SPD-Ergebnis. Für Faeser nun wurde applaudiert. Die 53-Jährige, sonst stets lächelt, blickte ernst, ließ sich von ihrem hessischen Parteivorstand umrahmen.
Von einem „sehr enttäuschenden Ergebnis, was denn sonst“, sprach Faeser. Man sei mit SPD-Themen nicht durchgedrungen, sie selbst habe im Wahlkampf „leider nicht helfen können“. Aber Faeser beschwor Zusammenhalt, auch in eigener Sache. „Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen.“ Hessens SPD-Generalsekretär Christoph Degen sprang Faeser noch auf der Bühne bei: Ihr Wahlkampf sei „grandios“ gewesen, erklärte er verwegen. Sie habe „so viel ertragen“.
Die Frage, die da aber längst diskutiert wurde, lautete: Kann eine, die eine derartige Abfuhr in Hessen erfahren hat, einfach so als Bundesinnenministerin weitermachen? Und wie sieht es mit dem Vorsitz der Hessen-SPD aus? Noch am Sonntag forderten erste Stimmen in der Union Faesers Rückzug als Innenministerin. Sie werde nun noch weniger Autorität besitzen, um die „Migrationskrise“ auf Berliner und Brüsseler Ebene zu lösen, so etwa der Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel. Auch die Noch-Linke Sahra Wagenknecht erklärte: „Wer in Wiesbaden scheitert, ist in Berlin fehl am Platz.“
Schon am Sonntagnachmittag, die Wahllokale waren noch offen, hatten sich die SPD-Vorstände in Berlin und Hessen hinter Faeser gestellt. Die Devise: Man brauche Geschlossenheit, um zumindest ein Ziel noch zu erreichen – eine schwarz-rote Landesregierung in Hessen.
Anti-Ampel-Hetze
Kurz nach 18 Uhr erklärte dann auch in Berlin SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, das Hessen-Ergebnis sei „bitter“, habe aber nichts mit der guten Bilanz von Faeser als Innenministerin zu tun. Auch Parteichefin Saskia Esken stellte sich am Montag noch einmal vor Faeser. Sie habe als Innenministerin viel erreicht, „eine großartige Arbeit gemacht“. „Deshalb gibt es gar keinen Grund für uns anzunehmen, sie sei geschwächt durch dieses Wahlergebnis.“
Gründe gäbe es durchaus, aber was der SPD-Führung bewusst ist: Beide Landtagswahlen waren auch eine Generalabrechnung mit der Ampel. Es wäre einem öffentlichen Kniefall gleichgekommen, die eigene Innenministerin der massiven Anti-Ampel-Stimmung zu opfern. Immer wieder hatte Kontrahent Boris Rhein vor einer Ampel in Hessen gewarnt – und das Vorbild im Bund als „schlechtestes Regierungsbündnis aller Zeiten“ geschmäht. Auch CDU-Chef Friedrich Merz stimmte ein, die AfD sowieso. Das verfing. Am Ende wanderten in Hessen 72.000 frühere SPD-Wähler:innen zur CDU ab, 25.000 auch zu den Nichtwählenden.
Im „Wohnzimmer“ in Wiesbaden ist die einhellige Meinung: Gegen die Anti-Ampel-Stimmung sei man nicht angekommen. Die Landespolitik habe am Ende gar keine Rolle gespielt. „Überraschend aggressiv“ sei Faeser im Wahlkampf attackiert worden, klagt ein führender Genosse.
Aber das Problem war hausgemacht. Denn die SPD hatte sich ja entschieden, mit Faeser die amtierende Bundesinnenministerin in den Wahlkampf zu schicken. Die noch dazu angab, nur nach Hessen zu wechseln, wenn sie auch Ministerpräsidentin würde. Beides war von Kanzler Olaf Scholz abgesegnet. Die Präsenz als Bundesministerin sollte ihr im Wahlkampf helfen – aber es kam genau anders.
Mehr Law-and-Order geht nicht
In den Wahlergebnissen liege nun auch eine „Botschaft“ an die Ampel, so räumte es SPD-Generalsekretär Kühnert noch am Sonntag ein. „Es geht jetzt darum, in der Koalition möglichst ohne öffentlichen Streit weiter zu arbeiten“, bemühte sich Faeser in Berlin um eine erste Interpretation. „Wir sehen ja, dass es Verunsicherung gibt.“ Die Menschen müssten sehen, dass man als Koalition zusammenstehe und Dinge in ihrem Interesse verbessere. Und da, glaubt Faeser, könne die Ampel durchaus vom hessischen Wahlsieger lernen: „Wenig Populismus und wenig Streit führen offenbar zu einem besseren Ergebnis.“
Wie passt das jedoch zusammen mit Forderungen aus der eigenen Partei, dass die SPD wieder klarer in der Koalition erkennbar sein müsse, die Rolle des moderierenden Dritten hinter sich lassen und eigene Anliegen stärker kommunizieren muss?
