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Taiwanesischer Dramaturg über China„Hongkong ist Taiwans Spiegel“

Der taiwanische Dramaturg Yi-Wei Keng warnt vor der Bedrohung durch Peking. Damit der Inselstaat nicht gespalten werde, sei die Kultur nun umso wichtiger.

Der taiwanesische Dramaturg Yi-Wei Keng vor dem Radialsystem Ende August in Berlin Foto: Julia Baier
Julia Hubernagel
Interview von Julia Hubernagel

taz: Herr Keng, schön, Sie zu sehen.

Yi-Wei Keng: Hallo. Man hat mir gesagt, die taz sei eine linke Zeitung. Stimmt das?

Das stimmt. Wo stehen Sie politisch, links oder rechts?

Im Interview: Yi-Wei Keng

wurde 1969 in Taiwan geboren. Nach seinem Philosophiestudium ging er 1997 bis 1999 nach Prag, um dort nonverbales Theater zu studieren. Als künstlerischer Leiter des Taipei Arts Festival führte er von 2012 bis 2017 Kooperationen mit Theaterhäusern weltweit durch und setzte einen Fokus auf deutsch-taiwanische Projekte. Seit 2018 ist Yi-Wei Keng Dramaturg am National Kaohsiung Center for the Arts im Süden Taiwans.

Links, aber nicht zu weit links. In Taiwan funktioniert das Konzept von rechts und links anders, denn wenn man zu sehr nach links tendiert, ist man irgendwann nahe an China, an der kommunistischen Partei. Die Linke hat es schwer in Taiwan. Zwar gibt es bei uns auch Bewegungen, die sich beispielsweise für Gendergerechtigkeit einsetzen, für Minderheitenpolitik, aber man nennt sie nicht links, obwohl sie es gemäß ihren Ansichten eigentlich wären.

Ähnlich ist es mit Nationalismus, oder? Traditionell dem rechten Spek­trum zugeordnet, ist ein gewisses Maß an Nationalismus in Taiwan wahrscheinlich parteiübergreifend notwendig.

Goethe-Medaille 2023

Neben Yi-Wei Keng werden in diesem Jahr der Filmmanager Gaga Chkheidze aus Georgien und das Kuratorinnenkollektiv der OFF-Biennale, die größte Schau für zeitgenössische Kunst in Ungarn, mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Die Goethe-Medaille ist der wichtigste Preis der auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands und wird am 28. August in Weimar ver­liehen.

Ja. Etwa 95 Prozent der Taiwaner wollen keine Vereinigung mit China. Aber unsere Insel liegt zu nah an China. In den 1990er Jahren sind viele Geschäftsleute aus Taiwan aufs Festland gegangen. Das hat Taiwan abhängiger gemacht von der chinesischen Wirtschaft. Mein Vater ist in China geboren, ich in Taiwan. Erst die dritte Generation, glaube ich, empfindet sich als ganz und gar taiwanisch. Ich habe in Taiwan Ende der 1980er Jahre angefangen zu studieren. Da war der Kalte Krieg gerade vorbei. Das Konzept der Welteinteilung in Blöcke, in Kommunismus und in freie Welt, hat mich also noch sehr geprägt. Bei der jüngeren Generation ist das anders. Sie ist in Freiheit geboren, musste nicht so sehr für alles kämpfen.

Sie haben Ihr Studium in Taiwan zu einer Zeit begonnen, als die Insel demokratischer wurde, unter der Präsidentschaft Chiang Ching-kuos, dem Sohn von Langzeitherrscher Chiang Kai-shek. Fortgesetzt haben Sie Ihr Studium dann in Prag, das wenige Jahre zuvor noch Hauptstadt der Tschechoslowakei war, einem Satellitenstaat der Sowjetunion. Das waren Umbruchszeiten.

Für mich war aber eine frühere Geschichtsepoche entscheidend. Tschechien ist ein kleines Land. Die Region wurde im 19. Jahrhundert kolonisiert vom Königreich Österreich-Ungarn. Die Menschen durften ihre eigene Sprache nicht sprechen. In Folge versuchten sie ihre Identität durch Kultur zu finden. Ich habe in Tschechien eine Paral­lele zu Taiwan festgestellt, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine japanische Kolonie war. Taiwanisch oder Mandarin zu sprechen war damals verboten, erlaubt war nur Japanisch. Auch wir mussten damals unsere Identität und Kultur finden. Ich bin nach Prag aber bloß aus Zufall gekommen. Die Beziehung zu meinem Vater war sehr schlecht, ich wollte nur weg aus Taiwan.

Sie haben nonverbales Theater studiert. Was hat Sie daran gereizt?

Auch das war eigentlich nicht so geplant. Es gab Probleme mit dem Visum für Tschechien. Eigentlich wollte ich weiter Philosophie studieren. Da ich in Taiwan während meiner Studienzeit Erfahrung am Theater gesammelt habe, reichte ich auch für nonverbales Theater eine Bewerbung ein und wurde sofort akzeptiert. Zurück in Taiwan arbeitete ich mit gehörlosen Menschen, da war nonverbales Theater ideal. Inklusives Theater gab es damals hier noch gar nicht.

Wie frei war die Kulturszene in Taiwan, als Sie Ende der 1990er Jahre zurückkehrten?

Die freiste Zeit für die Kultur in Taiwan waren die 1980er. 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben. Wir waren frei und wussten das auch. Die Wirtschaft boomte. Ich war jung und war mit vielen älteren Aktivisten befreundet, die für die Demokratie gekämpft hatten, teilweise im Gefängnis waren. Wir saßen stundenlang zusammen und redeten über Politik. Das war Anfang der 2000er vorbei. Viele Leute verloren den Glauben an die Politik während der Präsidentschaft Chen Shui-bians, von 2000 bis 2008, dem Star der Demokratischen Fortschrittspartei, der in einen großen Korruptionsskandal verwickelt war. Danach redete man kaum noch über Politik. Wir waren immer noch frei, aber beherrscht vom Kapitalismus und enttäuscht.

Dafür war die Beziehung zu China in der Zeit relativ gut.

Ja. Austausch war möglich zwischen Taiwan und dem Festland von 2000 bis 2018. Mit dem Amtsantritt Xi Jinpings verschlechterte sich die Beziehung wieder. Er unterband den Austausch.

Waren künstlerische Kooperationen mit dem chinesischen Festland möglich? Sie leiteten von 2012 bis 2017 das Taipei Arts Festival.

Ja, ich lud chinesische Produktionen nach Taiwan ein. Eine davon beschäftige sich etwa in Form von Tanz mit der Minderheitenpolitik in China, auch mit Xinjiang (autonome Region, in der mehrheitlich Uiguren leben; Anm. d. Red.), das war damals noch möglich. Eines der Stücke handelte aber von Chiang Kai-shek, das wollte ich in Taiwan gern aufgeführt sehen. Da das kurz vor den Wahlen war, 2016, erlaubte es China nicht, weil man fürchtete, es würde ein schlechtes Licht auf Kai-sheks Kuo­ming­tang-­Partei werfen, die für eine Annäherung an China steht.

Aktuell ist die Beziehung zwischen Taiwan und China äußerst angespannt. Was würde die taiwanische Kulturszene erwarten, sollte China militärisch angreifen?

Wir sehen es an Hongkong. Hongkong ist Taiwans Spiegel. Komplette Gleichschaltung. Doch die Situation wäre noch ernster. In Hongkong wurde die Macht friedlich an China übergeben. Taiwan hat jedoch ein eigenes Militär. Uns würde eher eine Situation erwarten, wie wir sie gerade in der Ukrai­ne erleben. Aber ich glaube, China legt es nicht darauf an, einen blutigen Krieg zu beginnen. Sie versuchen lieber, Taiwan zu spalten, um es so zu kontrollieren.

Sie engagieren sich sehr für Austauschprojekte mit anderen Ländern. Können mittels der Kultur Brücken geschlagen werden, die die internationale Politik aus Rücksicht auf China nicht bauen kann?

Taiwan unterhält kaum offizielle Beziehungen zu anderen Staaten. Kultur ist daher umso wichtiger. Als künstlerischer Leiter des Taipei Arts Festival standen mir Möglichkeiten offen, die das Nationaltheater nicht hat. Wir kollaborieren nicht auf nationaler Ebene, sondern von Stadt zu Stadt, Taipeh mit Paris, Taipeh mit Berlin. China kann dagegen nichts tun. Meine Vision ist sehr einfach: Ich möchte, dass sich inter­na­tio­na­le Künstler mit taiwanischen Künstlern anfreunden, mit den Menschen hier in Kontakt kommen. Die Insel lieben lernen.

Was ist das Besondere am Taipei Arts Festival?

Die internationalen Kooperationen. Einmal haben die Tanzensembles der indigen Bevölkerung Taiwans und Neuseelands ein Stück zusammen entwickelt. Wussten Sie, dass die Maori entfernt mit indigenen Stämmen Taiwans verwandt sind?

Nein.

Anderes Beispiel: Hsieh Hsueh-hung war eine berühmte Kommunistin in Taiwan in den 1940er Jahren, die im Guerillakampf gegen die japanischen Besatzer aktiv war. Sie ist schließlich in einem Gefängnis in China gestorben. Die deutsche Schauspielerin Anne ­Tismer hat eine Multimedia-Performance über sie gemacht, in der Hsueh-hung nicht gestorben ist, sondern sich den Mosuo (ein matriarchal organisiertes Volk im Südwesten Chinas, Anm. d. Red.) anschloss und ein neues Leben begann. Das war vielleicht meine liebste Produktion, die im Rahmen des Festivals aufgeführt wurde; sehr persönlich, sehr lokal.

Hat sich das taiwanische Theater über die Jahre eigentlich an China orien­tiert oder an japanischen Va­rian­ten wie Nō oder Kabuki?

Während der Kolonialzeit entwickelte sich in den 1920er Jahren das Neue Theater in Taiwan, das vom japanischen Shingeki inspiriert war. Das Neue Theater nutzte die realistische Schauspielkunst und unterschied sich von der traditionellen chinesischen Oper. Interessant wurde es auch wieder in den 1980er Jahren: Im Zuge des demokratischen Widerstands entwickelte sich eine kleine Theaterbewegung mit radikaler Ästhetik. Experimentelles Theater. Sie nutzten Performance, interkulturelles Theater und physisches Theater. Improvisation wurde wichtiger Bestandteil. Auch politisch mischte das Theater mit. Je freier Taiwan wurde, das muss man allerdings auch sagen, desto schwächer leuchtete das Theater als Symbol für Freiheit. Es hat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung wie vor dreißig, vierzig Jahren.

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