SPD-Chef Lars Klingbeil nannte Themen wie bezahlbare Mieten und Energiepreise, gute Löhne und Renten. Das sieht die FDP möglicherweise etwas anders. Und durch die selbsternannte Haushaltsdisziplin fehlen der Ampel die Mittel, Differenzen mit Geld zuzuschütten.
Und die Migrationspolitik? Noch mehr sozialdemokratische Law-and-Order-Politik, als Faeser bislang verkörperte, geht eigentlich kaum. Der Vorschlag, auch Angehörige krimineller Clans schneller auszuweisen, bescherte ihr parteiintern viel Kritik. Auf europäischer Ebene hatte sie eine restriktivere EU-Asylpolitik entscheidend mitverhandelt. Die setzt auf Sammellager und verbindliche Registrierungen an der EU-Außengrenze und eine fixe Verteilung innerhalb der Mitgliedsländer. Juso-Chefin Jessica Rosenthal nannte den Deal „beschämend“. Und Faeser war gezwungen, sich in Hanau dafür zu rechtfertigen.
In der Dauerdefensive
Aber der Ton in der Migrationsdebatte ist schärfer geworden, der Diskurs hat sich nach rechts verschoben. Während laut ZDF-Politbarometer im Februar noch eine Mehrheit der Befragten die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland für „verkraftbar“ hielt, hat sich die Stimmung inzwischen gedreht.
Auch Parteichefin Saskia Esken, die sich in der SPD links verortet, setzt in der Migrationspolitik nun auf neue Töne. Sie mahnte am Montag mehr Tempo bei wichtigen Entscheidungen an, auch beim Thema Rückführungen. „Es muss schnell entschieden werden, wer Schutz braucht und wer wieder gehen muss“, so Esken im Willy-Brandt-Haus. Der Asylweg sei nicht der richtige Weg für Zuwanderung, man biete andere an.
Faeser besuchte im Wahlkampf Kitas, Autobauer oder Volksfeste, forderte entfristete Verträge für Lehrer:innen, kostenfreie Meisterbriefe, einen extra Feiertag in Hessen – aber gefragt wurde sie immer nur zu gestiegenen Migrationszahlen, über welche die Kommunen klagten. Zu Grenzkontrollen, Abschiebungen oder Obergrenzen, wie sie Union forderte. Faeser steckte in der Dauerdefensive.
Noch in Hanau hatte Faeser versucht, mit dem progressiven Teil der Ampel-Migrationspolitik zu punkten, mit dem angeschobenen erleichterten Zuzug von Fachkräften und der doppelten Staatsbürgerschaft. Auf dem Parteitag geißelte sie die „widerwärtige Doppelpasskampagne“ der früheren Hessen-CDU. Später aber war davon nichts mehr zu hören – Faeser ließ sich von der Union treiben, trat nun auch für Abschiebungen und Grenzkontrollen ein. Es stärkte letztlich die Erzählung, dass die Ampel in der Migrationspolitik zu wenig oder das Falsche tue.
Alternativlos im Inneren
Und Faeser selbst erklärte im Wahlkampf zur Berliner Ampel – an der sie selber mitwirkt –, Rückenwind sehe anders aus. Die hessischen Wählenden sahen es auch so. In einer Befragung bewerteten 68 Prozent der hessischen Befragten eine Ampel als „schlecht“, Faeser Beliebtheitswerte lagen im Minusbereich.
Am Ende rettet Faeser wohl auch, dass sich fürs Innenministerium keine Konkurrentin aufdrängt – denn nach dem Rücktritt der ehemaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bräuchte es eine Frau, damit die von Scholz versprochene und ohnehin verrutschte Parität im Kabinett nicht noch weiter in Mitleidenschaft gezogen wird.
Aber es gibt derzeit keine Kandidatin, die ein ähnliches Profil wie die Volljuristin Faeser mitbringt: 18 Jahre lang hatte Faeser in der hessischen Opposition Innenpolitik betrieben, sich für die Polizei eingesetzt, im NSU-Ausschuss Aufklärung eingefordert. Als Bundesinnenministerin kündigte sie dem Rechtsextremismus den Kampf an.
Doch Scholz reagiert umso trotziger, wenn Druck auf ihn ausgeübt wird. Sein Sprecher erklärte am Montag, der Bundeskanzler sei „fest entschlossen, auch weiterhin mit Nancy Faeser als Bundesinnenministerin im Kabinett zusammenzuarbeiten“. Und mit den gestiegenen Migrationszahlen und der Integration über einer Million Geflüchteter aus der Ukraine ist weiter eine Großaufgabe im Innenministerium zu lösen, die keine lange Hängepartie erlaubt.
Offene Flanken zur CDU schließen
Tatsächlich hatte Faeser sich zuletzt als Innenministerin nach holprigen Start berappelt. Lange fiel sie vor allem mit Ankündigungen und Absichtsbekundungen auf – Gesetzentwürfe aber blieben auf der Strecke oder verhakelten sich bei den Ampel-Partnern. Mit den Reformen beim Staatsangehörigkeitsrecht und der Fachkräfteeinwanderung setzte Faeser dann aber zwei lange diskutierte Großprojekte auf die Spur.
Und auch eine europäische Asylreform wurde zuvor lange eingefordert, aber nie umgesetzt. Dass Faeser sich damit Kritik von links einhandelt, ficht sie wenig an – der Sozialdemokratin geht es auch darum, offene Flanken für die Union zu schließen. Was auch ihre jüngsten Forderungen nach einem Kampf gegen Clankriminalität oder Vorratsdatenspeicherung begründet.
Intern aber räumten einige Sozialdemokraten ein, dass zumindest die Entscheidung zu Faesers Doppelrolle den Wahlkampf nicht erleichtert habe. Andere wandten ein, dass Faeser mit einem Rückzug als Innenministerin sich den Vorwurf eingehandelt hätte, das Amt nur als Sprungbrett zur Ministerpräsidentinwahl genutzt zu haben. Dieser immerhin ist vollständig entkräftet.
In Wiesbaden versucht Faeser nun die Truppen zusammenzuhalten. Im „Wohnzimmer“ in Wiesbaden ging sie am Abend durch die Reihen, umarmte Sozialdemokrat:innen, versicherte sich des Rückhalts. Ein offensives Bekenntnis, dass sie auch längerfristig SPD-Landeschefin bleiben kann, blieb aber aus. Und auch Faeser ließ diese Frage offen.
Last call: Rot-schwarz
Intern verschicken ihre Landesvize da bereits eine E-Mail an die Partei: Es habe „eine erbitterte mediale Kampagne“ gegen Faeser gegeben. Für eine mögliche Regierungsbildung in Hessen habe sie aber die „vollste Rückendeckung“. Mit Blick auf die Wahl 2028 werde man sich jedoch „neu und anders aufstellen, inhaltlich, aber auch personell“.
Auch Hessen-Generalsekretär Degen betont am Montag in Wiesbaden, man wolle nun keine „Kurzschlussreaktion“. Auf dem SPD-Landesparteitag im Dezember werde aber auch über Personal geredet. Nun aber sei man ein verlässlicher Ansprechpartner und für Gespräche mit der CDU „sehr offen“. Ein möglichst breites Bündnis der Mitte täte Hessen in diesen Zeiten gut, betont Degen. Und er verweist auf die Landräte und Oberbürgermeister in Hessen, welche die Sozialdemokraten, nicht die Grünen, stellten.
Es ist nun der Plan B, nachdem eine Ampel schon rechnerisch nicht mehr möglich ist: ein schwarz-rotes Bündnis. Faeser könnte es zumindest als kleinen Erfolg verkaufen: Erstmals seit 25 Jahren wäre die SPD wieder an der Landesregierung beteiligt. Die Chance ist da: Boris Rhein kündigte bereits an, eine Koalition der Mitte schmieden zu wollen. Zugleich betonte die CDU am Montag aber auch, man müsse erst mal schauen, in welchem Zustand die SPD momentan sei.
Die CDU kann sich aussuchen, ob die SPD oder die Grünen mehr bieten – und die Erwartung ist nicht unbegründet, dass die Sozialdemokraten nun zu einigen Kompromissen bereit ist.
Klar aber ist auch: Faesers Autorität ist angeschlagen, als Hoffnungsträgerin taugt sie der Partei vorerst nicht mehr. Für mögliche Sondierungsgespräche, welche die hessische SPD-Chefin anführen würde, steht sie aber bereit. Zumindest in dieser Doppelrolle ist sie vorerst weiter gefragt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Nach Hinrichtung von Jamshid Sharmahd
„Warum haben wir abgewartet, bis mein Vater tot ist?“
Strategien gegen Fake-News
Das Dilemma der freien Rede
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution